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2 (2003), Nr. 1: Inhalt
Abstract
Alte Diskussionen über Neue Medien
Schule des Sehens
Mediengerechte Textaufbereitung
Hypertext versus virtuelles Seminar
Digitale versus digitalisierte Kunstgeschichte
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Jens Bove

Die Schule des Sehens und die Transformation kunsthistorischer Lehre unter digitalen Bedingungen

Abstract   

Genauso, wie zu Beginn des 20. Jahrhunderts über die Auswirkungen von Fotografie und Lichtbildprojektion auf die Methodik des Faches Kunstgeschichte gestritten wurde, geschieht dies heute im Hinblick auf die digitale Lehre. Im Rahmen des Projektes "Schule des Sehens" wird erprobt, wie netzbasierte kunsthistorische Lernmodule überhaupt aussehen können, wie Texte und Bilder mediengerecht aufgearbeitet, Kommunikationsstrukturen einbezogen werden können und die Vermittlung von Fachwissen und kritischer Medienkompetenz verbunden werden können. Nur wenn das Internet nicht nur als Lern-, sondern auch als Partizipations- und Sozialisationsraum begriffen wird, kann ein aktiver Austausch von Wissen gewährleistet werden.

Alte Diskussionen über Neue Medien

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Digitale Bedingungen? Was soll das eigentlich heißen? Das Wort "digital" bedeutet, Informationen in Ziffern darzustellen, in Nullen und Einsen; Strom an oder Strom aus. Digitale Information steht für Genauigkeit und für einfache Reproduzierbarkeit, ihre Inhalte stehen im Geruch der technischen Determiniertheit und der Beliebigkeit - einerseits. Andererseits werden hohe Erwartungen an digitale Informationsverarbeitung geknüpft: Ortsunabhängigkeit, bessere, effizientere Vermittlung von Wissen in ungeahnter Quantität und ganz neuer Qualität. Dies alles sind Implikationen, die mir im Grunde nicht spezifisch zu sein scheinen für die neuen Medien, treffen sie doch oft ebenso auf ihre analogen Vorgänger zu. So sind im Zuge der Einführung der fotografischen Reproduktion und Projektion in den kunstgeschichtlichen Unterricht vor hundert Jahren letztlich genau die gleichen Argumente vorgebracht worden. 1906 sei die "Zeit, in der einzelne Gelehrte Jahrzehnte lang mühsame Reisen ausführten und sich Kollationen und Abschriften in umständlicher Weise von diesem und jenem zusammenbettelten oder kauften, um endlich ein ungleichwertiges und technisch ungleichmäßig zubereitetes Material für eine verhältnismäßig kleine Arbeit zu besitzen, die Postkutschenzeit wissenschaftlicher Materialsammlung" endgültig vorbei. [1]

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Gerade diese vertraute, sich immer wieder aktualisierende Rhetorik der Verfechter und Kritiker legt Fotografie und Kinematografie als schlüssigen Ausgangspunkt für die Betrachtung des Verhältnisses aktueller technischer Medien und kunsthistorischer Lehre nahe. Den Kritikern der vorletzten Jahrhundertwende, für die der Einsatz der Lichtbildprojektion als Medium lärmenden Jahrmarktrummels mit dem Humboldtschen Bildungsideal einfach nicht vereinbar war, entsprechen gegenwärtig gar nicht so wenige Bedenkenträger, die sich nicht vorstellen können, dass ein seriöser Austausch von Wissen, der nur einen Mausklick von Profanem wie "Teen-Sex" und "ebay" entfernt ist, überhaupt denkbar ist; die sich auch nicht vorstellen können, dass die dauerhafte Dignität des Buchwissens durch verzeitlichte Information flüchtiger Hypertexte adäquat ergänzt werden kann. [2]

