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1 (2002), Nr. 2: Inhalt
Projektgedanke und Voraussetzungen
Materialerfassung
Theoretische Grundlegungen und Leitbegriffe
Textsorten und Erfassungsraster
Ergebnisse und Desiderata
Anmerkungen
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Harald Tersch

Österreichische Selbstzeugnisse der Frühen Neuzeit

Projektgedanke und Voraussetzungen

<1>
Wie andere Forschungsvorhaben zu Ego-Dokumenten in den 1980er und 1990er Jahren ist auch das Projekt zur "Erfassung des autobiographischen Schrifttums Österreichs in der Frühen Neuzeit" in klarer Abgrenzung zur traditionellen Ereignisgeschichte entstanden. Den Gedanken dazu hatte der Projektleiter Alfred Kohler, Professor für Neuere Geschichte an der Universität Wien. Als Spezialist für die Epoche Karls V. sowie die spanisch-deutschen Beziehungen im Reich wollte er sich bewusst zu diesen Forschungsschwerpunkten in Distanz setzen, indem er sich Autobiographien des 16. Jahrhunderts zuwandte. Sein Ansatzpunkt war dabei weniger die neuere Sozialgeschichte als der geistesgeschichtliche Gedanke vom Prozess der Individuation, wie er in der Nachfolge Diltheys vor allem von Georg Misch vertreten wurde. Alfred Kohler plante ursprünglich eine Erfassung autobiographischer Texte des gesamten deutschsprachigen Raums im 16. Jahrhundert, was trotz wesentlicher Fortschritte grundsätzlich bis heute ein Forschungsdesiderat geblieben ist. [1]

Nach einigen Vorrecherchen fiel jedoch auf, dass in bisherigen Studien mit Ausnahme des Tiroler Emigranten Lukas Geizkofler kaum österreichische Texte erwähnt werden. Diesen Tatbestand galt es zu überprüfen - auch im Hinblick darauf, dass die bisherige deutsche Selbstzeugnisforschung, die sich ja vor allem als Autobiographie-Forschung verstand, bevorzugt Texte aus dem protestantischen Raum heranzog. Die letztendliche Beschränkung auf Österreich war schließlich auch eine pragmatische Frage, da die finanzielle Situation des Projektes, das 1992 begann und vom österreichischen Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung finanziert wurde, von Anfang an nur einen Mitarbeiter zuließ.

<2>
Zu betonen ist an dieser Stelle, dass dieses Projekt nicht das erste über österreichische Ego-Dokumente war. Lange vorher beschäftigte sich der renommierte Sozialhistoriker Michael Mitterauer mit der popularen Autobiographik Österreichs, die er in einer Dokumentationsstelle am Wiener Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte verankern konnte. [2]

Diese aus Projekten hervorgegangene Dokumentationsstelle konzentriert sich auf 'populare' Selbstzeugnisse, also auf Texte aus Bevölkerungskreisen, die nicht dem Sozialisationsprozess von Gelehrten und Literaten entstammen. Die Dokumentationsstelle sammelt bevorzugt Material von noch lebenden Verfassern aus dem 20. Jahrhundert. Sie sammelt Selbstzeugnisse im Sinne einer 'oral history' nicht durch extensive Archivrecherchen, sondern durch Interviews und vor allem durch Aufrufe in der Presse, autobiographisches Material einzusenden. Umso bemerkenswerter ist es, dass die so dokumentierten Selbstzeugnisse bis ungefähr in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts zurückreichen. Weinbauern aus Niederösterreich schickten der Dokumentationsstelle zum Beispiel ihre alten Familienüberlieferungen, die sie auf Dachböden fanden. Durch dieses Forschungsvorhaben traten völlig unerwartet neben die bekannten monumentalen Wiener Hofdiarien der Familien Khevenhüller oder Zinzendorf Bauerntagebücher, deren qualitatives und quantitatives Ausmaß bis jetzt nicht wirklich eingeschätzt werden kann. [3]

