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  3 (2004), Nr. 1: Inhalt
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Abstracts

 
Ludger Derenthal: Dada, die Toten und die Überlebenden des Ersten Weltkriegs, in: zeitenblicke 3 (2004), Nr. 1.
 

Dass die Erlebnisse und Erfahrungen des Ersten Weltkrieges von entscheidender Bedeutung für die Entstehung der dadaistischen Revolte waren, ist bekannt. Für die Angriffe auf die Grundlagen der Zivilisation, die den Krieg hervorgebracht hatte, bedienten sich die Dadaisten bei ihren Collage- und Montageverfahren der Versatzstücke des Alten, um es umso radikaler verwerfen zu können. Ob die Dadaisten neben ihrem Protest auch das Gedenken an die Opfer des Krieges in ihren Arbeiten thematisierten, ist Thema dieses Beitrags. Ist es vorstellbar, dass neben der ätzenden Kritik und der Beleidigung der bürgerlichen Gesellschaft eine wie auch immer geartete Form der trauernden Erinnerung an die Toten von ihnen beabsichtigt war? Sicherlich suchten sie dabei andere Formen der Trauer als das in ihren Augen nur verlogene Gedenken der herrschenden Schichten. Ausgewählt wurden für die Untersuchung einige der skandalträchtigsten und öffentlichkeitswirksamsten Ausstellungsbeiträge und Aktionen von Dada Berlin, Köln und Paris.

 
 
Andreas Fickers: Gedächtnisopfer - Erinnern und Vergessen in der Vergangenheitspolitik der deutschsprachigen Belgier, in: zeitenblicke 3 (2004), Nr. 1.
 
Ziel des Aufsatzes ist es, den 'Umgang' der Ostbelgier mit ihrer Geschichte im 20. Jahrhundert am Beispiel der Erinnerung an den Ersten und Zweiten Weltkrieg zu analysieren. Dabei zeigt sich, dass der öffentliche Erinnerungsdiskurs durch zwei Muster geprägt war, die man als verordnetes und selbst auferlegtes Beschweigen bestimmter historischer Ereignisse beschreiben könnte. Dominierten in der ersten Hälfte des Jahrhunderts Formen verordneten Schweigens bzw. politische Strukturen, die den Erinnerungsrahmen für eine Vergangenheitspolitik im Sinne nationalistischer Geschichtsinteressen bildeten, ist die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg durch Formen selbst auferlegten Schweigens bzw. durch eine Vergangenheitspolitik gekennzeichnet, deren primäres Ziel die Stilisierung der Ostbelgier als 'Opfer' der Geschichte zum Zwecke forcierter Assimilierungsanstrengungen war. Wurden in der Zwischenkriegszeit historische Ereignisse umgedeutet, damit sie in ein entsprechend politisiertes Geschichtsbild passten ('Cantons rédimés'), wurde in der Nachkriegszeit besonders die nationalsozialistische Vergangenheit tabuisiert, um sich dieser belastenden Hypothek zu entledigen und endlich 'belgisch denken, fühlen und handeln' zu können. In beiden Fällen wurde nicht nur die Geschichte, sondern vor allem die Fähigkeit aufrichtiger Erinnerung 'Opfer' divergierender vergangenheitspolitischer Interessen.
 
 
Christian Fuhrmeister: Ein Märtyrer auf der Zugspitze? Glühbirnenkreuze, Bildpropaganda und andere Medialisierungen des Totenkults um Albert Leo Schlageter in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus, in: zeitenblicke 3 (2004), Nr. 1.
 
Der Beitrag vergleicht die Grundzüge des Totenkults um Albert Leo Schlageter in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus. Der Fokus der Untersuchung liegt auf dem Medieneinsatz, der den nationalsozialistischen Märtyrerkult vom Totengedenken in der Weimarer Republik unterscheidet. Die verschiedenen Ebenen der Medialisierung werden abschließend an einem konkreten Fallbeispiel, dem Schlageter-Gedenken auf der Zugspitze, demonstriert.
 
 
Rüdiger Hachtmann: Die Revolution von 1848 – Kulte um die Toten und die Lebenden, in: zeitenblicke 3 (2004), Nr. 1.
 