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Den Pionieren und Förderern kunstgeschichtlicher Dokumentarfotografie und ihrer Anwendung in der Lehre, etwa Bruno Meyer oder Herman Grimm, sehen sich dagegen vielleicht einige derjenigen verbunden, die es für unabdingbar halten, dass die Bibliotheken ihrer Institute - als Nekropolen immer schon vergangener Bildungsinhalte - durch die Aktualität und Dynamik eines globalen Wissensreservoirs vervollständigt werden. Die immense Bedeutung der Fotografie für die Konstituierung unseres Faches hat Heinrich Dilly bereits Ende der siebziger Jahre untersucht. [3] Dass die universitäre Kunstgeschichte durch die Fotografie überhaupt erst möglich geworden ist, ließe sich einfach begründen. Welche Auswirkungen das Internet auf eine seit langem etablierte Form des Unterrichts, seine bewährte Methodik und auf einen mehr oder weniger fest abgesteckten inhaltlichen Kanon haben wird, ist heute noch nicht vorauszusagen.

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Zwar hat die Betonung einer Koinzidenz von technischer Innovation und gesellschaftlichem Wandel Konjunktur, doch während bildungsbürgerliche Lesezirkel und Salons fast nur noch in Form intellektueller Talkrunden im Nachtprogramm des öffentlich-rechtlichen Fernsehens existieren, haben in kunstgeschichtlichen Seminaren, Vorlesungen und Institutsbibliotheken die bewährten Verfahren der Aneignung und Reproduktion fachlicher Inhalte in den letzten Jahrzehnten kaum eine signifikante Änderung erfahren.

Schule des Sehens

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In der bildungspolitischen Konzeption des Bundesministeriums für Bildung und Forschung nimmt die Lern- und Lehrzukunft an Hochschulen dagegen Formen an, die vehement auf die Nutzung neuer Medien im Unterricht zielen:
"Die westlichen Industriestaaten befinden sich im Umbruch von Industriegesellschaften hin zu Informations- und Kommunikationsgesellschaften oder Wissensgesellschaften. Die damit verbundenen tiefgreifenden Veränderungen und Gestaltungspotenziale betreffen nahezu alle Lebensbereiche. Der Bildungsbereich ist durch diesen Wandel zugleich betroffen und gefordert. Es ändern sich nicht nur die inhaltlichen und strukturellen Anforderungen an die Aus- und Weiterbildung, vielmehr bieten die Neuen Medien auch neue Möglichkeiten für die Aufbereitung des Wissens, seiner Präsentation sowie der Gestaltung der Vermittlungsprozesse in der Lehre. Selbstlernen und betreutes Lernen werden mit Hilfe der Neuen Medien eine tiefgreifende Umgestaltung erfahren. Die digitale Aufbereitung von Wissen gewinnt an Bedeutung und neue Formen von Wissensvermittlungsprozessen bilden sich heraus. Die Vision des selbst bestimmten, ortsunabhängigen Lernens bekommt neue Impulse: Die modernen Informations- und Kommunikationstechniken eröffnen neuartige Aus-, Fort- und Weiterbildungsmöglichkeiten, die ein eigenverantwortliches und selbst organisiertes individuelles Lernen und ein Einstellen auf unterschiedliche, sich rasch wandelnde berufliche Anforderungen ermöglichen. Netzbasiertes Lernen bricht die Strukturen herkömmlicher Lehrangebote auf und verbindet inhaltlich und organisatorisch stärker als bisher berufliche Erstausbildung und spätere Weiterbildung". [4]

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Mit dem Erlös aus dem Verkauf der UMTS-Lizenzen hat das Ministerium vor zwei .Jahren das Förderprogramm "Neue Medien in der Bildung" aufgelegt, aus dem im kunstgeschichtlichen Bereich zwei Projekte gefördert werden. Das eine nennt sich "Prometheus - Das verteilte digitale Bildarchiv für Forschung und Lehre", das andere "Schule des Sehens - Neue Medien der Kunstgeschichte". Während sich Prometheus vor allem auf die Verbesserung der Logistik unseres Faches konzentriert, indem es heterogene Datenbestände zentral abfragbar machen will, richtet sich die Schule des Sehens nicht primär auf die Bereitstellung einer Materialbasis, sondern unmittelbar auf die Vermittlung kunsthistorischer Inhalte:

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"Die Schule des Sehens bietet Interessierten kunstgeschichtliche Lehrveranstaltungen und Studieneinheiten unterschiedlichen Umfangs und Schwierigkeitsgrads. Sie soll ein Ort des gemeinschaftlichen Lernens werden, der geschichtliche Erfahrung vermittelt und zu kritischem Umgang mit Bildern befähigt." So heißt es knapp auf der Homepage der "Schule des Sehens". Im Projektantrag wird genauer erläutert, dass "im Zuge der Einführung einer neuen Kombination von Präsenzlehre, betreutem Selbst- und kontrolliertem Fernstudium unter Mitwirkung des Lehrstuhls für Empirische Pädagogik und pädagogische Psychologie der Universität München netzbasierte multimediale kunstgeschichtliche Studieneinheiten im Umfang von 30 Semesterwochenstunden produziert werden sollen. Das entspricht etwa 50% der Pflichtveranstaltungen eines Haupt-, 75% eines Bachelor- oder 100% eines Nebenfachstudiums. Die meisten Veranstaltungen sollen in zwei Formen (Präsenzstudium / Selbststudium  / Fernstudium) sowie für jeweils zwei Bereiche (Grundstudium / Hauptstudium / Weiterbildung) pädagogisch gestaltet werden, um eine gute Kosten-Nutzen-Relation zu erreichen."



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Gesetzt haben sich dieses sehr ehrgeizige Ziel die kunsthistorischen Institute der Freien Universität Berlin, der Technischen Universität Dresden, der Universität Hamburg und der Ludwig-Maximilians-Universität München unter der Leitung des kunstgeschichtlichen Instituts der Philipps-Universität Marburg.
Mit welchen Inhalten die Schule des Sehens debütieren will, stand relativ schnell fest: Berlin produziert eine 'Einführung in die Buchmalerei' und überführt das 'Funkkolleg Kunst' in eine aktualisierte, digitale Form, Dresden bietet 'Spanische Kunst' und 'Mittelalterliche Kunsttechniken' an, Hamburg eine 'Einführung in die politische Ikonographie' und in das 'Reliquienwesen im Mittelalter', Marburg eine 'Einführung in die antike Mythologie' und eine 'Einführung in die Filmanalyse' und in München werden Lehreinheiten zur 'Architektur der Renaissance und des Barock' sowie zur 'Deutschen und Französischen Malerei im 19. Jahrhundert' erstellt.

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Die Ziele schienen klar abgesteckt, aber mit welchen Mitteln sollte man sie erreichen? Medienpädagogische Erfahrungen lagen vor allem bei den etablierten Institutionen des Fernunterrichts vor, etwa der britischen Open University oder der Fernuniversität Hagen. Obwohl diese Modelle noch der analogen Welt angehören, sollten besonders qualitätsvolle und erfolgreiche Modelle exemplarisch aktualisiert und für die neue Lehr- und Lernumgebung des Internet multimedial aufbereitet werden. Ein solches Modell ist das Funkkolleg Kunst, das zu den anerkannten Basistexten unseres Faches zählt und in Buchform seit 15 Jahren erfolgreich verkauft wird. Mit acht Semesterwochenstunden stellt die aus den aktualisierten Texten von 28 Autoren zusammenzustellende Lehreinheit "Geschichte der Kunst im Wandel ihrer Funktionen" die inhaltliche Basis der "Schule des Sehens" dar. Gedacht ist dabei nicht an eine einfache Überführung der digitalisierten Texte der Rundfunkausstrahlung und ihres in begleitenden Lerngruppen, etwa in Form von Volkshochschulkursen, erprobten didaktischen Konzepts in eine Online-Fassung, sondern an eine Adaption der unter konventionellen Bedingungen erstellten Einheiten an die Gegebenheiten netzbasierten Lernens. Da hier sowohl die Inhalte als auch das methodische Vorgehen weitgehend festgelegt sind, stellt die Adaption des Funkkollegs vor allem ein Mengenproblem dar.

