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  2 (2003), Nr. 2: Inhalt
Abstract
Das historische Rezensionswesen Mitte der 1990er Jahre
Die ersten elektronischen Rezensionen in den Geschichtswissenschaften
Vorbehalte gegenüber dem neuen Medium
Gründe für den Erfolg elektronischer Rezensionen
Aktuelle Defizite und Probleme
Technische Grenzen und Herausforderungen
Schnell und kostenlos
Historiker als Verleger
Das Konzept der 'sehepunkte'
Versuch eines Ausblicks
Anmerkungen
Autor
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Peter Helmberger

Historische Rezensionen im Internet. Entwicklung - Probleme - Chancen

 

Abstract

Bei der in den letzten Jahren deutlich gestiegenen Nutzung des Internets auch für die Geschichtswissenschaften spielen Rezensionen eine besondere Rolle. Der Beitrag geht den Fragen nach, worin im Internetzeitalter die Faszination für das alte Genre der Buchbesprechung begründet liegt und welche Entwicklungen sich im Rezensionswesen in den letzten Jahren vollzogen haben. Der Erfolg der elektronischen Rezensionen wird damit erklärt, dass sie in geradezu idealtypischer Weise die Vorzüge des Netzes nutzen können. Als zentrale Probleme werden die mangelhafte finanzielle Sicherung zahlreicher Projekte, ungelöste technische Probleme wie die dauerhafte Archivierung und die Gefahr einer Informationsflut für die Nutzer benannt. Am Beispiel des Online-Rezensionsjournals 'sehepunkte' wird abschließend versucht, hierfür Lösungsansätze aufzuzeigen. Dabei werden Online-Journale als virtuelle Räume verstanden, die dem Nutzer eine Orientierung innerhalb des Internets erleichtern sollen.
 
<1>
Bei der in den letzten Jahren deutlich gestiegenen Nutzung des Internets auch für die Geschichtswissenschaften spielen Rezensionen eine besondere Rolle. Offenkundig möchte kaum ein neues Angebot - sei es umfassend oder auch speziell zu einer Thematik konzipiert - auf diesen Bereich verzichten. Die Erscheinungsformen sind hierbei ganz unterschiedlich: erstellt ausschließlich in eigener Regie oder auch im Verbund mit bestehenden Formaten, 'erhältlich' als zeitlich befristet zugängliches Online-Angebot, als singuläre Website einzelner Personen, als Erweiterung nach wie vor gedruckter Fachzeitschriften, im Rahmen einer Mailingliste oder als E-Journal. [1] Nimmt man diesen Befund nicht einfach als momentane Konstante hin, so ergeben sich hieraus eine Reihe von Fragen: Worin liegt im Internetzeitalter die Faszination für das alte Genre der Buchbesprechung begründet? Welche Entwicklungen haben sich hier in den letzten Jahren vollzogen? Wurden die selbst formulierten Ziele bereits erreicht? Welche Probleme und Defizite zeichnen sich ab, und wie könnten Lösungsansätze aussehen? Im Folgenden soll - auf der Grundlage der Erfahrungen im Umfeld des Online-Rezensionsjournals 'sehepunkte' - versucht werden, Antworten auf diese Fragen zu geben.
 
Website der 'sehepunkte'
 

Das historische Rezensionswesen Mitte der 1990er Jahre

<2>
Die rasante Entwicklung innerhalb des geschichtswissenschaftlichen Rezensionsbetriebs wird offenkundig, wenn man sich die Situation vor wenig mehr als fünf Jahren vor Augen führt. Noch Mitte der 1990er Jahre bezogen Historikerinnen und Historiker ihr Wissen über Neuerscheinungen ausschließlich aus gedruckten Medien. In der Aktualität an erster Stelle - und daher stark im Blickpunkt des Interesses - standen die überregionalen Tages- und Wochenzeitungen sowie politische Magazine (Frankfurter Allgemeine Zeitung, Süddeutsche Zeitung, DIE ZEIT, Rheinischer Merkur, Der Spiegel). Innerhalb der Fach-Community besaßen die Rezensionen in den Fachzeitschriften einen mindestens ebenso hohen Stellenwert: Angefangen von den epochenübergreifenden 'Flaggschiffen' (Historische Zeitschrift, Archiv für Sozialgeschichte, Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, Neue politische Literatur, Historisch-Politisches Buch, Historisches Jahrbuch) bis zu den zum Teil sehr spezialisierten Fachorganen der verschiedenen Epochen, Teildisziplinen, Territorien und Landschaften ergab sich so ein bemerkenswert differenziertes Informationsangebot. Über ausländische Veröffentlichungen konnte man sich - ebenfalls in gedruckter Form - etwa durch das 'Times Literary Supplement' oder das 'The New York Review of Books' informieren.
 
