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  3 (2004), Nr. 1: Inhalt
Ludger Derenthal
Dada, die Toten und die Überlebenden des Ersten Weltkriegs
Abstract
Dass die Erlebnisse und Erfahrungen des Ersten Weltkrieges von entscheidender Bedeutung für die Entstehung der dadaistischen Revolte waren, ist bekannt. Für die Angriffe auf die Grundlagen der Zivilisation, die den Krieg hervorgebracht hatte, bedienten sich die Dadaisten bei ihren Collage- und Montageverfahren der Versatzstücke des Alten, um es umso radikaler verwerfen zu können. Ob die Dadaisten neben ihrem Protest auch das Gedenken an die Opfer des Krieges in ihren Arbeiten thematisierten, ist Thema dieses Beitrags. Ist es vorstellbar, dass neben der ätzenden Kritik und der Beleidigung der bürgerlichen Gesellschaft eine wie auch immer geartete Form der trauernden Erinnerung an die Toten von ihnen beabsichtigt war? Sicherlich suchten sie dabei andere Formen der Trauer als das in ihren Augen nur verlogene Gedenken der herrschenden Schichten. Ausgewählt wurden für die Untersuchung einige der skandalträchtigsten und öffentlichkeitswirksamsten Ausstellungsbeiträge und Aktionen von Dada Berlin, Köln und Paris.
<1>
Dass die Erlebnisse und Erfahrungen des Ersten Weltkrieges von entscheidender Bedeutung für die Entstehung der dadaistischen Revolte waren, haben nicht zuletzt die Dadaisten selbst immer wieder hervorgehoben. Lange nach dem Zweiten Weltkrieg hat etwa Max Ernst sich zur Entstehung Dadas geäußert und die Bewegung in einen historischen Zusammenhang gestellt: "Dada war ein Ausbruch einer Revolte von Lebensfreude und Wut, war das Resultat der Absurdität, der großen Schweinerei dieses blödsinnigen Krieges. Wir jungen Leute kamen wie betäubt aus dem Krieg zurück, und unsere Empörung musste sich irgendwie Luft machen. Dies geschah ganz natürlich mit Angriffen auf die Grundlagen der Zivilisation, die diesen Krieg herbei geführt hatte, Angriffen auf die Sprache, Syntax, Logik, Literatur, Malerei, usw." [1] Die Angriffe auf die Grundlagen dieser Kultur führten die Dadaisten mit dem Material, das ihnen diese an die Hand gegeben hatte. Ihre Collage- und Montageverfahren bedienten sich der Versatzstücke des Alten, um diese umso radikaler verwerfen zu können.
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Ob die Dadaisten mit ihrem Protest auch der Opfer des Krieges in ihren Arbeiten gedachten, ist die Fragestellung dieses Beitrags. Ist es vorstellbar, dass neben der ätzenden Kritik, der Beleidigung und der Provokation der bürgerlichen Gesellschaft eine – wie auch immer geartete – trauernde Erinnerung an die Toten von den Dadaisten beabsichtigt war? Sicherlich suchten sie dabei andere Formen der Trauer als die in ihren Augen nur verlogenen Gedenkveranstaltungen der herrschenden Schichten, die die pompösen Memorialfeiern nach dem Krieg zur Sicherung ihrer Machtpositionen instrumentalisierten. Ihre eigene Erinnerung an die Toten des Krieges wird, so ist zu vermuten, der Kritik an den Nachkriegsverhältnissen gedient haben.
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Ausgewählt wurden für diese Untersuchung einige der skandalträchtigsten und öffentlichkeitswirksamsten Ausstellungsbeiträge und Aktionen von Dada Berlin, Köln und Paris. Die Dadaisten in Zürich und New York waren zwar nicht unbeeinflusst von den Kriegsereignissen, [2] doch findet sich hier selten ein direkter Reflex auf den Kult um die Toten des Ersten Weltkriegs. Ein Beispiel aus Zürich gegen die Berliner, Kölner und Pariser Aktivitäten sei als Kontrast jedoch erwähnt: Hugo Ball, eines der Gründungsmitglieder des Cabaret Voltaire, der Keimzelle von Dada Zürich, veranstaltete noch vor seinen Dada-Aktivitäten zusammen mit Richard Huelsenbeck einen Gedächtnisabend für gefallene Dichter wie seinen Freund Hans Leybold, ließ ein Couplet mit dem Titel 'Totentanz 1916' in sozialistischen Zeitungen erscheinen und als Separatdruck auf Postkarten verteilen. Es war eine Parodie auf das Dessauer-Marsch-Lied 'So leben wir, so leben wir', die den gemütlichen Frohsinn der Vorlage in bittere Verzweiflung umschlagen ließ: [3]
Totentanz 1916