Möglicherweise haben in Österreich die Schulreformen der Aufklärung dazu beigetragen, die Kalendernotizen als eine Möglichkeit zu nützen, die eigene Vergangenheit aufzuzeichnen und zu reflektieren, denn für die Zeit davor ist in Österreich bisher keine Überlieferung bäuerlicher Ego-Dokumente im engeren Sinn festzustellen. Österreichische Selbstzeugnisse der Frühen Neuzeit werden hinsichtlich ihrer sozialen Schichtung beherrscht von einer politisch-gesellschaftlichen Elite, besonders dem Adel, beziehungsweise von höfischen und ständischen Klientelen. Ihnen lassen sich zum Beispiel auch humanistische Gelehrte wie Johann Cuspinian oder Johannes Kepler zuordnen. Der bürgerliche Schreiber spielt anders als im süddeutschen oder italienischen Raum keine besondere Rolle, wenn man von kurzen Zeiten eines fürstlichen oder ständischen Machtvakuums absieht. Dies entspricht der schwachen politischen Stellung des Bürgertums im Raum der österreichischen Erblande.

Materialerfassung

<3>
Das Material der Dokumentationsstelle popularer Autobiobiographien reicht, wie erwähnt, bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts zurück. Die Zeit um 1750 ist zumindest für den österreichischen Raum offensichtlich eine Grenze für die Möglichkeit, autobiographisches Material gehäufter in Privatsammlungen zu finden. Das Projekt zur "Erfassung des autobiographischen Schrifttums Österreichs in der Frühen Neuzeit" konzentrierte sich daher vor allem auf die Suche in größeren öffentlichen Bibliotheken und Archiven, um gedruckte und ungedruckte Ego-Dokumente der vorangegangenen Jahrhunderte erfassen zu können. Anzuknüpfen war vor allem an die Sammelergebnisse der Alltags- und Kulturgeschichte Mitte des 19. Jahrhunderts, die ähnlich wie in anderen Ländern auch in Österreich wichtige Vorarbeiten bei der Präsentation und Publizierung geleistet hat, wobei diese Tradition, die Selbstzeugnisse erstmals in den Mittelpunkt des historischen Interesses stellte, in Österreich um 1900 weitgehend wieder verstummt. [4]

<4>
Die Beschränkung auf die größeren Sammlungsstätten war bedingt durch die personelle Situation. Eine konsequente Durchforstung auch kleinerer Klösterarchive in Österreich steht zum Beispiel noch aus, ganz zu schweigen von kleineren Stadtarchiven oder Pfarrarchiven. Auf den Unsicherheitsfaktor der Titelgebung und allgemein auf die Schwierigkeit einer Suche nach frühneuzeitlichen Selbstzeugnissen, die in Archivverzeichnissen selten als geschlossene Gruppe auftreten, braucht hier kaum hingewiesen werden. [5]

Auch innerhalb einzelner relevanter Quellengruppen konnten oft nur Stichproben gemacht werden, was vor allem den großen Bereich der damals beliebten Schreibkalender betrifft.

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Durch die erwähnte Grenzlinie in der Überlieferung im 18. Jahrhunderts ergab sich zunächst als zeitlicher Endpunkt die Zeit des Josephinismus. Anfangs sollten Texte bis 1790 gesammelt werden, dann mit zunehmender Materialfülle nur noch bis 1740, also bis zur beginnenden Aufklärung in Österreich. Schwierig war die Frage, für welchen Zeitraum die Recherchen zu beginnen waren. Selbstzeugnisse lassen sich sehr gut dazu verwenden, die gängigen Epochengrenzen ad absurdum zu führen. Heterogene Schreibformen, wie sie für das 17. Jahrhundert typisch sind, kennzeichnen Ego-Dokumente bekanntlich schon in den Hauschroniken oder Libri di famiglia des 14. Jahrhunderts. Dagegen sind frühe humanistische Einflüsse in österreichischen Selbstzeugnissen schon im 15. Jahrhundert massiv zu spüren, vor allem bei der Schreiberschicht aus benediktinischen Reformkreisen. Für die Texterfassung ließen Projektleiter und Mitarbeiter den zeitlichen Beginn zunächst offen, dann entschlossen sie sich aber für die Einbeziehung des ganzen 15. Jahrhunderts, weil österreichische Selbstzeugnisse nach derzeitigem Erkenntnisstand zuvor nur punktuell, dann aber zunehmend kontinuierlich und gehäuft auftreten.