Website der 'neuen politischen literatur'
 
<3>
Der Weg in eine Fachbibliothek mit einem größeren Bestand frei zugänglicher Zeitschriften erlaubte jedem, der sich der Mühe unterzog, den Zugang zu einem breiten Meinungsspektrum (wobei auf diese Weise natürlich nicht nur Rezensionen, sondern vor allem auch Zeitschriftenaufsätze wahrgenommen wurden). Die Einsichtnahme in das gedruckte Journal gehörte vielfach - quasi automatisch - zum Alltag des wissenschaftlichen Arbeitens. Der Erscheinungsrhythmus der einzelnen Publikationen diente hierbei ebenso wie die thematische Ausdifferenzierung als - mehr oder minder bewusst eingesetzte - Hilfe zur Strukturierung des eigenen Arbeitens. Auf diese Art und Weise gelang es vergleichsweise einfach, den Überblick über die relevanten Neuerscheinungen zu behalten. Dass nicht wenige der besprochenen Bücher zum Zeitpunkt des Erscheinens der Rezension bereits mehrere Jahre auf dem Markt waren, wurde zwar stets bedauert, aber als unvermeidlich hingenommen.
 

Die ersten elektronischen Rezensionen in den Geschichtswissenschaften

<4>
Diese ausschließlich auf gedruckten Publikationen beruhende Informationslandschaft veränderte sich mit der allgemeinen Verbreitung des Personal Computers, des alltäglicheren Zugangs zum Internet und dessen Nutzung auch in den Geistes- und Geschichtswissenschaften. Externe Faktoren, wie sinkende Preise für Hard- und Software, verbesserte Übertragungsraten, die Etablierung preisgünstiger Internetprovider und die Entwicklung bedienerfreundlicher 'Benutzeroberflächen' spielten hierbei eine entscheidende Rolle. Aus der technischen Entwicklung resultierte schnell auch eine beständige Zunahme der Nutzerzahlen.
 
<5>
Am Anfang stand - und das ist ein wichtiger Punkt für den weiteren Verlauf - die fast schlagartige Verbreitung von E-Mail als neuer Form der Kommunikation. Neben den (üblichen) 1:1-Kontakt trat mit Mailinglisten schnell ein komplett neues Publikationsmedium. Anders als in der traditionellen Rollenverteilung wurde hier - zumindest theoretisch - die fundamentale Trennung in Verfasser und Leser aufgehoben, da jeder Teilnehmer jederzeit in beiden Funktionen agieren konnte. Eine Vorreiterrolle für die Verbreitung der E-Mail-Listen innerhalb der Geisteswissenschaften hatte zweifellos das im Februar 1993 gestartete amerikanische Humanities-Network (H-Net) mit seiner Zentrale an der Michigan State University (East Lansing, Michigan) inne. [2] Für die deutsche Geschichtswissenschaft besaß hierbei der Start der Listen H-German (September 1994) bzw. H-Soz-u-Kult (November 1996) besondere Bedeutung. [3]
 
Website von 'H-Net'
 
<6>
Nachdem die Mailing-Listen des H-Net zunächst vorwiegend 'Sekundärinformationen' (wie Tagungsankündigungen, allgemeine Hinweise auf neue Internetressourcen) transportiert hatten, bedeutete der Einstieg in einen regelmäßigen Rezensionsdienst auch die Bereitstellung 'eigener' Inhalte. [4] Obwohl am Beginn der Unternehmung auch die (spielerische) Erprobung des neuen Mediums und seiner Möglichkeiten eine nicht zu unterschätzende Rolle spielte, wurden 'offiziell' stets drei Beweggründe genannt: 1. Die Verkürzung des 'Produktionsprozesses', wodurch der zeitliche Abstand zwischen dem Erscheinen einer Publikation und der Rezension radikal verkürzt werden könne; 2. Der scheinbar unbegrenzt zur Verfügung stehende Raum, der die Veröffentlichung zahlreicher (auch längerer) Besprechungen ermögliche; und 3. Die Bereitstellung unabhängig von den Öffnungszeiten (und Anschaffungsetats) der örtlichen Bibliotheken. Bei manchen 'Aktivisten' der ersten Stunde hat wohl auch die Vorstellung eine Rolle gespielt, auf diesem Weg "'eingefahrene' Diskussionsrituale zu durchbrechen und eine umfassende, offenere 'Scientific Community' (wieder-)herzustellen". [5]
 

Vorbehalte gegenüber dem neuen Medium

<7>
Trotz der scheinbar unbestreitbaren Vorzüge der elektronischen Rezensionen hatten diese zunächst mit zahlreichen Vorbehalten zu kämpfen, ja, sie galten vielen als exotische, eher milde belächelte denn ernst genommene oder gar für zukunftsträchtig gehaltene Unternehmungen des wissenschaftlichen Nachwuchses. Und gelegentlich behielten die Skeptiker, die diesbezüglichen Initiativen gerne ein frühes Ende prophezeiten, auch recht, wenn die (allzu) kühnen Visionen der 'Enthusiasten' an der rauen Wirklichkeit - etwa Finanzierungsengpässen bei der Verschickung von Rezensionsexemplaren - scheiterten.
 