In dem Beitrag wird der Genesis des Totenkults von 1848/49 und ebenso des Kults um lebende Revolutionsheroen sowie den Formen, den Wandlungen und der Funktion der darauf basierenden Erinnerungskulturen nachgegangen. Gezeigt wird u.a. erstens, dass der revolutionäre Totenkult in Deutschland nicht geeignet war, zu einem Nationalmythos zu werden, der die verschiedenen sozialen Gruppen und politischen Strömungen einte. Die öffentliche Erinnerung an die gefallenen Revolutionäre spaltete die Nation vielmehr nachhaltig, in Deutschland, nicht dagegen in anderen europäischen Ländern wie Ungarn oder Italien. Die pathetisch-feierliche Erinnerung an die unterschiedlichen Toten der Revolution von 1848/49 und die jenen unterschobene politische Sendung gab den Parteien jedenfalls in Deutschland überhaupt erst Kontur. Die entstehende Linke wie die Rechte verstanden sich als Testamentsvollstrecker des vermeintlichen politischen Willens der im Kampf gefallenen Revolutionäre bzw. ihrer Kontrahenten, der im Kampf „für König und Vaterland“ getöteten Soldaten.
Der Totenkult wurde – erstens – für beide Seiten zum politischen Code; für die Linke markiert er zugleich den Beginn einer Art revolutionärer Familientradition. Der Totenkult, gleich welcher Couleur, implizierte Inklusion – und ebenso Exklusion: War der Totenkult zum politischen Code geworden, wurde ihm als zusätzliches Element das politische und soziale Gegenüber als Feindbild implementiert. Kollektive Ausgrenzung erlaubte, die jeweiligen, zumeist komplexen histo­risch-politischen Konfliktkonstellationen auszublenden bzw. auf griffige und personalisierte Grundmuster zu reduzieren. Zweitens: Obgleich zur ‚Parteisache’ geworden, war der von einer mal kleineren, mal größeren Minderheit zelebrierte Totenkult um die am 18. März 1848 in Berlin gefallenen Barrikadenkämpfer in der gesamtnationalen Erinnerung latent immer präsent. Drittens: Die Totenkulte sowie die politische Funktionalisierung von Begräbnissen sollten nicht den Blick dafür verstellen, dass ihnen schon relativ bald ein gleichfalls quasi-religiös aufgeladener Kult um herausragende lebende Revolutionäre wie Friedrich Hecker u.a. an die Seite trat. Auch dieser überlebte das Revolutionsjahr 1848 um Jahrzehnte, im Grunde – ruft man sich die zahlreichen Hecker-Devotionalien des Jahres 1998 in Erinnerung – bis heute.

 
 
Heidi Hein: Freiheitsheld und Symbolfigur: Der Piłsudski-Kult als Mittel nationaler Identitäts- und Bewusstseinsbildung, in: zeitenblicke 3 (2004), Nr. 1.
 

Der Piłsudski-Kult ist ein typischer politischer Kult, der durch die Komponenten Mythos, Ritual und Symbole sowie durch eine damit einhergehende Institutionalisierung definiert wird. In den Ausdrucks- und Vermittlungsformen ähneln sich politische Kulte, während die inhaltlichen Aspekte Bezug auf die jeweiligen Traditionen und den historischen Kontext nehmen müssen.

Da der Totenkult um Piłsudski auf dem Personenkult aufbaut, wird dieser seit dem Ersten Weltkrieg bis 1935 skizziert und im Folgenden die Begräbnisfeierlichkeiten als Katalysator und Auftakt des Totenkultes, der Totenkult selbst bis 1939 und die Ausdrucksformen und Funktionen des Kultes bis 1939 dargestellt. Anschließend wird dessen Entwicklung im Zweiten Weltkrieg, in der Piłsudski-nahen Emigration, während der Volksrepublik Polen und in der Dritten Republik untersucht. Es soll verdeutlicht werden, dass man den Piłsudski-Kult jederzeit politisch instrumentalisierte, wobei der Mythos als inhaltlicher Bestandteil jeweils nuanciert wurde. Er erhielt legitimatorische und über die Zeit der Zweiten Republik hinausführend identitätsstiftende Funktionen und beeinflusste das historische Gedächtnis.
 
 
Armin Heinen: Der Tod des Diktators und die Gegenwart der Vergangenheit: Rumänien 1989-2002, in: zeitenblicke 3 (2004), Nr. 1.
 