Theoretische Grundlegungen und Leitbegriffe

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Ähnlich wie Projekte aus den Niederlanden unter der Leitung von Rudolf Dekker oder der Schweiz unter Kaspar von Greyerz orientierte sich das österreichische an den heutigen Staatsgrenzen, so problematisch dies auch aus historischer Perspektive ist, da man Verständniszusammenhänge auseinanderreißt. Werke aus dem Innviertel wurden zum Beispiel erfasst, obwohl sie so gut wie nichts mit dem damaligen 'Haus Österreich' oder den angrenzenden Bistümern zu tun hatten. Bei der Bestimmung, wer als 'Österreicher' einbezogen werden sollte, schloss sich die Sprache als ein Erfassungskriterium von vornherein aus. Die tschechische Tagebuch-Forschung konnte aufzeigen, dass im 17. Jahrhundert zuweilen innerhalb eines einzigen umfangreichen Tagebuches fünf Sprachen nahezu gleichwertig nebeneinander stehen konnten. [6]

Eingeschränkt gilt diese Vielsprachigkeit auch für die nicht selten spanischen oder französischen Aufzeichnungen der österreichischen Elite um 1700.

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Als 'österreichische' Verfasser und Verfasserinnen sind schließlich solche berücksichtigt, die in diesem Raum zumindest einen größeren Lebensabschnitt wie Kindheit, Beruf oder Alter verbrachten. Dies führte mit sich, dass einige genauso in deutschen, tschechischen oder italienischen Projekten erfasst werden könnten und auch wurden. Besonders Emigranten wie der sächsische Hofprediger Matthias Hoe von Hoenegg (1580-1645) ließen sich nicht ausklammern, weil sie zur Zeit der österreichischen Gegenreformation um 1600 nahezu typisch sind für die damalige Schreiberschicht österreichischer Selbstzeugnisse. Die Gegenreformation bestimmt zum Beispiel die geographische Verteilung der gefundenen Selbstzeugnisse wesentlich mit - das heißt, dort, wo sie gerade am intensivsten war, ist auch die Überlieferung an Selbstzeugnissen am dichtesten. Ähnliches lässt sich für die soziale Verteilung der Autoren sagen, denn der im 15. Jahrhundert stark vertretene monastische Klerus tritt erst im Zuge der Reformen Anfang des 17. Jahrhunderts allmählich wieder hervor, bis er in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts mit den barocken Prälaten-Tagebüchern wieder äußerst dominant wird.

<8>
Die in der Autobiographie-Forschung zum 16. Jahrhundert gestellte Frage, inwieweit die Protestanten eher zur Introspektion neigten, wird für den Textbestand österreichischer Selbstzeugnisse sekundär hinsichtlich des Tatbestandes, dass Selbstzeugnisse in einer politisch-religiös labilen Situation immer wieder dazu dienen mussten, das soziale Gefüge zu stabilisieren. Bischöfe schrieben ebenso Autobiographien, um ihren Anteil an der Wiederherstellung der katholischen Ordnung zu unterstreichen, wie die ausgewanderten Protestanten, die für ihre Kinder die gesellschaftliche Verankerung in der neuen Heimat festhalten wollten.