<8>
Das für alle Beteiligten neue Medium warf denn auch höchst unterschiedliche Fragen auf: Verlage waren sich nicht sicher, ob sie derartigen 'Experimenten' trauen konnten, konkret, ob tatsächlich jemals die verschickten Rezensionsexemplare besprochen werden würden, wer solche Publikationen über einen kleinen Kreis 'Eingeweihter' hinaus überhaupt zur Kenntnis nehmen würde, ob somit ein Werbeeffekt wirklich gegeben sei. Kompetente Rezensenten mussten - oft langwierig - davon überzeugt werden, dass sie nicht automatisch 'unseriös' erscheinen würden, wenn sie im Internet publizierten. Fast litaneihaft musste die (allerdings neuartige) Zitierfähigkeit ebenso beteuert werden wie die Aussage, dass die publizierten Beiträge "nicht morgen wieder verschwunden" seien. So manche Zusicherung hätte damals einer (technischen) Nachfrage wohl nur bedingt standgehalten, wobei vielen der Beteiligten zu Gute zu halten ist, dass sie sich selbst der vollen Konsequenzen ihrer Aussagen nur begrenzt bewusst waren.
 

Gründe für den Erfolg elektronischer Rezensionen

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Die Skepsis der Anfangszeit lässt sich heute in manchen Bereichen fast nicht mehr nachvollziehen. Das seit knapp zwei Jahren bestehende Rezensionsjournal 'sehepunkte' kann inzwischen knapp 900 Abonnenten und monatlich über 60.000 Zugriffe (Stand September 2003) aufweisen. Ohne Übertreibung - und jedes Gespräch auf Fachkongressen bestätigt diese These - wird man also feststellen können, dass Online-Rezensionen wesentlich schneller Verbreitung finden als ihre gedruckten Pendants. Hier ist auch der Grund zu suchen, warum die frühere Zurückhaltung und Skepsis der Verlage, die alle in diesem Bereich Tätigen erfahren haben, einer sehr weitreichenden Kooperationswilligkeit gewichen ist. Einen weiteren, wenn auch indirekten Beleg für den Erfolg elektronischer Rezensionen bietet schließlich der Umstand, dass verschiedene etablierte Zeitschriften (etwa das Historische Jahrbuch) mittlerweile auf ihren gedruckten Rezensionsteil verzichten.
 
Beispiel einer Rezension in 'sehepunkte'
 
<10>
Tatsächlich erklärt sich der Erfolg der elektronischen Rezensionen daraus, dass sie in geradezu idealtypischer Weise die Vorzüge des Netzes nutzen können. Dazu tragen auch die Länge bzw. Kürze der Texte und die angebotenen technischen Angebote bei. Ein puristisch gestalteter, 30-seitiger Literaturbericht ohne jegliche Bebilderung zum Beispiel besitzt als elektronisches Faksimile zwar den Vorteil komfortablerer und rascherer Durchsuchbarkeit. Die Potentiale des Mediums werden damit allerdings nicht einmal am Rande ausgeschöpft, obwohl der Leser solchen Luxus sicherlich ab und an durchaus zu schätzen weiß. Doch wer möchte schon stundenlang Zeile für Zeile, Seite um Seite den Bildschirm hinab scrollen?
 

Aktuelle Defizite und Probleme

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Dass dennoch im Bereich des elektronischen Publizierens nicht allein eitel Sonnenschein vorherrscht, liegt in einer Reihe von Problemen und Defiziten begründet. Auch manche der oben genannten- häufig als unumstößliche Tatsachen präsentierten - Vorzüge entpuppen sich bei näherer Betrachtung bestenfalls als Annahmen.
An erster Stelle ist hier die fehlende Institutionalisierung / Finanzierung zu nennen. Diese erwies sich verständlicherweise nicht selten als wirkungsmächtiger als die persönliche Motivation der einzelnen Akteure. Zahlreiche - auch mit Mitteln der öffentlichen Hand geförderte - Projekte wurden und werden wieder eingestellt oder führen ein Leben als 'Pflegefall', allerdings ohne jede Versicherung. Das Internet ähnelt somit an vielen Stellen einer großen, unkoordinierten Baustelle. Neben schmucken Häusern stehen nie fertig gestellte Bauruinen. Manche prächtigen Schlösser weisen Setzungsrisse auf, und von zahlreichen Fassaden bröckelt der Putz. Das Medium wird an dieser Stelle auch Opfer einer seiner hervorragendsten Eigenschaften - der gleichermaßen versprochenen wie unterstellten permanenten Aktualität. Während die Ergebnisse 'traditioneller' Projekte für gewöhnlich in Buchform erscheinen, nach einiger Zeit veralten, aber einen Wert per se behalten, büßen Online-Projekte - bereits wenn sie nur kurze Zeit nicht auf dem aktuellen Stand gehalten wurden - ihren (inzwischen bedingt zugestandenen) Status als 'wissenschaftlich verlässlich' ein.
 