So sterben wir, so sterben wir
Und sterben alle Tage
Weil es sich so gemütlich sterben läßt.
Morgens noch in Schlaf und Traum
Mittags schon dahin
Abends schon zu unterst im Grabe drin.

Die Schlacht ist unser Freudenhaus
Von Blut ist unsre Sonne
Tot ist unser Zeichen Losungswort.
Kind und Weib verlassen wir
Was gehen sie uns an!
Wenn man sich auf uns nur verlassen kann!

So morden wir, so morden wir
und morden alle Tage
Unsere Kameraden im Totentanz.
Bruder, reck Dich auf vor mir!
Bruder, Deine Brust!
Bruder, der Du fallen und sterben musst.

Wir murren nicht, wir knurren nicht,
Wir schweigen alle Tage
Bis sich vom Gelenk das Hüftbein dreht.
Hart ist unsre Lagerstatt,
Trocken ist unser Brot,
Blutig und besudelt der liebe Gott.

Wir danken Dir, wir danken Dir,
Herr Kaiser für die Gnade,
Dass Du uns zum Sterben erkoren hast,
Schlafe Du, schlaf sanft und still,
Bis Dich auferweckt
Unser armer Leib, den der Rasen deckt.
<4>
Hier wird noch der Schuldige für das Schlachten, "Herr Kaiser", genannt, und auch die eigene Verstrickung wird nicht verschwiegen. Doch bleibt Ball hier den Konventionen und Sprachformen des herkömmlichen Kabaretts verhaftet und wagt noch nicht den radikalen Protest. Wenige Monate später dann ist Dada begründet, und Ball trägt im Cabaret Voltaire auf einem Dada-Abend seine 'totenklage' vor: [4]
totenklage
ombula
take biti
solunkola
tabla tokta tokta takabla
taka tak
tabubu m'balam
tak tru-ü
wo-um
biba bimbel
o kla o auw
kla o auwa
kla-auma
o kl o ü
kla o auma
klinga-o-e-auwa
ome o-auwa
klinga inga M ao-Auwa
omba dij omuff pomo-auwa
tru-ü
tro-u-ü o-a-o-ü
mo-auwa
gomum guma zangaga gago blagaga
szagaglugi m ba-o-auma
szaga szago
szaga la m'blama
bschigi bschigo
bschigi bschigi
bschiggo bschiggo
goggo goggo ogoggo
a-o-auma
<5>
Balls "bruitistische Negermusiken", wie er sie selber nannte, sind deutlich von den futuristischen Lautgedichten inspiriert; doch wenn Marinetti in euphorischer Kriegsbegeisterung noch das Rattern der Maschinengewehre zu imitieren sucht, so scheinen sich Balls Produktionen eher dem Krieg zu widersetzen, sich der grausamen Realität gegenüber zu verweigern: "Sie wollen nicht Teil einer nationalen Sprache sein, die sich in den Dienst des Krieges stellt, und sie wollen die provozieren, die gewohnte Erwartungen an die Kunst stellen." [5] Nach Balls Tagebucheinträgen waren die Cabaret-Abende "eine Buffonade und eine Totenmesse zugleich", ein Kampf "gegen die Agonie und den Todestaumel der Zeit". [6]
Dada Berlin