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Derartige Grenzfälle wie jene der Ein- und Auswanderer erscheinen für die historische Interpretation besonders aufschlussreich, weil die Mobilität kulturelle Zusammenhänge aufdeckt. Auffallend sind die Impulse, die das autobiographische Schrifttum Österreichs im 15. Jahrhundert von den umliegenden Gebieten Süddeutschlands oder der Slowakei empfing. Die Mehrheit der Verfasser dieser Zeit ist zugewandert, wobei die Höfe und die Wiener Universität eine besondere Anziehungskraft ausübten. Auch im 16. und 17. Jahrhundert bleibt der Anteil der 'Immigranten' aus Deutschland oder aus Italien verhältnismäßig groß. Ein kleinerer Untersuchungsraum wie Österreich, wo der Tatbestand der 'Grenzüberschreitung' viel rascher gegeben ist, ermöglicht es vielleicht besser als ein größerer, den Zusammenhang von Selbstzeugnis und Mobilität jenseits der Frage von Reise und Kavalierstour herauszuarbeiten.

<10>
Hinsichtlich der Definition von 'Selbstzeugnissen' haben sich die Bearbeiter des Projekts den Definitionen vom 'expliziten Selbst' angeschlossen, die Rudolf Dekker in Anknüpfung an die niederländische Sozialgeschichtsforschung formulierte und die Benigna von Krusenstjern für den deutschsprachigen Raum differenzierte. [7]

Eine in der Zeit selbst gelegene formale Abgrenzung der 'Gattung' Selbstzeugnis ist weitaus weniger möglich als bei anderen Quellengruppen. Aus der Definition des Diariums im 16. Jahrhundert heraus gibt es zum Beispiel keinen ersichtlichen Grund, rein chronistische Formen von jenen zu trennen, die verstärkt persönliche Erlebnisse ihres Schreibers wiedergeben. [8]

Allein das moderne Interesse der historischen Anthropologie oder der literaturwissenschaftlichen Gattungsgeschichte rechtfertigt dieses Unterfangen, das dadurch auch leicht anfechtbar wird. Die Übernahme des Konzeptes vom 'expliziten Ich' erntete von einzelnen Vertretern der Frauen- und Geschlechtergeschichte Kritik, weil es das erfasste Textkorpus derart definiert, dass es die Zahl der Schreiberinnen zumindest im 16. Und 17. Jahrhundert notwendig zu einer Minderheit macht und damit bestehende Ordnungen einzementiert. Etwa durch eine Erweiterung des Begriffs Selbstzeugnis um die unfreiwilligen 'Ego-Dokumente' im Sinne Winfried Schulzes würde sich dieses Ungleichgewicht rasch ändern. [9]

Bereits aus rein pragmatischen Gründen der Materialerfassung ist aber eine derartige Einbeziehung von 'unfreiwilligen' Selbstdarstellungen vor allem in Gerichtsakten nur schwer zu realisieren, da die Überlieferungsform freiwillige von unfreiwilligen Selbstzeugnissen wesentlich unterscheidet.

Textsorten und Erfassungsraster

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Im Rahmen des Projekts wurden für die Zeit bis etwa 1650 nur zwei Frauen unter über sechzig Autoren gefunden. Prozentuell ist dieses Ergebnis kaum weniger gravierend als jenes anderer Projekte für den entsprechenden Zeitraum. Vor allem für Deutschland fehlt es jedoch, wie angedeutet, noch an breiteren Forschungen, die dies für das 16. Jahrhundert verifizieren könnten, denn von Einzelpersönlichkeiten wie Charitas Pirckheimer abgesehen, betritt man hier, anders als etwa für Spanien oder England, ein weitgehend unbekanntes Land. Um den genannten Anteil der Frauen in der Erschließung österreichischer Selbstzeugnisse zu erhöhen, müsste man nicht unbedingt auf Gerichtsakten zurückgreifen, es würde genügen, den Erfassungsraster auszudehnen. Die Aufnahmekriterien für das Projekt waren sehr eng gesetzt, zum Beispiel durch das Kriterium einer gewissen Seitenzahl und das Vorhandensein narrativer Passagen, wie es ähnlich bei der niederländischen Sammlung frühneuzeitlicher 'Ego-Dokumente' der Fall ist. [10]