<12>
Um dieser Falle zu entgehen, aber auch um die bestehenden Angebote weiterzuentwickeln, wurden deshalb an mehreren Orten von den früheren ehrenamtlich tätigen Akteuren Drittmittel (überwiegend von der DFG) eingeworben. Die Antragstellung machte in diesem Zusammenhang nicht selten eine massive Erweiterung des ursprünglichen Tätigkeitsfeldes erforderlich. [6] Eine über die - durch die Drittmittel sichergestellte - Anschubfinanzierung hinausgehende eigenständige materielle Sicherheit ist de facto momentan allerdings noch bei keiner der Unternehmungen gegeben.
 

Technische Grenzen und Herausforderungen

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Auch einige technische Aspekte trüben die reine Erfolgsgeschichte. Zu nennen sind hierbei natürlich die für manche Wissenschaftler (aber auch Teile der interessierten Öffentlichkeit) nach wie vor fehlenden technischen Vorkenntnisse, die den versprochenen umfassenden, allgegenwärtigen Zugang zu dem neuen Medium wieder beträchtlich einschränken. Zu nennen ist der verloren gegangene Aspekt des (gelegentlich auch genüsslichen, entspannteren) Lesens in einem Buch oder einer Zeitschrift egal an welchem Ort. Zu nennen ist schließlich das häufig thematisierte Problem der dauerhaften Verfügbarkeit und Archivierung. Vermutlich haben wir es hier insgesamt allerdings lediglich mit Übergangsphänomenen zu tun. Ersteres wird sich durch die immer selbstverständlichere Nutzung des Internets auch im Alltag abmildern, so wie das bereits im Fall des PCs vorexerziert wurde. Letzteres wird sich durch die Weiterentwicklung des Mediums und die Etablierung verbindlicher Standards vermutlich lösen lassen. Auch ist das zunehmende Engagement traditioneller 'Verwahrinstitutionen' wie Archive und Bibliotheken auf diesem Feld ein Hoffnungszeichen.
 
Website des Archivservers 'DEPOSIT.DDB.DE'
 
<14>
Wichtiger erscheint es in diesem Zusammenhang, Techniken zu entwickeln, um den Nutzer der verschiedensten Dienste nicht in einem Meer von Informationen ertrinken zu lassen. Man muss nicht gleich den berühmten technik- oder zumindest PC-feindlichen, älteren Fachkollegen bemühen, um dem Internet an vielen Stellen eine überbordende Unübersichtlichkeit zu attestieren. Mit jedem online 'gestellten' Beitrag vergrößert sich - theoretisch - der allgemeine Wissensstand über einen Gegenstand. Alle Teilinformationen sind jederzeit von jedem Ort aus verfügbar und - das ist häufig am 'beschwerlichsten' - vermehren sich kontinuierlich. Der Umgang mit der beständig zunehmenden Datenmenge obliegt allein dem Organisationstalent des Einzelnen. Notwendig erscheint somit die (Re-)konstruierung virtueller Räume, die geeignet sind, den Nutzern wieder einen Überblick zu verschaffen.
 
<15>
Es geht dabei nicht nur darum, die (vielleicht wenig technikbegeisterten) Kollegen 'abzuholen'. Die Übertragung des früheren Gangs in die Bibliothek kann vielmehr auch zu festen 'Anlaufstellen' führen, die dem einzelnen eine Strukturierung der eigenen Arbeit anbieten und somit erleichtern. Die Umsetzung dieser Lösung kann auf unterschiedlichste Weise erfolgen: eine klare, logische Navigation (die auch nicht jeden Monat grundlegend geändert wird), die Möglichkeit persönlicher Filtermechanismen, übersichtliche, leicht verständliche Suchfunktionen, die Zusammenfassung gleichartiger Informationen in Form elektronischer Journale, die Etablierung eines klaren zeitlichen Rhythmus, wann mit welchen Informationen zu rechnen ist. [7] Das Ziel aller Aktivitäten muss dabei eine möglichst umfassende Änderung von der - auf manchen Seiten vorherrschenden - Technikorientierung hin zu einer Ausrichtung auf den Nutzer sein. Dabei wird man sich auch eingestehen müssen, dass nicht alles technisch realisierbare innerhalb des Faches auch sinnvoll Anwendung finden wird.
 