Mediengerechte Textaufbereitung

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Dagegen sehen sich die Autoren der gänzlich neu zu erstellenden Lehreinheiten in erster Linie mit der Frage konfrontiert, wie netzbasierte kunstwissenschaftliche Lernmodule überhaupt aussehen können und sollen. Entsprechend unterschiedlich sind die ersten Realisierungsansätze der einzelnen Partner ausgefallen, von denen zur Zeit sechs im Internet eingesehen werden können.

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Obwohl die Hypertextstruktur des Internets lediglich als Weiterentwicklung textualer Darstellung verstanden werden kann, hat sich anfangs für viele Produzenten vor allem die traditionelle Textfixierung universitärer Forschung und Lehre als erhebliche Hürde erwiesen. Die Wissensvermittlung mittels assoziativer, nicht linearer Strukturen musste von den meisten erst erlernt werden. Hinzu kamen die zunächst geringe Kenntnis der technischen Möglichkeiten einerseits und die mangelnden finanziellen Spielräume für extravagante Lösungen andererseits. Nicht umsonst wird kontinuierlich an einer Werkstatt mit technischen Musterlösungen und an ausführlichen Produktionsanleitungen für HTML-Seiten, Java-Scripts und Flash-Animationen gearbeitet. Die Ausbildung und Selbstausbildung der Ausbilder nehmen zwangsläufig ein großes Maß der Arbeitskapazität in Anspruch.



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Methodische Schwierigkeiten bereitet insbesondere der weitgehend ungewohnte, medial bedingte Zwang zur Parzellierung und Strukturierung von Information und die detaillierte Gliederung der weiterzugebenden Information, die stetige Revision und Selbstvergewisserung über die eigenen Ziele verlangen.
Im Idealfall wird davon ausgegangen, dass der Inhalt einer Lektion, dem zeitlichen Äquivalent einer Seminarsitzung, zunächst in wenigen Sätzen zusammengefasst wird und dann die konkreten Lernziele der einzelnen Schritte definiert werden. Die inhaltlichen Blöcke werden von vertiefenden Exkursen flankiert, von Möglichkeiten der Selbstkontrolle durch die Studierenden begleitet und durch abschließende Übungen oder Arbeitsaufgaben repetiert.

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Wie ungewohnt diese additiven Strukturen sind, zeigt eine gerade bei den Autoren zu beobachtende Tendenz, die sich in überdurchschnittlichem Maße auf die skizzierte Strukturierung der Inhalte eingelassen haben: Das Bestreben, die in einzelne Bausteine zerlegten Informationen nachträglich zu sequentialisieren. Obwohl diese Inhalte am ehesten in einer Baumstruktur, deren Äste explorativ geöffnet und geschlossen werden können, darstellbar sind, in der Regel auch so dargestellt werden, ist stets ein Button zum linearen Weiterblättern vorhanden, der offenbar sicherstellen soll, dass alle Inhalte in der gewünschten Reihenfolge konsumiert werden. Die assoziative Aneignung ist zwar möglich, wird aber durch die vorgesehene Benutzerführung praktisch weitgehend eingeschränkt.



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Hypertext versus virtuelles Seminar

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Will man die vorliegenden Konzepte beim derzeitigen Stand der Entwicklung in zwei wesentliche Gruppen unterteilen, so zeichnen sich die beschriebenen, verstärkt mit hypertextuellen Strukturen arbeitenden Ansätze meist gleichzeitig dadurch aus, dass sich die interaktiven Komponenten auf die nicht kontrollierte und nicht kommentierte Anfertigung von Antworten durch die Lernenden beschränken, die diese dann mit vorgefertigten Musterantworten vergleichen können. Hinzu kommen bei einigen Lektionen auch Formen des - zum Teil sehr ausgefeilten - Selbsttests durch unterschiedliche Arten von Multiple-Choice-Aufgaben, die der Selbstkontrolle der Lernenden dienen. Als eigentlich zu erbringende Prüfungsleistung muss eine Abschlussaufgabe in Form einer konventionellen Hausarbeit erbracht werden, die vom Seminarleiter korrigiert wird.