<6>
Um 1920 waren die Dadaisten in Berlin politisch sehr viel eindeutiger engagiert als die von Ausweisung bedrohten Kollegen in der neutralen Schweiz. Als anarchistisch oder auch spartakistisch orientierte Parteigänger der extremen Linken attackierten sie das Bündnis von Sozialdemokratie und Reichswehr zur Niederschlagung der räterepublikanischen Bewegungen ebenso wie die Nachsichtigkeit der Regierung gegenüber rechten Putschversuchen und Verschwörungen. Das ganze behäbige und selbstgerechte bürgerliche Milieu wird von ihnen mit so satirischen wie zynischen Kunstaktionen entlarvt. Ihre Kritik ist formal wie inhaltlich rücksichtslos und radikal. Sie steht, etwa bei John Heartfield, am Beginn einer überaus erfolgreichen Karriere als Fotomonteur für Zeitschriften wie die 'Arbeiter Illustrierte Zeitung' und Verlage wie den Malik-Verlag. Eine frühe, ebenso einfache wie effektvolle Montage aus prädadaistischer Zeit mit dem Titel 'So sieht der Heldentod aus' (Abb. 1) arbeitet mit der gleichen Gegenüberstellung von Schrift und Bild wie eine Montage aus dem Jahrbuch des Malik-Verlages 'Platz dem Arbeiter' (Abb. 2) von 1924. Hier wie dort macht der Bildkommentar aus den Knipser- und Pressefotos scharfe Waffen der Gesellschaftskritik. Aus der desillusionierenden Realitätserfahrung erwächst ganz unmittelbar der satirische Kommentar, der für den einfachen Soldaten Partei nimmt, sein von der Propaganda verherrlichtes 'Opfer' in seiner ganzen Erbärmlichkeit zeigt und wirkungsvoll mit den pompösen Riten für die höheren Chargen kontrastiert.

 
Abb. 1
Abb. 2

<7>
Die Arbeiten für Dada im engeren Sinne stellten sich aggressiv gegen die bürgerlichen Wertvorstellungen wie aber auch deren ästhetische Konventionen. Dies lässt sich insbesondere an der letzten großen öffentlichen Aktion der Berliner Dadaisten, der 1. Internationalen Dada-Messe ablesen. Die Messe fand vom 30. Juni bis zum 25. August 1920 in der Kunsthandlung Dr. Otto Burchard am Lützowufer 13 statt, zog zahlreiche empörte Pressereaktionen auf sich und hatte sogar einen Prozess wegen Beleidigung der Reichswehr zur Folge. Die Organisation der Ausstellung lag in den Händen der drei aktivsten Mitglieder des 'Club Dada', George Grosz, Raoul Hausmann und John Heartfield. Die Messe war in erster Linie eine Berliner Veranstaltung, an der einige Gäste aus dem In- und Ausland teilnahmen. Dank eines großformatigen Katalogfaltblatts, einiger Fotografien, der Rezensionen und der Erinnerungsliteratur ist die Ausstellung gut dokumentiert. (Abb. 3) Auf den mit Bildern geradezu gepflasterten Wänden dominieren großformatige Ölgemälde, Fotografien und Collagen neben den Schriftplakaten mit beißend ironischen Sinnsprüchen.