Für die Texterfassung war dieser enge Raster besonders deswegen wichtig, weil die Projektteilnehmer keine kommentierte Bibliographie, also keine Liste mit Angaben zu Handschrift, Editionen und Literatur in der angelsächsischen Tradition erstellen, sondern umfangreichere Einzelbeiträge bieten wollten. Der Leser sollte den Text vorgestellt bekommen: Er sollte einen Einblick in den Aufbau des Werkes, in Entstehungszusammenhänge oder in die impliziten und expliziten Absichten des Verfassers erhalten, ohne dass jedoch der Raum für eingehendere Studien blieb. Deswegen musste die Zahl der Texte überschaubar bleiben, um die Absicht detaillierterer Einstiegsinformationen bei jedem einzelnen Autor durchführen zu können.

<12>
Dadurch fielen gewisse Textsorten durch den Raster, was anhand von zwei Gruppen aufgezeigt werden soll. Zunächst sind es Briefe, die wohl vor allem aufgrund ihres massenhaften Vorkommens bereits im 16. Jahrhundert von keinem bekannten Projekt über Selbstzeugnisse in ihrer ganzen Fülle einbezogen wurden. Briefe scheinen sich im Gegensatz zu anderen Formen auch relativ leicht von Selbstzeugnissen zu unterscheiden, weil sie für einen konkreten Adressaten geschrieben sind und in der Frühen Neuzeit auch einem bestimmten Aufbau folgten, der von der zeitgenössischen Epistolographie vorgegeben wurde. Diese deutliche Abgrenzung ist jedoch nicht immer gegeben. Auch Autobiographien oder Hauschroniken haben häufig einen ganz konkreten Adressaten, oft den ältesten Sohn, der nicht nur im allfälligen Vorwort, sondern auch immer wieder im Text angesprochen wird. Zuweilen wirken frühneuzeitliche Selbstzeugnisse nur wie umfangreiche Briefe. Man bedenke zum Beispiel die zahlreichen Konversionsberichte des 16. und 17. Jahrhunderts, die meist an einen bestimmten Empfänger wie den Beichtvater geschrieben, manchmal aber auch ohne bestimmten Adressaten publiziert wurden. Sie können in der Bekenntnistradition Augustins stehen oder die theologische Argumentation nur lose an persönliche Daten knüpfen. Besonders schwer für die Erfassung österreichischer Selbstzeugnisse war die Einordnung von Brieftagebüchern. So schrieb zum Beispiel um 1660 eine kaiserliche Hofdame regelmäßig ihrem Mann nach Spanien, wobei die Grenzen der Tagesnotizen und der Briefmitteilungen äußerst fließend sind und die Textsorten einander umklammern. [11]

Man müsste somit vor allem die Briefbestände genauer nach Selbstzeugnissen durchforsten, was natürlich allein für einen einzelnen Ort äußerst aufwändig ist. Auf jeden Fall würde sich die gesellschaftliche Schichtung frühneuzeitlicher Selbstzeugnisse einigermaßen verändern, da in österreichischen Privatarchiven des 16. und 17. Jahrhunderts durchaus auch Frauenbriefe sorgsam aufgehoben wurden und daher zahlreich vertreten sind. Es bleibt zu hoffen, dass hier die Forschung zum frühneuzeitlichen Privatbrief, die in Österreich kaum in ihren Anfängen steckt, einiges ans Licht bringen wird.