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Eine zweite Gruppe von Lehreinheiten stellt - grob vereinfachend gesprochen - die kommunikativen Aspekte des Mediums in den Vordergrund. Sie legt weit weniger Wert auf die Binnengliederung ihrer Texte, sondern stellt das jeweilige Sitzungsthema in einem kompakten Einführungstext dar, der konsequent auch als ausdruckbares Word-Dokument angeboten wird.

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Die Texte sind insofern unvollständig, als sie nicht primär vorgefertigtes Wissen vermitteln wollen, sondern eher in ein Szenario für wöchentliche Aufgaben einführen. Unterstützend werden unkommentierte Text- und Bildquellen bereitgestellt, deren abschließende Bearbeitung und Interpretation durch die Studierenden zunächst in Einzelarbeit vorbereitet werden muss. Vorläufige Ergebnisse und Lösungsansätze sollen dem Dozenten wie den Kommilitonen in den jeweiligen Internet-Foren zur Einsichtnahme bereitgestellt werden. Anschließend sollen diese Einzelergebnisse in Gruppenarbeit kommentiert, revidiert und zu einer gemeinsamen, im Dialog erarbeiteten Lösung synthetisiert werden.

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Das Verfahren verlangt von den Studierenden einerseits Hemmungen zu überwinden, Unfertiges und Fragmentarisches zu teilen, und fordert andererseits von allen Beteiligten einen nicht gering einzuschätzenden Zeitaufwand, da es voraussetzt, sich fast täglich auf dem Laufenden zu halten. Entsprechend ist ein solches Online-Seminar von Studenten wie von Dozenten als sehr viel zeitaufwändiger als konventionelle Lehrveranstaltungen beurteilt worden, gleichzeitig aber als sehr viel produktiver und intensiver, nicht zuletzt weil es durch ständige gegenseitige Kontrollierbarkeit die stille Teilhaberschaft an konventionellen Gruppenreferaten nicht zulässt.

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Die jüngsten Entwicklungen der Lehr- und Lerneinheiten der Schule des Sehens deuten auf eine weitere Annäherung beider Modelle hin. Auch die Nutzung der mit den Projektmitteln realisierbaren Visualisierungsmöglichkeiten wird ständig verbessert, so dass das selbst gesteckte Ziel der Schule des Sehens, den Beweis anzutreten, dass das Internet in Zukunft zu einem maßgeblichen Ort der Bildung und der Weiterbildung werden kann, langsam in greifbare Nähe zu rücken scheint.

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Aber obwohl einige Veranstaltungen bereits die Reife erlangt haben, die es erlaubt, sie wenigstens partiell und probehalber in der Lehre einzusetzen, eine Lehreinheit bereits mit gutem Erfolg evaluiert worden ist, sollten auch bestimmte Restriktionen Erwähnung finden, die sich die Schule des Sehens a priori gesetzt hat: Einerseits die Heranziehung besonders etablierter, in kunstgeschichtlicher Didaktik erfahrener Dozenten, die den sonst bei Pilotprojekten fast unausweichlichen Anfangsvorwurf mangelnder fachlicher Qualität gar nicht erst aufkommen lässt, dafür aber zu einer gewissermaßen freiwilligen Beschränkung auf bewährte, traditionelle Themen und Forschungsansätze des Faches führt. Andererseits die in diesem Anfangsstadium sicher notwendige, allerdings kaum hinterfragte Beibehaltung der klassischen hierarchischen Strukturen der Wissensvermittlung von Lehrer zu Schüler, die wohl vor allem der curricularen Einordbarkeit und der damit verbundenen Akzeptanz der neuen Vermittlungsformen geschuldet ist, gleichzeitig aber bewirkt, dass Interaktion nur innerhalb fest umrissener Grenzen erfolgen kann.