Abb. 3

<8>
"Die Dada-Messe", so schreibt Helen Adkins, "war ein Manifest, sie zeigte nicht nur Werke, sondern einen Gesamtzusammenhang, die Hängung war mit Witz und System gemacht. Ihr Anliegen war es, die zeitgenössische Wirklichkeit darzustellen. Nicht eine weitere Kunstrichtung sollte eingeführt, sondern die Institution 'Kunst' mit einer aus dem Leben gegriffenen Collage in Frage gestellt werden. Die krasse Opposition gegen die politische Führung der Weimarer Republik vereinigte sich mit der Bloßstellung des bürgerlichen Spießers und seiner realitätsfremden Begriffswelt." [7] Dieses Anliegen wollten nur wenige zeitgenössische Rezensenten der Messe teilen. Nur der mit der Bewegung sympathisierende Adolf Behne schrieb: "Dada zeigt die Welt 1920. Viele werden sagen: so scheußlich sei sie selbst 1920 nicht. Es ist so: Der Mensch ist eine Maschine, die Kultur sind Fetzen, die Bildung Dünkel, der Geist ist Brutalität, der Durchschnitt ist Dummheit und Herr das Militär." [8]
<9>
Für die Pressepropaganda wurde eigens ein Fotograf engagiert, der die Eröffnung der Messe mit einer gestellten Aufnahme, die die Dadaisten selbst im Gespräch und in Bewunderung ihrer Werke zeigte, nachinszenierte. Die größten und auffälligsten Arbeiten im Hauptraum waren der Auseinandersetzung mit der Reichswehr gewidmet, das Reichswehr-Ministerium lag schließlich nur wenige hundert Meter vom Ausstellungsort entfernt. Da ist zunächst einmal das großformatige (ca. 165 x 245 cm) Werk '45% Erwerbsfähig!' (Abb. 4) von Otto Dix, der auf der Messe ein einziges Mal als Dadaist auftrat. Ein solches mit traditionellen Mitteln hergestelltes Ölgemälde war nur mit Mühe in der Messe unterzubringen, die der "Ausstellung und [dem] Verkauf dadaistischer Erzeugnisse" gewidmet war. Hier sollten keineswegs Kunstwerke als Kunstwerke gezeigt werden. Dementsprechend wurde das Bild durch Einfügung einer Collage von Grosz mit dem Titel 'Galerie der deutschen Mannesschönheit' aufgebessert. Die Collage führte auf einen Fächer geklebte Fotoporträts der Mitglieder der Regierung Ebert/Scheidemann sowie weitere prominente Politiker und Militärs wie Erzberger und Ludendorff vor. Dix zeigte keinerlei Sympathien mit den Kriegsopfern. Von einem verkrüppelten Unteroffizier angeführt, schleppt sich der drastisch geschilderte kleine Zug der Nervenkranken, Kriegsblinden und Versehrten über das Großstadtpflaster. Im Vergleich mit dem etwa zeitgleich in Frankreich entstandenen Gemälde 'Procession des mutilés de guerre, 14 juillet 1919' (Abb. 5) des gemäßigt modernen Jean Galtier-Boissière fällt der krasse Verismus von Dix, sein Hang zu Karikatur und Überzeichnung der Krüppel besonders ins Auge.