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Anders als etwa Benigna von Krusenstjern in ihrem "Beschreibenden Verzeichnis" zu Selbstzeugnissen des Dreißigjährigen Krieges mussten wir eine weitere Schreibform aufgrund ihrer Kürze nahezu völlig ausklammern: die Kinderliste oder das schon von den Autoren so genannte 'Geburtenbuch', in dem sehr stereotyp von der Eheschließung und dann von Geburten, Taufen und Todesfällen der einzelnen Kinder gesprochen wird. Mit vollem Recht bestand Krusenstjern darauf, diese Klein- bis Kleinstform als Selbstzeugnisse einzubeziehen, ist sie doch als Keimzelle auch in den meisten umfangreicheren Hauschroniken, Livres de raison oder Libri di famiglia vom Spätmittelalter bis in die Aufklärung hinein enthalten. Im Rahmen der Archivrecherchen ließ sich feststellen, dass diese Kinderliste nahezu als Massenquelle überliefert ist, die zumindest für den österreichischen Raum eines eigenen Projektes bedürfte, um sie zu erfassen. Nur ein kleiner Teil davon liegt bereits gedruckt vor, vor allem in genealogischen Zeitschriften, da sie bisher weitgehend als familiengeschichtliche Faktenlieferanten interessierten. [12]

Die Schwierigkeit dieser Variante der Selbstzeugnisse liegt darin, dass Kinderlisten nahezu überall versteckt vorkommen können, etwa in Bibeln, Kalendern oder in Inkunabeln. Interessant erscheint, dass sie nach einem ersten Überblick ziemlich ausgewogen von Männern wie Frauen geschrieben wurden, zuweilen auch von ihnen beiden gemeinsam. Würde man also diese Gruppe stärker mit einbeziehen, so würde das Geschlechterverhältnis weitgehend anders aussehen als in der breiteren Form der Hausbücher oder Familienchroniken.

Ergebnisse und Desiderata

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Ein Teilergebnis des Projektes erschien bereits im Druck, und zwar die Besprechung der Selbstzeugnisse bis 1650. [13]

Diese frühe zeitliche Grenze musste angesetzt werden, weil die Darstellung in Einzelbeiträgen mit rund 65 Schreibern einen noch größeren Umfang nicht zuließ. Bei einer Fortsetzung bis etwa 1740 wären dies bei unveränderten Aufnahmekriterien circa 130 Autoren. Ob diese Weiterführung möglich sein wird, vor allem mit der bisherigen Ausführlichkeit, ist äußerst fraglich, zumal das Projekt seit Ende 1998 in seiner Finanzierung beendet ist. Mit dem bereits erschienen Buch sollte in den bibliographischen Angaben unter anderem auf die schlechte Editionslage aufmerksam gemacht werden. Größere Editionsvorhaben zu österreichischen Selbstzeugnissen gibt es seit immerhin 150 Jahren nicht mehr, wenn man von den höfischen Diarien des 18. Jahrhunderts absieht. Nur vielleicht 5 bis 10 Prozent der gesammelten Texte sind in einer guten, das heißt: einigermaßen kritischen Edition verfügbar, was die Arbeit mit den Texten natürlich erheblich erschwert. Im Studienbetrieb erweist sich ein vollständig ediertes Reisetagebuch als wenig nützlich, wenn es die genannten Orte nur auflistet und nicht identifiziert, wie es nicht selten in vorhandenen Ausgaben der Fall ist. Selbst Standardtexte der österreichischen Autobiographik wie die literarische Selbstdarstellung des kaiserlichen Gesandten Siegmund von Herberstein (1486-1566) in ihrer vielschichtigen handschriftlichen und gedruckten Überlieferung würden dringend sorgfältige Neuausgaben verlangen.

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Tagebücher gehören sicherlich zu den größten Herausforderungen der Edition. Gemeinsam mit dem Wiener Historiker Martin Scheutz ist die Herausgabe einzelner Texte geplant. Begonnen wurde mit dem kleinen, aber überlieferungsgeschichtlich ziemlich singulären Gefangenentagebuch eines Salzburger Verwalters, das um 1600 seine letzten Tage vor der Hinrichtung dokumentiert. [14]

Abgeschlossen ist überdies die Edition eines umfangreicheren Frauentagebuches aus derselben Zeit, der Aufzeichnungen von Esther von Gera, die neben Itinerarium, Hauschronik, Geburtenbuch und Rezeptsammlung gleichzeitig auch eine Art lyrisches Tagebuch darstellen - ebenfalls nicht nur für den österreichischen Raum eine Rarität, soweit zu ersehen ist. [15]