Rumäniens Weg in die Demokratie nach 1989 ist ein Weg gewaltsamer Revolution, der partiellen Elitenkontinuität und des bewussten Verdrängens. Das hieraus resultierende, alle politische Gruppen einende Leiden an der politischen Kultur Rumäniens spiegelt sich nicht zuletzt wider in der Auseinandersetzung um den Tod des Diktatorenpaares Nicolae und Elena Ceausescu. Der offene politische Streit um die Ceausescu-Jahre und die Dezemberrevolution beginnt nach einer Zeit des Unbehagens erst jetzt, so die These des Beitrags. Er schildert die Gründe für den gewaltsamen Umsturz, richtet den Blick indes vor allem auf die symbolische und diskursive Verortung der 'gestohlenen Revolution'. Angemessen scheint deshalb eine 'dichte Beschreibung', die zugleich zurückgreift auf Konzepte der Transformationsforschung, der Generationensoziologie, der klassischen Revolutionstheorie sowie auf das von Ernst Kantorowicz entwickelte Modell der 'zwei Körper des Königs'.

 
 
Claus Leggewie / Erik Meyer: Visualisierung und Virtualisierung von Erinnerung: Geschichtspolitik in der medialen Erlebnisgesellschaft. Skizze des Teilprojekts E 11 im Sonderforschungsbereich 'Erinnerungskulturen' an der Justus-Liebig-Universität Gießen, in: zeitenblicke 3 (2004), Nr. 1.
 
Erinnerungen sind abhängig von der gesellschaftlichen Organisation ihrer Weitergabe und von den dabei genutzten Medien. Deshalb stehen jetzt vermehrt Einflüsse und Wirkungen auf der Tagesordnung, die neue, computervermittelte Medien auf Erinnerungskulturen haben. Die mnemotechnische Relevanz bildhafter Darstellungen von historischen Ereignissen wird in jüngster Zeit verstärkt analysiert; Visualisierung, vor allem in elektronischen Massenmedien, ist dabei als grundlegende Tendenz einer 'ikonisch' geprägten Öffentlichkeit und (politischen) Kultur herausgestrichen worden. Die Digitalisierung stellt eine neue Dimension dar, die bisher meist nur im Hinblick auf ihre technischen Grundlagen und erhöhte Speicherkapazitäten von Erinnerungs-Informationen thematisiert worden ist. Wenig bearbeitet worden sind ihre dynamischen, multimedialen und interaktiven Dimensionen, die eine neue Qualität der Inszenierung und Fiktionalisierung historischer Ereignisse herstellen. Die bisher erzielten Ergebnisse legen nahe, dass es dabei auch zu einer marktförmigen Strukturierung der Erinnerungskulturen kommt und man etwa unter Gesichtspunkten der Finanzierung von einer (globalen) Wettbewerbssituation im Rahmen von 'public-private-partnerships' ausgehen muss.
 
 
Christoph Mick: "Den Vorvätern zum Ruhm – den Brüdern zur Ermutigung". Variationen zum Thema Grunwald/Tannenberg, in: zeitenblicke 3 (2004), Nr. 1.
 

Die Schlacht bei Tannenberg/Grunwald vom 15. Juli 1410 gehört zu den wichtigsten polnischen Nationalmythen. Der Beitrag beschäftigt sich mit dem Grunwaldmythos, der nach 1870 einen enormen Bedeutungsgewinn erfuhr und zu einem beliebten Sujet der polnischen Malerei und Literatur wurde. Inszenierung und Funktionen der Fünfhundertjahrfeiern werden diskutiert, die vom 15.-17. Juli 1910 in Krakau stattfanden. 150.000 Menschen nahmen an dieser Feier teil und machten sie damit zur größten nationalen Kundgebung im geteilten Polen überhaupt. Diese Feiern wurden selbst zu einem Erinnerungsort und zu einem Bezugspunkt von Jubiläumsfeiern. In Deutschland wurde der Sieg über die russischen Truppen bei Tannenberg im August 1914 mit der Schlacht von 1410 verknüpft. Der Sieg von 1914 spielte eine wichtige Rolle im Hindenburgkult, und das Nationaldenkmal Tannenberg wurde zum Ort großer deutschnationaler und nationalsozialistischer Feiern. Während die Schlacht nach 1945 im deutschen kollektiven Gedächtnis keine Rolle mehr spielte, wurde der Nationalmythos in der Volksrepublik Polen modifiziert und dazu benutzt, das neue Regime in die polnische nationale Tradition einzubinden, das alte Feindbild Deutschland und die Freundschaft mit der Sowjetunion zu befestigen.

 
 
Alice von Plato: "Von Menschen und Göttern verlassene Leichname" – Totenkult im 'Musée des Monuments Français' (1791-1816)?, in: zeitenblicke 3 (2004), Nr. 1.
 