Digitale versus digitalisierte Kunstgeschichte

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Im Sinne einer Bilanzierung der bisherigen Ergebnisse und Erfahrungen ist zu fragen, inwieweit der Einsatz neuer Medien zu einer digitalisierten Kunstgeschichte führt, die die analogen Arbeitsweisen in effizientere digitale überführen will, und unter welchen Voraussetzungen von einer digitalen Kunstgeschichte gesprochen werden kann, die durch Integration digitaler Medien in die Lage versetzt wird, sowohl neue Themenfelder zu erschließen als auch neue Wege im kunstwissenschaftlichen Erkenntnisprozess zu beschreiten. [5]

<21>
In bezug auf die Schule des Sehens ist festzuhalten, dass sie vor allem als Experimentierfeld betrachtet werden muss. Man würde weit über das Ziel hinaus schießen, erwartete man am Projektende (Ende 2003) die mustergültige Lösung für netzbasiertes Lernen in der Kunstgeschichte. Um Perspektiven oder gar Richtlinien für die zukünftige kunstgeschichtliche Lehre formulieren zu können, muss zunächst ein fundiertes und tragfähiges Wissen darüber erworben werden, wie Computermedien und digitale Bilder im Lernprozess wirken und wie diese zum Zweck des Lernens und Lehrens genutzt werden und können. Dieser Prozess hat allerdings gerade erst begonnen.

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Zweifelsfrei fest steht jedoch, dass Medienkompetenz längst zu einer der Schlüsselkompetenzen in den modernen Gesellschaften geworden ist, in denen zukünftig Formen der Wissensarbeit dominieren werden. Dies gilt in zweifacher Hinsicht: Studierenden wie Lehrenden ist - auch im Sinne eines ökonomisch verwertbaren Outputs, den das Konzept des Bildungsministeriums anstrebt - die Kompetenz zu vermitteln, die vorhandene Infrastruktur - seien es Literatur- und Bilddatenbanken, Mailing-Listen oder E-Learning-Angebote - effizient für den eigenen Bedarf nutzen zu können. Über diese mehr technischen Fähigkeiten hinaus berührt Medienkompetenz aber auch die zentralen Anliegen unseres Faches: Die Analyse und Interpretation kultureller und künstlerischer Produktion, die auch in den vermeintlich alten Medien wie Buch- und Zeitungsproduktion, Radio oder Fernsehen - längst von digitalen Produktionsabläufen bestimmt wird. Angesichts der zunehmenden Dominanz - vor allem digital erzeugter - visueller Medien wird der Kunstgeschichte als Rückgrat einer sich formierenden "Bildwissenschaft" besondere Relevanz zukommen, sofern sie das Überschreiten disziplinärer Grenzen nicht nur ausnahmsweise toleriert, sondern aktiv fördert und mitgestaltet. Die Wirkungsweise von Bildmedien, von alten und neuen, wird zwangsläufig im Zentrum geisteswissenschaftlicher Forschung stehen müssen.

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Will die Kunstgeschichte ihren Status als zentrale geisteswissenschaftliche Disziplin behalten, kann sie nicht darauf vertrauen, ihre bewährten analogen Arbeitsweisen durch die Digitalisierung ihrer Arbeitsmittel zu beschleunigen, sondern muss die durch ihre neuen Vermittlungsmedien angeregten und manchmal auch erzwungenen Inhalte letztlich in den Kanon ihrer Themen integrieren.
Nachdem in der Schule des Sehens mögliche Strukturen Web-basierter Wissensvermittlung vor allem anhand klassischer Themen erprobt werden, müssen und werden neue und neueste Genres wie Film, Fotografie, Video und die verschiedenen Formen elektronischer, digitaler oder virtueller Kunst zum Gegenstand der neuen Lehr- und Lernszenarien. Nicht zuletzt, weil eine adäquate Vermittlung dieser Genres unter den Bedingungen konventioneller Medien der Kunstgeschichte, insbesondere der traditionellen Doppelprojektion von Diapositiven, kaum gewährleistet werden kann.