Anhand dieses Textes wird zum Beispiel die angeschnittene Frage nach der geringen Zahl an Frauen-Selbstzeugnissen um 1600 durch eine Analyse der verschiedenen Texttraditionen diskutiert, in denen Frauen als Schreiberinnen besonders stark vertreten sind, neben der Kinderliste zum Beispiel auch die Heilkunde oder die lutherische Erbauungslyrik. Die Editionsarbeit bedeutet auch eine Überprüfung des bisher präsentierten Bestandes. So fand sich erst im Zuge dieser weiteren Recherchen in einer ungedruckten Dissertation der Hinweis auf ein nahezu gleichzeitiges Frauentagebuch, geschrieben von Emilie Fugger (1564-1611), die der bekannten Augsburger Familie entstammte und in den österreichischen Adel einheiratete. [16]

Anfragen in jenem Archiv, in dem dieses Tagebuch aufbewahrt sein sollte, blieben ergebnislos in dem Sinne, dass es dort bisher nicht wieder aufgefunden werden konnte, während sich der Inhalt aus den dürftigen Zitaten kaum noch rekonstruieren lässt. Als Parallelbeispiel für die Edition des Tagebuches von Esther von Gera wäre der Text von unschätzbarem Wert gewesen. Anders als etwa bei der Autobiographie des Barockdichters Johann Beer (1655-1700), dessen Manuskript ebenfalls vor nicht allzu langer Zeit verschwand, hat man im Falle Emilie Fuggers nicht das Glück, zumindest Kopien und Editionen zu besitzen. Die genannte Dissertation mit den Zitaten der Fugger-Notizen stammt aus der Zeit nach dem Krieg, aus den 50er Jahren, in denen der Text offensichtlich noch vorhanden war. Das Beispiel des Tagebuches von Emilie Fugger macht deutlich, dass Selbstzeugnisse 'auch' von Frauen noch immer verloren gehen. Umso dringender scheint es angeraten, die lokalen Bestandsaufnahmen weiterzuführen.