Schnell und kostenlos

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Zwei der von den Befürwortern elektronischen Publizierens stets als besondere Vorzüge dargestellten Aspekte sollen hier wenigstens kurz gestreift werden: die Geschwindigkeit und der Kostenvorteil. Selbstverständlich wird niemand in Frage stellen wollen, dass elektronische Publikationen (gerade auf dem Gebiet der Zeitschriften) wesentlich schneller erscheinen als ihre gedruckten Brüder und Schwestern. Allerdings bedarf es hier auch einiger Einschränkungen. Je mehr die E-Journals in Inhalt und Form auf Qualität achten (und dieser Trend wird sich zweifellos noch verstärken), desto mehr haben sie es zunächst mit 'klassischen' redaktionellen Arbeitsabläufen zu tun. Abgesehen von der Kommunikationsform (E-Mail) könnte zunächst auch ein traditionelles Druckwerk entstehen. Und somit fallen alle hinreichend bekannten Verzögerungsmomente (etwa verspätet oder nie abliefernde Autoren) hier genauso an. Ein weiteres tritt hinzu: Die viel gelobte ergänzende 'Ausstattung' mit möglichst multimedialen Elementen bedeutet in aller Regel einen beträchtlichen zusätzlichen Zeitaufwand. Dadurch wird der zeitliche Nachteil der Printmedien zwar noch nicht egalisiert, aber doch relativiert.
 
<17>
Ähnliches gilt für den Kostenfaktor. Natürlich gibt es auch kein E-Journal zum echten Nulltarif. Für den Nutzer mag sich allerdings dieser Eindruck einstellen, da er - gerade im Bereich der Geisteswissenschaften - noch selten für die gewünschten Angebote bezahlen muss. Er oder sie befindet sich dagegen (abgesehen von den Zugangskosten zum Internet) zu weiten Teilen in einer großen virtuellen Freihandbibliothek. Während deren Einheiten in der Realität zumindest begrenzten wirtschaftlichen Gesetzen unterliegen, ist das für die existierenden Formate (in der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft!) bislang im Grunde nicht der Fall. Diese Tatsache könnte sich in Kombination mit der oben bereits thematisierten mangelnden Institutionalisierung längerfristig als höchst prekär erweisen.
 

Historiker als Verleger

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Zu den genannten Punkten treten weitere Problemfelder hinzu. So zählt es inzwischen zu den hinreichend gesicherten Allgemeinplätzen, dass die zunehmende Publikation elektronischer Informationsangebote und Journale die Arbeitsprofile und Tätigkeitsgebiete gerade auch von Historikerinnen und Historikern revolutionär verändert hat. Die in mehreren Jahrhunderten sich langsam etablierte Arbeitsteilung zwischen dem Verfasser eines Werkes, der Herstellung des Druckwerks und dessen Vertrieb gilt hier tendenziell als aufgehoben.
 
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Historiker, die bislang mit dem Quellenstudium und der Erstellung ihrer Texte hinreichend beschäftigt waren, betätigen sich jetzt - je nach Genre - zusätzlich als Lektor, Informatiker, Grafiker, Web-Designer, Jurist, Bibliothekar, Pressereferent, Fund-Raiser und Marketing- oder Vertriebsstratege. Für alle diese Tätigkeiten, die zum Teil in früheren Zeiten in den Verantwortungsbereich der Verlage fielen, fehlt den allermeisten der Betroffenen häufig die nötige Sachkompetenz, in aller Regel aber zumindest die Ausbildung. Viele - andernorts seit langem routiniert ablaufende - Arbeitsprozesse werden nach und nach langwierig entwickelt. Qualitätskriterien, Ablaufszenarien und Notfallpläne müssen erarbeitet werden. [8] Nicht selten werden zu Beginn von Online-Publikationsprojekten diese Probleme überhaupt nicht gesehen oder thematisiert.
 
