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1 (2002), Nr. 1: Inhalt
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Zu dieser Ausgabe      

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Dass die erste Ausgabe der zeitenblicke der Hexenforschung gilt, ist alles andere als Zufall. Die hier veröffentlichten Beiträge tragen nicht allein der Tatsache Rechnung, dass die Auseinandersetzung mit den europäischen Hexenverfolgungen mittlerweile einen der lebendigsten und produktivsten Zweige der Frühneuzeitforschung darstellt, sondern sind zugleich das Resultat einer erfreulich intensiven kommunikativen Vernetzung, die sich in den vergangenen zwei Jahren zwischen dem Portal Hexenforschung des Münchener Servers Frühe Neuzeit und der Mailingliste Hexenforschung, des virtuellen Zweigs des Arbeitskreises Interdisziplinäre Hexenforschung (AKIH), ergeben hat. Vor dem Hintergrund der gemeinsam von beiden Projekten aufgebauten, gut funktionierenden Infrastruktur schien es um so sinnvoller, das Debüt des neuen Online-Journals zeitenblicke einem Themenschwerpunkt zu widmen, der nicht allein zahlreiche interdisziplinäre Anknüpfungspunkte bietet, sondern sich aufgrund seiner vielfältigen medialen Aspekte in idealer Weise für eine elektronische Publikation eignet: Im Gegensatz zu einem klassischen gedruckten Sammelband sind die Einzelartikel mit anderen weiterführenden Netzseiten - wie dem digitalen Lexikon zur Geschichte der Hexenverfolgung - verlinkt, Illustrationen, Grafiken und Photos können in diversen Vergrößerungen betrachtet werden, was in der Konzeption der zeitenblicke im übrigen programmatisch angelegt ist.

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Tag für Tag lässt sich in der Mailingliste Hexenforschung beobachten, wie das schon seit langem nicht mehr übersehbare Forschungswissen zu diesem historischen Spezialgebiet mehr und mehr anwächst, wie Bücher und Artikel entstehen, oder Tagungen und Ausstellungen angekündigt werden, die es zur Kenntnis zu nehmen gilt. Gibt es überhaupt noch einen Ariadnefaden, der den Weg durch die stetig undurchdringlichere Forschungslandschaft weist? Die seit dem Aufschwung der neueren Hexenforschung ab Mitte der 1980er Jahre immer wieder vorgelegten Forschungsüberblicke und anderen bibliographischen Schneisen signalisieren einen erhöhten Bedarf an Selbstvergewisserung, Erschließung und Strukturierung des in unzähligen Fallstudien zusammengetragenen Materials. Diesem Bedarf möchten wir in "Hexenforschung aktuell" mit einem hohen Anteil an "bilanzierenden" Texten gerecht werden.

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Ganz offensichtlich findet der Umgang mit den frühneuzeitlichen Hexenjagden auf zwei Ebenen statt: Eine deutliche Kluft trennt die - viel zu oft noch im Elfenbeinturm verharrende - akademische Forschung von einer populären Aneignung des Sujets, die sich häufig durch eine ebenso sensationsheischende wie historisch bestenfalls fragwürdige Vermarktung "der Hexe" auszeichnet. "Witchcraft sells", - ob die düstere Faszinationskraft brennender Scheiterhaufen dahinter steckt oder der Wunsch nach der Erfüllung esoterischer Sehnsüchte. Um einer solchen Verzerrung des Blicks entgegenzuwirken, müssen die Mechanismen der bis weit ins 18. und 19. Jahrhundert zurückreichenden Hexen-Mythisierung einer kritischen Betrachtung unterzogen werden, - so sind rezeptionsgeschichtliche Fragestellungen wie der Aspekt moderner musealer Präsentation der Hexenwelten zu einem wichtigen Bestandteil dieser zeitenblicke geworden.

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Den Auftakt bilden Interviews mit zwei bedeutenden Protagonisten der Hexenforschung. Carlo Ginzburg, einer der berühmtesten lebenden Historiker überhaupt, erinnert sich im Gespräch mit Gudrun Gersmann anekdotisch an die Anfänge seiner Studien zu den "Benandanti", gewährt dabei aber auch so faszinierende wie geistreiche Einblicke in seine Geschichtsauffassungen und -forschungen. Eine kleine Standortbestimmung der Hexenforschung versucht das von Klaus Graf geführte virtuelle Interview mit Wolfgang Behringer, dem führenden deutschen Hexenforscher. Beachtung verdienen insbesondere die Bemerkungen über das Verhältnis der deutschen zur internationalen Hexenforschung. Nachdrücklich zeigen beide Texte, dass man über der Forschung als Abstractum die Forscherpersönlichkeiten und ihre von attraktiven Quellen befeuerte Liebe zum Thema niemals außer Acht lassen darf.

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Über die Geburt der modernen Hexenprozesse zu Beginn des 15. Jahrhunderts im Westalpenraum ist in den vergangenen Jahren viel geforscht worden. Georg Modestin und Kathrin Utz Tremp resümieren die von der Universität Lausanne ausgehenden intensiven Bemühungen um die archivalische Überlieferung zur Tätigkeit der Hexen-Inquisition, die namentlich von dem Dominikaner Ulrich von Torrenté in den 1430er Jahren ins Werk gesetzt wurde, sowie um die frühesten Hexentraktate. Eng verzahnt mit diesem willkommenen bibliographischen Wegweiser zu den überwiegend in französischer Sprache publizierten Studien der letzten Jahre ist Niklaus Schatzmanns engagiertes Plädoyer für die stärkere Beachtung der oberitalienischen Überlieferung seit dem Ende des 14. Jahrhunderts, das gleichfalls mit wertvollen Quellen- und Literaturhinweisen aufwartet.