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Neue Formen und Aspekte der Visualisierung und Strukturierung von Wissen sollen aber nicht nur als Vorbedingung des Umgangs mit neuen Bildmedien betrachtet werden, sondern ermöglichen neben den heute schon klassischen Bild-, Literatur-, Ikonographiedatenbanken im Idealfall eine neuartige Sichtweise auf kunstwissenschaftliche Forschungsgegenstände und definieren den Umgang mit unserem kulturellen Erbe vollkommen neu, beispielsweise wenn nicht mehr zugängliche Kunst- und Bauwerke durch Simulationssoftware dreidimensional und multimedial wieder begehbar und erfahrbar gemacht werden.

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Soll sich in den medialen Räumen einer Schule des Sehens eine neue Bildungspraxis entwickeln, so muss sich die Kunstgeschichte nicht nur auf ihre technischen Herausforderungen einlassen, sondern auch auf ihre sozialen. In Analogie zur Organisationsstruktur des Internet muss sich in den kommenden Jahren eine sich zunehmend selbst organisierende wissenschaftliche Gemeinschaft der Kunstgeschichte herausbilden, die Benutzerinteraktionen nicht nur als zusätzlichen Bestandteil der Wissenserzeugung zulässt, sondern diese zu einer Grundlage der Wissensorganisation und -verteilung macht. Während die traditionelle kunstgeschichtliche Lehre dazu neigt, ihre Studenten - überspitzt formuliert -, zu Einzelkämpfern auszubilden, die sich schwer tun, unpublizierte Erkenntnisse preiszugeben, verlangt die Kommunikationsstruktur der Foren und Chatrooms im World Wide Web - das nicht nur als Lern- sondern auch als Partizipations- und Sozialisationsraum zu begreifen ist - den aktiven Austausch von Wissen. [6]

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An neue Formen kunstgeschichtlicher Wissens- und Informationsorganisation werden also hohe Anforderungen gestellt: Vernetzte Wissensangebote sollen das selbst organisierte Lernen fördern, sollen den Schritt belehrt werden zum Lernen ermöglichen, sollen Lehrende in Lernbegleiter oder Moderatoren verwandeln oder sollen die Motivation zum kontextuellen Lernen steigern - aus pädagogischer Sicht alles Forderungen oder Erwartungen, die in ähnlicher Form lange vor den technischen Möglichkeiten der neuen Medien diskutiert worden sind, die sich zum Teil bis zurück zur beginnenden Verbreitung fotografischer Reproduktion von Kunstwerken verfolgen lassen.

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Während sich die vor 100 Jahren in die Lehre eingeführte Lichtbildprojektion, anfangs schlicht als optisches Hilfsmittel gedacht, mit der Zeit in den Prozess kunstwissenschaftlicher Erkenntnisgewinnung eingeschlichen und nachhaltig auf Forschungsthemen und -methoden gewirkt hat [7], ist noch nicht ganz klar, ob die 'Postkutschenzeit wissenschaftlicher Materialsammlung' bereits ein zweites Mal und mit ähnlichen Auswirkungen zuende gegangen ist.
Gegenwärtig noch nicht mit Sicherheit sagen lässt sich allerdings, ob der sich gerade vollziehende Medienwechsel am Ende lediglich zu neuen Darreichungsformen traditioneller Inhalte führt - alter Wein in neuen Schläuchen -, oder ob mit den neuen Medien auch neue Gegenstände in das Zentrum des Faches treten, ob sich anstelle der gewohnten Seminar- und Vorlesungssituationen wirklich neue und andere Lehr- und Lernpraktiken mit neuen Intensitätsgraden herausbilden werden, ob also die zweifellos vorhandenen Möglichkeiten wirklich ausgeschöpft werden.