<20>
Man wird dafür wohl zwei Gründe benennen können. Einerseits sind viele - selbst der vermeintlich 'benachbarten' - Arbeitsgebiete den Historikern relativ fremd geblieben und werden häufig eher geringschätzig betrachtet. Andererseits spricht aus der Überzeugung, das 'Wenige', was zum Beispiel von der Verlagsarbeit übrig geblieben sei, schnell mindestens ebenso gut wie die bestehenden Institutionen leisten zu können, nicht nur eine Überheblichkeit der betreffenden Akteure. In jedem Fall ist es zu bedauern, dass die Zusammenarbeit zwischen Verlagen oder auch Bibliotheken auf der einen Seite und der 'Fachwissenschaft' auf der anderen Seite bislang zu wenig praktiziert wird. Dort, wo dies unternommen wurde (wie etwa beim Server Frühe Neuzeit als Kooperationsprojekt der Bayerischen Staatsbibliothek mit dem Historischen Seminar der Ludwig-Maximilians-Universität München) überwiegen - bei allen langwierigen Abstimmungs- und Lernprozessen auf beiden Seiten - die positiven Effekte. Bislang fehlt für diese Art Erfahrungsaustausch sowohl auf lokaler wie auf nationaler Ebene jedoch ein geeignetes Gremium.
 
Website des 'Servers Frühe Neuzeit (sfn)'
 

Das Konzept der 'sehepunkte'

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Eines der erklärten Ziele der 'sehepunkte', die seit April 2001 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft ausdrücklich als "modellhaftes Rezensionsjournal für die Geschichts- und Kunstwissenschaften" gefördert werden, war der Versuch, einer Reihe der oben geschilderten Probleme bereits in der Konzeption zu begegnen. Sehr bewusst wurde daher - auf der Grundlage der Erfahrungen der Rezensionsjournale PERFORM und KUNSTFORM sowie mehrerer Nutzerbefragungen - eine auf den ersten Blick ungewohnt traditionell anmutende Erscheinungsform gewählt. Am Vorbild klassischer, gedruckter Zeitschriften orientiert, tragen die 'sehepunkte' durch die Anwendung etablierter Elemente innerhalb des neuen Mediums einem nach wie vor weit verbreiteten Nutzerverhalten Rechnung. Eine einfache, zitierfähige, beständige Adresse im Netz, die immer wieder 'besucht' werden kann, die ISSN, die Möglichkeit, das Inhaltsverzeichnis der einzelnen Ausgaben zu abonnieren, vor allem aber der monatliche Erscheinungsrhythmus wecken Erinnerungen und verschaffen ein Gefühl von Vertrautheit und Sicherheit. Fast automatisch - eben durch die Anwendung bewährter Techniken - kann sich ein Nutzer zum Beispiel jederzeit darüber informieren, welche Publikationen in letzter Zeit neu besprochen wurden. Man steht im übertragenen Sinn wieder am Zeitschriftenregal und blättert durch die Ausgaben. Damit wird - zweifellos auf sehr traditionelle Weise - ein virtueller Raum geschaffen, der den Einzelnen bei der Strukturierung seiner Arbeitsweise im Internet unterstützt - zumindest aber ein Angebot hierfür bereitstellt.
 
<22>
Diesen virtuellen Raum darf man sich freilich nicht als abgeschlossenes Studierkabinett vorstellen. Ungeachtet ihrer klassischen Form suchen die 'sehepunkte' die Möglichkeiten des Mediums auszuloten. Die publizierten Rezensionen werden in Online-Datenbanken wie den Jahresberichten für deutsche Geschichte und im Neuerwerbungsdienst der Bayerischen Staatsbibliothek angezeigt, so dass eine Verknüpfung der unterschiedlichen Bereiche der Literaturrecherche gegeben ist. [9] Gleichzeitig stehen die Rezensionen ihrerseits an einer Schnittstelle der Recherche. Bei Sammelbänden können die Inhaltsverzeichnisse eingesehen werden, die Bücher selbst können über den Karlsruher Virtuellen Katalog direkt recherchiert, Aufsätze über den Literaturlieferdienst subito bestellt werden. [10] Die Verbindung zu etablierten Institutionen, aber auch die Indizierung der Beiträge durch Suchmaschinen wie Google garantiert eine Verbreitung in bislang ungeahntem Ausmaß. So genügt in aller Regel die Eingabe der ISBN, wahlweise des kompletten Autoren- bzw. Rezensentennamens oder auch eines Bestandteils des Titels in einer Suchmaschine, um den Text der Besprechung zu finden.
 
Website des 'Neuerwerbungsdienstes' der Bayerischen Staatsbibliothek
 
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Ein weiteres Hauptaugenmerk der 'sehepunkte' gilt von Beginn an der Sicherung von wissenschaftlicher Qualität. Diese wird durch ein mehrfach abgestuftes Verfahren gewährleistet. Eine zentrale Rolle spielt hierbei das Modell verteilten wissenschaftlichen Arbeitens: In ihren speziellen Forschungsgebieten jeweils ausgewiesene Fachredakteure schlagen den Herausgebern Titel zur Besprechung vor, kümmern sich um die Vergabe von Rezensionen und zeichnen last but not least für die redaktionelle Bearbeitung der Beiträge verantwortlich. Ein mit hochkarätigen Wissenschaftlern besetzter Beirat begleitet darüber hinaus die Arbeit der gesamten Redaktion. [11]
 
Workflow der 'sehepunkte'
 
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Der aus der mangelnden institutionellen Absicherung resultierenden Gefahr, eine 'Eintagsfliege' zu werden, wurde von Beginn an durch die gezielte Kooperation mit etablierten wissenschaftlichen Institutionen (Historisches Seminar der LMU München, Bayerische Staatsbibliothek, Herder-Institut Marburg) begegnet. Die BSB hat in diesem Zusammenhang auch die dauerhafte Archivierung des Journals zugesichert.
 