 
Abb. 4
Abb. 5

<10>
Es sind also weniger die Toten des Ersten Weltkrieges als die aus dem Krieg in die Städte zurückgekehrten, mühsam Überlebenden, deren armseliges Leben von den Dadaisten thematisiert wurde. Kaum Mitleid oder Trauer motivieren sie zu ihren Darstellungen, sondern die mit den Kriegskrüppeln sichtbar werdende Diskrepanz zwischen den Versprechungen der Politiker und Militärs und der bedrückenden sozialen Realität. Damit setzte sich auch Raoul Hausmann in seiner Satire 'Prothesenwirtschaft' auseinander, die 1921 in dem Sammelband 'Hurrah! Hurrah! Hurrah!' erschien: "Was 'ne Prothese ist, weiß jedes Kind. Für den gemeinen Mann so notwendig wie früher Berliner Weißbier. So'n Proletenarm oder Bein wirkt erst vornehm, wenn 'ne Prothese dransitzt. Der Prothetiker ist also ein besserer Mensch, sozusagen durch das Verdienst des Weltkriegs klassengehoben. … wem nur Arme oder Beine fehlen, der ist ja noch zu 50 Prozent erwerbsfähig und soll sich selbst durch ehrliche Arbeit ernähren, oder er wird eben, falls er Kommunist ist, ganz einfach aufs Straßenpflaster gesetzt. … und das können wir uns für den neuen großen Krieg merken - wir machen dann prinzipiell nur zwei Kategorien Soldaten: solche, die gleich totgeschossen werden, und die zweite Kategorie, die mit Prothesen beschenkt wird. Mit diesen Leuten schaffen wir dann den Wiederaufbau Deutschlands - jeder Einsichtige fordert deshalb Prothesenwirtschaft statt Rätediktatur." [9]
<11>
Einen Prothetiker montierten auch George Grosz und John Heartfield für die Dada Messe, der rechts in der Aufnahme des Hauptraums der Messe zu sehen ist. Im Katalog findet sich der Titel 'Der wildgewordene Spießer Heartfield (Elektro-mech. Tatlin-Plastik)'. Die Figur ist, wie alle großen Assemblagen, verschollen, doch konnte man sie 1988 anlässlich der Ausstellung 'Stationen der Moderne' im Berliner Martin-Gropius-Bau rekonstruieren. Grosz und Heartfield hatten einer Schneiderpuppe das rechte Bein amputiert und durch eine Stehlampenprothese ersetzt, an die Stelle der Arme traten ein Revolver und eine elektrische Klingel. Auf dem Hals saß eine elektrische Glühlampe; als Geschlechtsteil diente ein gipsernes Gebiss, als 'vagina dentata' die völlige Verkrüppelung des Mannes anzeigend. Dass es sich bei dieser Figur auch um die eines Kriegsheimkehrers handelt, lässt sich an den diversen Applikationen auf der Brust ablesen: Mit dem Buchstaben C und die Ziffer 27 wird dem Krüppel so etwas wie eine Produktionsnummer oder auch eine Regimentszugehörigkeit zugewiesen, auf einem ledernen Dreieck prangten ferner eine abgebrochene Gabel und eine rostige Messerklinge wie auch der Schwarze Adlerorden als Abzeichen; auf dem Hintern war, so wird kolportiert, noch das Eiserne Kreuz angeheftet. Wenn sich eine Deutung dieser Figur, die im Hauptraum der Messe platziert war, auch nicht auf seine Bezüge zum Ersten Weltkrieg beschränken kann - so wäre hier auch noch die offensichtlich nur missverstanden rezipierte Expressionismus-Kritik Wladimir Tatlins wie auch die schon im Titel angedeutete aparte Kombination von Selbstporträt und Spießerkritik mit einzubeziehen - so müsste doch diese "bissige Karikatur des allgegenwärtigen, unverbesserlich militaristischen Kriegskrüppels" [10] im Zusammenhang mit dem im gleichen Raum präsentierten Gemälde von Dix interpretiert werden.
<12>
Dieser Konnex wird umso virulenter mit der Einbeziehung der über den Besuchern schwebenden "Deckenplastik", so die Angabe im Katalog, dem von John Heartfield und Rudolf Schlichter montierten 'Preußischen Erzengel'. Einer in Offiziersuniform mit Mütze und Stiefeln bekleideten Figur war ein Schweinskopf aus Papiermaché aufgesetzt worden, mit einer Bauchbinde verkündete sie "Vom Himmel hoch, da komm ich her", ein herabhängendes Schild gab eine Interpretationshilfe: "Um dieses Kunstwerk vollkommen zu begreifen, exerziere man täglich zwölf Stunden mit vollgepacktem Affen und feldmarschmäßig ausgerüstet auf dem Tempelhoferfeld." Dieser preußische Gabriel verhöhnte Kirche und Militär gleichermaßen, doch fühlte sich nur die Reichswehr bemüßigt, nach wütenden Protesten in der konservativen Presse Beleidigungsklage bei der Ersten Strafkammer am Landgericht Berlin zu erheben. Das Bild, das sich die Dadaisten von den höheren Rängen der Reichswehr machten, wird komplettiert durch die Lithographien-Mappe 'Gott mit uns', die auf dem Umschlag ein Offiziersprachtexemplar zeigt und ebenfalls Bestandteil der Beleidigungsklage war. [11]
<13>
Die Rauminstallation der Messe lässt sich in ihrer Gesamtheit als ein satirisch pointierter Kommentar zu den als verlogen und falsch empfundenen Kompromissen zwischen Politik und Militär lesen. Dabei waren die Kriegsinvaliden, die von den Dadaisten zu Symbolfiguren ihres Protests gemacht wurden, durchaus nicht nur als Sympathieträger eingesetzt worden. Die Menschen, die den Krieg überlebt hatten, waren Versehrte; die Botschaft, die der Engel verkündete, war die des sinnlosen Todes, des Opfers für das Vaterland.
<14>
Und das Töten hörte nach dem Krieg nicht auf. Der nun zum Klassenkampf gewordene Bürgerkrieg löste bei Heartfield oder Grosz nun tatsächlich eine künstlerische Gedenkarbeit aus, die sich ganz auf die Seite der Arbeiter, der verfolgten Spartakisten schlug. Das Blatt 'Feierabend' (Abb. 6) aus 'Gott mit uns' lässt sich auf das brutale Vorgehen rechter Reichswehrverbände bei der Niederschlagung linksrevolutionärer Aufstände beziehen; die Szene möchte man wegen der der Münchner Frauenkirche entlehnten charakteristischen Doppelturmfassade in das nachräterepublikanische Bayern verlegen, doch erinnern die beiden Leichen im Fluss selbstverständlich auch an die berühmten Toten im Landwehrkanal. Die Mappe war ebenso auf der Messe zu sehen wie das mit Collage-Elementen versehene Ölbild eines sonst nicht bekannten Johannes Sokrates Albrecht, eventuell ist das ein Pseudonym von George Grosz. Es trägt den Titel 'Musketier Helmhake auf dem Felde der Ehre gefallen' (Abb. 7). Der eingefügte Spruch des Offiziers lautet "Mistvieh. Ist er noch nicht krepiert". Auch hier wird der Tod der Soldaten im Krieg mit dem Tod der Revolutionäre nach dem Krieg in Verbindung gebracht. Die teilnahmslos dem Schläger zuschauende Krüppelreihe der Veteranen ist das Symbol für das Gefühl der Verlassenheit durch die Arbeiterschaft.