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Ganz sicher sind aber zwei Dinge. Erstens: Die Entwicklung und Bereitstellung neuer, kooperativer Lehr- und Lerneinheiten mit entsprechenden Ansätzen zur Zertifizierung ist nicht wirtschaftlich, jedenfalls nicht sofort. Sie erfordert zunächst vor allem ein gehöriges Maß an bildungspolitischer, personeller und technologischer 'Aufrüstung' seitens der an solchen Programmen beteiligten Institute. Die Aufbereitung der Kursmaterialien, die Wartung der technischen Infrastruktur und so weiter wird im Sinne einer Effizienz- und Flexibilitätssteigerung universitärer Lehre erst dann rentabel, wenn es gelingt, geeignete Distributionsmodelle zu etablieren und die Bindung an die produzierenden Institute und Autoren tatsächlich zu überwinden. Zweitens: Mögliche Transformationen der kunstgeschichtlichen Lehre deuten sich gerade erst an. Überlegungen zur Verbesserung der Didaktik, zur Emanzipation der Studierenden von den Lehrenden, die Gestaltung des ortsunabhängigen Zugriffs auf das Lehr- und Anschauungsmaterial des Faches, die Entwicklung von Standards für wissenschaftliche Abbildungen und Texte, die Fragen des Urheberrechtes und des Copyrights und so weiter werden uns daher noch viele Jahre beschäftigen.

Anmerkungen

1Karl Krumbacher: Die Photographie im Dienste der Geisteswissenschaften, Leipzig 1906, 54.
2Winfried Marotzki / Dorothee M. Meister / Uwe Sander (Hg.): Zum Bildungswert des Internet, Opladen 2000, 9.
3Heinrich Dilly: Lichbildprojektionen - Prothesen der Kunstbetrachtung, in: Irene Below (Hg.): Kunstwissenschaft und Kunstvermittlung, Gießen 1975, 153-172.
Derselbe: Das Auge der Kamera und der kunsthistorische Blick, in: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft 20 (1981), 81-89.
Derselbe: Die Bildwerfer: 121 Jahre kunstwissenschaftliche Projektion, in: Kai-Uwe Hemken (Hg.): Im Banne der Medien. Texte zur virtuellen Ästhetik in Kultur und Kunst, Weimar 1997, 134-164.
4Bundesministerium für Bildung und Forschung: Förderprogramm Neue Medien in der Bildung, http://www.gmd.de/PT-NMB/Programm/Programm.html#Chancen (27.01.2003).
5Claus Pias: Bilder - Bücher. Digitalisierte und digitale Kunstgeschichte, in: AKMB-news. Informationen zu Kunst, Museum und Bibliothek, 4 (1998), H. 2/3.
6Ingeborg Reichle / Thomas Lackner / Dorothee Wiethoff: Humboldt zwischen Bits und Bytes - Neue Medien in der Bildung. Chancen und Herausforderungen kooperativen Lehrens und Lernens, in: Kritische Berichte (2000) H. 3, 87-90.
7Ingeborg Reichle: Medienbrüche, in: Kritische Berichte (2002) H. 1, 40-56.

Autor

Jens Bove
Bildarchiv Foto Marburg
E-Mail: bove@fotomarburg.de
Web: http://www.schule-des-sehens.de/

Empfohlene Zitierweise:

Jens Bove: Die Schule des Sehens und die Transformation kunsthistorischer Lehre unter digitalen Bedingungen, in: zeitenblicke 2 (2003), Nr. 1 [08.05.2003],
URL: <http://www.zeitenblicke.historicum.net/2003/01/bove/index.html>

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ZEITENBLICKE ISSN: 1619-0459
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