Versuch eines Ausblicks

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Zwar erscheint es angesichts der rasanten Entwicklung der letzten Jahre fast vermessen, dennoch sollen hier einige wenige Thesen für die zukünftige Entwicklung gewagt werden.
(1) Die Anzahl der elektronischen Angebote und E-Journals wird sich in absehbarer Zeit weiter deutlich erhöhen. Verstärkt werden sich wissenschaftliche Fachinstitutionen um einen verbesserten Netzauftritt bemühen. Die Verlage werden zunehmend ihre bestehenden gedruckten Fachzeitschriften durch elektronische Supplemente ergänzen bzw. manche Bereiche (wie Rezensionen) ganz 'auslagern'. Mittelfristig werden zahlreiche Fachzeitschriften nur noch elektronisch erscheinen.
(2) Die elektronischen Angebote werden eine wesentlich weiterreichende Vernetzung zu ergänzenden Angeboten aufweisen. Die heutigen Möglichkeiten sind hier erst ein Anfang. Die Präsentationsform wird stark von der technischen Weiterentwicklung der 'Trägergeräte' (Notebook, Organizer etc) abhängen.
 
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(3) Für die bestehenden Angebote wird sich längerfristig - noch umfassender als bisher - ein Katalog an Qualitätskriterien etablieren. Inmitten einer ständig wachsenden Informationsflut kommt der Sicherung von Qualität eine herausragende Bedeutung zu.
(4) Die mangelhafte finanzielle Ausstattung vieler Unternehmungen und Projekte wird zur Einstellung einer großen Anzahl von - aus privater Motivation entstandenen - Unternehmungen führen. Dieser Umstand wird in Kombination mit dem Ruf nach Qualitätssicherung und dem zunehmend größeren Engagement 'klassischer' Institutionen dazu führen, dass letzteren zukünftig besonderes Gewicht zu kommt. Vor allem die Universitäts- und Staatsbibliotheken dürften hierbei eine Schlüsselrolle spielen.
(5) Vieles spricht dafür, dass sich im Bereich des Rezensionswesens zukünftig - neben reinen Informationsdiensten im Newsticker- oder Mailing-Listen-Format - verstärkt virtuelle Räume in Journalform etablieren werden. Nur wenn es gelingt, die Nutzer nicht mit einer Datenflut allein zu lassen, sondern ihnen Strukturierungsvorschläge zu machen, wird das elektronische Publizieren langfristig sinnvoll sein.
 

Anmerkungen:

[1] Als Beispiele für die Bandbreite können das Rezensionsorgan für Frauen- und Geschlechterforschung, die aus dem Internationalen Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur hervorgegangene Zeitschrift IASL-online, das rechtsgeschichtliche Journal Forum Historiae Iuris oder der ausführliche 'Referatedienst' der Mailingliste Hexenforschung dienen. Ein Beispiel für die Erweiterung einer gedruckten Fachzeitschrift stellt der - seit 2000 existierende - Online-Rezensionsbereich des Archivs für Sozialgeschichte dar. Einen sehr nützlichen Überblick verschafft der von Stefan Blaschke aufgebaute und betreute Online Reviews Index. Auf die Online-Rezensionen von Tageszeitungen, die in der Regel nur eine begrenzte Zeit kostenlos online verfügbar sind, wird im Folgenden nicht näher eingegangen.
[2]
Das H-Net benennt in seiner Selbstbeschreibung die Michigan State University als 'computing heart' (Besuch 9.10.2003).
[3] Generell können die Jahre 1996-1998 als Hochphase für die Ausdifferenzierung des Listenverbundes des H-Net-Verbundes gewertet werden. Vgl. Peter Helmberger / Rüdiger Hohls: H-Soz-u-Kult. Eine Bilanz nach 3 Jahren, in: dies. (Hg.): Humanities-Net Sozial- und Kulturgeschichte (H-Soz-u-Kult), Sonderheft HSR 24 (1999), Nr. 3, 7-35, hier: Anhang 30-34.
[4] Die älteste nachweisbare Rezension eines Buches innerhalb des H-Net stammt vom Februar 1994 (http://www.h-net.org/reviews/
showrev.cgi?path=2321851704466
), während bereits ein Jahr zuvor ein Film besprochen wurde (http://www.h-net.org/mmreviews
/showrev.cgi?path=447
). H-German veröffentlichte im März 1995 seine ersten Rezensionen (http://www.h-net.org/reviews/
showlist.cgi?sort=date&lists=H-German
). Die erste über H-Soz-u-Kult publizierte Rezension erschien im April 1997 (http://h-net.msu.edu/cgi-
bin/logbrowse.pl?trx=vx&list=h-soz-u-kult&month=9704&week=d&msg=
RmkNkYaiXfWkhUbHkFnHdw&user=&pw
).
[5] Helmberger / Hohls: Bilanz, 7.
[6] Paradebeispiele für diese Entwicklung sind das Rezensionsjournal 'sehepunkte', das sich aus dem Rezensionsjournal PERFORM des sfn entwickelte und die zuvor ausschließlich in KUNSTFORM publizierten Besprechungen zur Kunstgeschichte in einer eigenen Rubrik integrierte, sowie der Verbund clio-online, der die Informationsstruktur von H-Soz-u-Kult ergänzt.
[7] Für die 'sehepunkte' wie die 'zeitenblicke', die sich von Beginn an bewusst als Journale definiert haben, hat sich dieses Publikationsformat jedenfalls als ein eindeutiger Vorzug herausgestellt. In mehreren Umfragen - zuletzt im Juni 2003 - wurde dies stets einhellig bestätigt. Ein weiteres Indiz hierfür ist sicherlich auch, dass die - sich über mehrere Jahre dezidiert als moderneres Medium als die bestehenden Fachzeitschriften definierende - Mailing-Liste H-Soz-u-Kult neuerdings ihre Rezensionen vierteljährlich in einem Journal bündelt, das parallel in elektronischer und gedruckter Form erscheint. Vgl. Rüdiger Hohls: Redaktionsnotiz: Historische Literatur - Heft 1 (2003), H-Soz-u-Kult, 11.9.2003, und den Kommentar von Klaus Graf in der Diskussionsliste INETBIB - Internet in Bibliotheken, 12.9.2003.
[8] Um einen Eindruck zu gewinnen: Die 'sehepunkte', die auf der Infrastruktur und den Erfahrungen des Rezensionsjournals PERFORM aufbauen konnten, benötigten vor ihrem Start sieben Monate Vorlauf. In dieser Zeit waren zwei - auf diesem Gebiet erfahrene - wissenschaftliche Mitarbeiter mit deutlich mehr als ihrer regulären Arbeitszeit in Vollzeit beschäftigt. Im Vergleich kann diese Vorlaufszeit noch als relativ kurz eingestuft werden.
[9] Längerfristig sollen die Rezensionen auch vom OPAC der Bayerischen Staatsbibliothek aus erreichbar sein. Momentan läuft hier eine Probephase.
[10] Die Auswertung der Logfiles der 'sehepunkte' zeigt, dass gerade die OPAC-Recherche über den KVK zu den meistgenutzten Werkzeugen zählt.
[11] Dem Beirat gehören an: Prof. Dr. Heinz Duchhardt (Mainz, als Vorsitzender), Prof. Dr. Kai Brodersen (Mannheim), Prof. Dr. Frank Büttner (München), Prof. Dr. Anselm Doering-Manteuffel (Tübingen), Prof. Dr. Peter Funke (Münster), Prof. Dr. Hans Günter Hockerts (München), Prof. Dr. Hans-Michael Körner (München), Prof. Dr. Katharina Krause (Marburg), Prof. Dr. Dieter Langewiesche (Tübingen), Dr. Hermann Leskien (München), Prof. Dr. Helga Schnabel-Schüle (Trier), Prof. Dr. Winfried Schulze (München), Prof. Dr. Wolfram Siemann (München), Prof. Dr. Helmuth Trischler (München).
 

Autor

Dr. des. Peter Helmberger
Ludwig-Maximilians-Universität
Historisches Seminar - Frühe Neuzeit
Geschwister-Scholl-Platz 1
80539 München
Peter.Helmberger@lrz.uni-muenchen.de

 

Anmerkung der Redaktion:

Wenn nicht anders vermerkt, gilt als Referenz-Datum für Inhalt und Funktionalität aller im Text genannter Links der 17.10.2003.

Empfohlene Zitierweise:
Peter Helmberger: Historische Rezensionen im Internet. Entwicklung - Probleme - Chancen, in: zeitenblicke 2 (2003), Nr. 2 [22.10.2003], URL: <http://www.zeitenblicke.historicum.net/2003/02/helmberger.html>

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ZEITENBLICKE ISSN: 1619-0459