Das 'Musée des Monuments Français' ging 1793 aus der Revolution hervor. Das ehemalige Kloster, in dem enteignete Kirchengüter gelagert wurden, mutierte unter Alexandre Lenoir zu einer chronologisch geordneten Ruhmesstätte der französischen Geschichte. Grabmäler und Monumente erinnern an verschiedene Personen dieser Geschichte – von Héloïse über viele Könige bis hin zu Descartes. Allerdings war das 'Musée des Monuments Français' weniger ein Ort des royalen Totenkults als vielmehr ein Museum, in dem auch die königlichen Grabmäler als Exponate innerhalb der Präsentation der französischen Geschichte fungierten. Daher führte es unter Zeitgenossen zu einer Polarisierung in Anhänger und Gegner: So waren zum Beispiel Michelet und Wilhelm von Humboldt vom 'Musée des Monuments Français' begeistert, während Chateaubriand es strikt ablehnte. Im 'Musée des Monuments Français’ waren die Grabstätten und Skulpturen permanente Zeugnisse der Niederlage des Königtums. In der Restauration wurde das Museum Ende 1816 geschlossen, die königlichen Grabmäler wurden zurück in die Kirche von Saint Denis überführt.
 
 
Helke Rausch: Kultdissenz und umstrittene "Nation": Der Totenkult um die Kommunarden von 1871 in Paris aus vergleichender Perspektive [*], in: zeitenblicke 3 (2004), Nr. 1.
 

Mit der Anbringung einer Marmorplakette am Mur des Fédérés auf dem Pariser Friedhof Père Lachaise 1908 zum Gedenken an die Ermordeten des Communeaufstandes von 1871 endete eine seit den frühen 1880er Jah­ren konfliktbeladene Initiative zum öffentlichen Totenkult. Seine linken Verfechter stilisierten die Kommune zum Referenzpunkt für die emanzipatorisch-egalitäre Nation. Von diesem Deutungsmuster distanzierte sich der regierende 'opportunisme' allerdings energisch. Konfliktträchtig blieb auch die rituelle Praxis des Totengedenkens auf dem Père Lachaise in Form politischer Demonstrationen linker Gruppierungen, die jedoch ihrer heterogenen Struktur wegen über einen punktuellen Protest kaum hinausgelangten. So blieb der Mur des Fédérés ein umstrittener Ort des Totenkults, für seine Verteidiger Symbol einer radikal-sozialistischen Zielutopie, für seine Gegner gleichsam memoriale Bürde bei dem Versuch, die Commune aus dem Gedächtnisvorrat der französischen Nation zu verbannen. Im Vergleich mit den erfolglosen Kultversuchen um die Märztoten in Berlin seit den 1880er Jahren tritt einmal mehr zutage, dass der politisierte Totenkult programmatisch wie rituell-symbolisch als Vehikel für den Entwurf nationaler Geschichtsbilder dienen konnte.

 
 
Frank Renken: Der Kampf um den 19. März: Zur gesellschaftlichen Auseinandersetzung um das Totengedenken der Algerienkriegsveteranen in Frankreich, in: zeitenblicke 3 (2004), Nr. 1.
 

Der Beitrag behandelt die Entwicklung der geschichtspolitischen Auseinandersetzungen um den 19. März, den die 'Fédération Nationale des Anciens Combattants en Algérie, Maroc, Tunisie' ( FNACA) als führender Verband der französischen Algerienkriegsveteranen zum Totengedenktag für ihre zwischen 1954 und 1962 gefallenen Kameraden erklärt hat. Der 19. März 1962 steht als Tag des Waffenstillstandes zwischen der französischen Kolonialarmee und der algerischen Nationalen Befreiungsbewegung FLN ('Front de Libération Nationale') für den Frieden in Algerien. Ihm haftet zugleich der Geruch der Kapitulation vor den 'Rebellen' an, da er den Prozess einleitete, der zur Unabhängigkeit Algeriens führte. Die verschiedenen Regierungen der Fünften Republik weigerten sich beharrlich, den 19. März als Feiertag anzuerkennen, da er als Datum zur Aussöhnung der im Algerienkrieg zerrissenen Nation nicht geeignet sei. Stattdessen wurden die von der FNACA organisierten Gedenkaktivitäten seit den 1970er Jahren regelmäßig zur Zielscheibe polemischer Angriffe aus dem Lager jener rechten politischen Kräfte, die weiterhin das Erbe des französischen Kolonialismus in Algerien verteidigten.

 
 
Natalie Scholz: "Quel spectacle" — Der Tod des Herzogs von Berry und seine melodramatische Bewältigung, in: zeitenblicke 3 (2004), Nr. 1.
 