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Eine intensive Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Quellengattungen steht im Vordergrund von drei Aufsätzen: In mehrfacher Hinsicht setzt der Text, den der australische Forscher Charles Zika beigesteuert hat, wichtige konzeptionelle Akzente. Verfasst in englischer Sprache, soll er erstens zur wünschenswerten stärkeren Einbindung der deutschen in die internationale Hexenforschung beitragen. Seine Fragestellung, die der Bedeutung der Ikonographie der antiken Zauberin Circe vor allem im Medium des gedruckten Holzschnitts für die Ausbildung des Hexereidiskurses im 15. und 16. Jahrhundert gilt, verweist zweitens auf die wichtigen Einflüsse "kulturgeschichtlicher" Ansätze in der Hexenforschung und ihre notwendigerweise interdisziplinäre Ausrichtung. Zikas fundierter, reich illustrierter Aufsatz setzt die Reihe seiner eindringlichen Arbeiten zur Hexenikonographie fort. Bilder als Geschichtsquellen werden hier einmal mehr überzeugend in ihr Recht gesetzt.

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Hermann Löher war ein Rheinbacher Schöffe, der selbst an Hexenprozessen teilgenommen hatte, ehe er in die Niederlande floh, wo er Jahre später seine Erinnerungen an dieses Lebenskapitel niederzuschreiben begann. Als anschaulicher Einführungstext zu der vom Server Frühe Neuzeit bereitgestellten digitalen Edition von Löhers 1676 in Amsterdam gedruckter "Wehmütigen Klage" fungiert Thomas Beckers Vorstellung dieses wichtigen und seltenen Quellentextes. Zugleich als schuldidaktische Quelle lässt sich Thomas Langes Präsentation von zwei exemplarischen Dokumenten aus dem Kontext der Hexenjagd in Hessen-Darmstadt 1582 verstehen. Die Urgichten der jugendlichen Delinquenten erlauben einen Einblick in die lebendigen Hexen- und Teufelsvorstellungen jener Zeit. Die Stücke aus dem Staatsarchiv Darmstadt werden sowohl im Faksimile als auch in Transkription zugänglich gemacht.

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Die Frage nach der Rezeption der Hexenprozesse und ihrem Stellenwert in der Erinnerungskultur wird in zwei Beiträgen aufgeworfen. Jürgen Scheffler, Leiter des Lemgoer Hexenbürgermeisterhauses, geht von einem Lemgoer Objekt, dem Folterstuhl, aus, um anhand der Geschichte dieser und vergleichbarer "Folterstühle" grundsätzliche Überlegungen zur musealen Präsentation angeblicher Folter-Reliquien zu entwickeln - eine Pflichtlektüre nicht nur für Museologen, sondern für alle, die an der Rezeptionsgeschichte des Themas im 19. und 20. Jahrhundert interessiert sind. Torsten Reimer hat das amerikanische Salem Witch Museum besucht und berichtet auf höchst anschauliche Weise von der dort mit Verve betriebenen kommerziellen Aufbereitung der bekannten Salemer Prozesse des Jahres 1692.

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Der letzte Teil dieser Ausgabe ist der Vorstellung von einschlägigen Institutionen und Projekten gewidmet. Jürgen-Michael Schmidt porträtiert den Arbeitskreis Internationale Hexenforschung; Klaus Graf stellt als ihr Administrator die Mailingliste Hexenforschung vor, Gudrun Gersmann erläutert Konzeption und Inhalte des Hexenschwerpunkts am Server Frühe Neuzeit, last but not least präsentiert Gerd Schwerhoff seine Dresdener Auswahlbibliographie zur Hexenforschung DABHex. Hervorzuheben ist der umfangreiche Aufsatz von Gunther Franz über die Trierer Arbeitsgemeinschaft, der mit gleichem Recht unter die Forschungsberichte hätte einsortiert werden können.

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Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist es für einen Wissenschaftler noch keineswegs selbstverständlich, die Ergebnisse seiner Arbeit in einem elektronischen Journal zu publizieren. Um so mehr freuen wir uns, innerhalb eines vergleichsweise kurzen Zeitraums eine Reihe spannender Beiträge für die zeitenblicke Nummer eins eingeworben zu haben. Allen Autorinnen und Autoren sei für die angenehme Zusammenarbeit und für ihre Bereitschaft, sich auf ein Experiment einzulassen, herzlich gedankt! Wir hoffen, dass die Artikel für Hexenforscherinnen und Hexenforscher, aber auch für "interessierte Laien", eine anregende Lektüre darstellen. Sie sollen gleichermaßen einen Eindruck von der lebendigen Vielfalt der Forschungsansätze wie auch von den Möglichkeiten multimedialen wissenschaftlichen Publizierens im kostenfreien Internet vermitteln.

Gudrun Gersmann / Klaus Graf



ZEITENBLICKE ISSN: 1619-0459
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