Anmerkungen

1Wichtige Innovationen in diesem Zusammenhang sind von einer Studie Gabriele Janckes, Berlin, zu erwarten, die soeben erscheint: dies.: Beziehungskonzepte in Selbstzeugnissen des 15. und 16. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum. (Selbstzeugnisse der Neuzeit 10), Köln / Weimar / Wien 2002. S. auch den Projektbericht von Gabriele Jancke im vorliegenden Heft.
2Vgl. Günter Müller: "Vielleicht hat es einen Sinn dacht ich mir." Über Zugangsweisen zur popularen Autobiographik am Beispiel der "Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen" in Wien, in: Historische Anthropologie 5 (1995), 302-318. Zahlreiche Texte erschienen bereits in der Reihe "Damit es nicht verlorengeht" (Wien, Böhlau-Verlag).
3Vgl. zum Beispiel Erich Landsteiner: Bäuerliche Meteorologie. Zur Naturwahrnehmung bäuerlicher Weinproduzenten im niederösterreichisch-mährischen Grenzraum an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, in: Historische Anthropologie 1 (1993), 49-62.
4Vgl. Theodor von Karajan (Hg.): Johannes Tichtel's Tagebuch, Sigmunds von Herberstein Selbstbiographie, Johannes Cuspinians Tagebuch und Georg Kirchmair's Denkwürdigkeiten (Fontes Rerum Austriacarum I/1), Wien 1855, oder Adam Wolf: Geschichtliche Bilder aus Oesterreich, 2 Bde., Wien 1878 u. 1880.
5Vgl. hierzu die Einleitung von Benigna von Krusenstjern, in: dies.: Selbstzeugnisse der Zeit des Dreißigjährigen Krieges. Beschreibendes Verzeichnis, Berlin 1997.
6Zur tschechischen Tagebuch-Überlieferung im 17. Jahrhundert vgl. Petr Mata: Die ältesten böhmischen und mährischen Tagebücher, in: Folia Historica Bohemica 18 (1997), 99-120 (Tschechisch mit deutscher Zusammenfassung).
7Vgl. Benigna von Krusenstjern: Was sind Selbstzeugnisse? Begriffskritische und quellenkundliche Überlegungen anhand von Beispielen aus dem 17. Jahrhundert, in: Historische Anthropologie 2 (1994), 462-471.
8Zur Definition des 'Diariums' um 1600 vgl. Wolfgang Neuber: Zur Gattungspoetik des Reiseberichts. Skizze einer historischen Grundlegung im Horizont von Rhetorik und Topik, in: Peter J. Brenner (Hg.): Der Reisebericht. Die Entwicklung einer Gattung in der deutschen Literatur. Frankfurt / Main 1989, 50-67, hier: 53.
9Vgl. den programmatischen Definitionsversuch bei Winfried Schulze: Ego-Dokumente: Annäherung an den Menschen in der Geschichte? Vorüberlegungen für die Tagung "EGO-DOKUMENTE", in: ders. (Hg.): Ego-Dokumente: Annäherung an den Menschen in der Geschichte (Selbstzeugnisse der Neuzeit 2), Berlin 1996, 11-30.
10Ruud Lindeman / Yvonne Scherf / Rudolf M. Dekker (Hg.): Egodocumenten van Noord-Nederlanders van de zestiende tot begin negentiende eeuw. Een chronologische lijst, Rotterdam 1993.
11Vgl. Susanne Claudine Pils: Schreiben über Stadt. Das Wien der Johanna Theresia Harrach 1639-1716, Wien 2002.
12Allein ein Blick in einzelne Bände der heraldisch-genealogischen Zeitschrift "Adler" überzeugt von der Fülle der Überlieferung. Vgl. etwa den Band 10 (1926-1930). Zur reichen handschriftlichen Überlieferung und den Möglichkeiten mentalitätsgeschichtlicher Auswertung vgl. auch Beatrix Bastl: Tugend, Liebe, Ehre. Die adelige Frau in der Frühen Neuzeit, Wien / Köln / Weimar 2000, 453-472.
13Harald Tersch: Österreichische Selbstzeugnisse des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit (1400-1650). Eine Darstellung in Einzelbeiträgen, Wien 1998.
14Martin Scheutz / Harald Tersch: Das Salzburger Gefängnistagebuch und der Letzte Wille des Zeller Pflegers Kaspar Vogl (hingerichtet am 8. November 1606), in: Mitteilungen der Gesellschaft für Salzburger Landeskunde 135 (1995), 689-748, auch dies.: Der Salzburger Pfleger Kaspar Vogl und die Suche nach Gerechtigkeit. Ein Gefängnistagebuch aus dem beginnenden 17. Jahrhundert als Streit um Interpretationen: Supplikation oder Rebellion, in: Andrea Griesebner / Martin Scheutz / Herwig Weigl (Hgg.): Justiz und Gerechtigkeit. Historische Beiträge (16.-19. Jahrhundert) (Wiener Schriften zur Geschichte der Neuzeit 1), Innsbruck u.a. 2002.
15Martin Scheutz / Harald Tersch: Das Gerasche Gedächtnisbuch (im Druck).
16Vgl. Leopold Böck: Hans Albrecht, Reichsfreiherr von Sprinzenstein 1543-1598, Phil. Diss. Innsbruck 1949.


Dr. Harald Tersch
Universität Wien
Universitätsbibliothek
Dr.-Karl-Lueger-Ring 1
A-1010 Wien
harald.tersch@univie.ac.at

Empfohlene Zitierweise:

Harald Tersch: Österreichische Selbstzeugnisse der Frühen Neuzeit, in: zeitenblicke 1 (2002), Nr. 2 [20.12.2002], URL: <http://www.zeitenblicke.historicum.net/2002/02/tersch/index.html>

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