Das Attentat auf den Herzog von Berry bedeutete eine Zerreißprobe für das labile Gleichgewicht der französischen Restauration und ließ die virulenten politischen Gegensätze in offene Konflikte ausbrechen. Doch der Tod Berrys war auch eines der großen Medienereignisse der Epoche. Druckgraphiken, Oden und Zeitungsartikel schilderten das Sterben des Herzogs in einem melodramatischen Stil. Die These des Aufsatzes ist, dass diese auf emotionale Identifikation angelegte Darstellungsweise des Ereignisses nicht nur quer zu den politischen Kämpfen lag, sondern auch ein integratives Potential entfaltete, indem sie den Akt der Aggression gegen die Monarchie hinter die Gefühle der beteiligten Personen zurücktreten ließ. Die offizielle Repräsentation der Monarchie war in dem erinnerungspolitischen Dilemma gefangen, der königlichen Opfer revolutionär motivierter Verbrechen gedenken zu müssen, zugleich aber die politische Angreifbarkeit der Monarchie vergessen machen zu wollen. Demgegenüber zeigt die mediale Verarbeitung des Attentats, dass es andere Möglichkeiten monarchischer Selbstinszenierung gegeben hätte, welche dieses Dilemma in den Hintergrund zu drängen vermochten.

 
 
Winfried Speitkamp: Der Totenkult um die Kolonialheroen des Deutschen Kaiserreichs, in: zeitenblicke 3 (2004), Nr. 1.
 
Der Tod der deutschen Kolonialpioniere stellte dem Anschein nach ein ideales Feld nationaler Identifikation dar. Die Männer der ersten Stunde hatten afrikanisches Territorium gegen die Unbilden der Natur und die Widerstände der einheimischen Bevölkerung in Besitz genommen. Die Erinnerung an die toten Helden konnte daher sinnfällige Mythen nationaler Erfolgsgeschichte bereitstellen.
Der Beitrag überprüft am Beispiel der beiden zeitgenössisch bei weitem bekanntesten deutschen Kolonialpioniere Hermann von Wissmann und Carl Peters, welche Formen und Funktionen der Totenkult um die Kolonialheroen des Kaiserreichs hatte. Beisetzungsfeiern, Nachrufe, Denkmäler und Nachwirkungen werden betrachtet, bevor abschließend vergleichende allgemeinere Schlussfolgerungen gezogen werden.
Dabei zeigt sich, dass die Ehrung der Kolonialhelden allenfalls oberflächlich zur nationalen Integration beitrug. Vielmehr wurde der Kult um die Kolonialpioniere, der schon zu Zeiten des Kaiserreichs vor allem auf die Kolonialbewegung selbst zurückging und vom Reich nur mit Zurückhaltung unterstützt wurde, zunehmend zur Kritik an der Berliner Politik genutzt. Er diente der Rechtfertigung und Schuldzuweisung. Im Kolonialrevisionismus nach 1918 bestätigt sich dieser Befund.
 
 
Rudolf Speth: Königin Luise von Preußen als Nationalheldin, in: zeitenblicke 3 (2004), Nr. 1.
 

Die nationale Gedächtnispolitik, die nach dem Tod Königin Luises 1810 in Preußen einsetzte, weist einige Besonderheiten auf. Die tote Königin wurde nicht mehr in Formen des monarchischen Totenkultes verehrt. Sie wurde zur Heldin in der Erzählung von der nationalen Befreiung. Die intellektuellen Verfechter des Konzeptes der Volkserhebung sahen im frühen Tod der Königin ein brauchbares Symbol für die Mobilisierung des Volkes. Der Luisenkult und die Opferrhetorik erreichten aber erst im Kaiserreich ihren Höhepunkt. Erst dort wurde der Luisenkult zum festen Bestandteil des kulturellen Gedächtnisses. Luise wurde auch zur weiblichen Ikone der nationalen Bewegung. Die Stiftung des Luisenordens, das Luisenkreuz und die Popularisierung der Luisengeschichte in Volksbüchern trugen dazu bei, die Frauen in die Nation zu inkludieren. Der Luisenkult ist Teil eines politischen Mythos. Politische Mythen sind Narrationen und dienen der Identitätsstiftung und der Mobilisierung des politischen Verbandes. Ihre Wirkung entfalten sie durch Rituale und Reduktion der komplexen Wirklichkeit auf einfache Deutungs- und Handlungsmuster.

 


ZEITENBLICKE ISSN: 1619-0459