 
Abb. 6
Abb. 7

Dada Köln
<15>
Kommen wir nach Köln. Im April 1920 eröffneten Hans Arp, Johannes Theodor Baargeld und Max Ernst, der harte Kern von Köln-Dada, die Ausstellung 'Dada-Vorfühling' im Brauhaus Winter, nachdem ihnen die Beteiligung an der vorgeblich juryfreien Frühlings-Ausstellung der 'Arbeitsgemeinschaft Kölner Künstler' im Lichthof des Kölner Kunstgewerbemuseums untersagt worden war. Sie suchten aus dem Verbot umso mehr einen Skandal zu schlagen. Der Zugang zur Ausstellung führte durch einen Hof, in dem auch die Pissoirs untergebracht waren; schon am Eingang habe, so erinnerte sich Max Ernst, ein kleines Mädchen im Kommunionskleid gestanden und zotige Gedichte vorgetragen. An einem der Werke hing eine Axt, und die Besucher wurden aufgefordert, ihnen missfallende Arbeiten zu zerstören. Das Aggressionspotential der Exponate war gewaltig. Eine Anzeige führte zur polizeilichen Schließung wegen Betruges, Pornographie und Verletzung der öffentlichen Sicherheit. Allerdings musste die Ausstellung nach einem Tag wieder geöffnet werden, als sich herausstellte, dass der obszöne, anstoßerregende Kunstgegenstand Dürers Kupferstich 'Adam und Eva' gewesen war, dessen Reproduktion Max Ernst an eine Skulptur geheftet hatte.
<16>
Diese Skulptur war eine Assemblage aus Hutpressformen - der Schwiegervater von Max Ernst besaß eine Hutfabrik -, Hutschachteln und gedrechselten Balustern, die auf einer dreibeinigen Staffelei zu einem lebensgroßen Hampelmann montiert wurden. [12] Sie trug den Titel 'Ein lustgreis vor gewehr schützt die museale frühlingstoilette vor dadaistischen eingriffen (l'état c'est MOI!)' (Abb. 8) und war zunächst einmal eine exorbitante Karikatur des Direktors des Kölner Kunstgewerbemuseums, der die Teilnahme der Dadaisten an der Ausstellung in seinem Museum durch persönlichen Eingriff verhindert hatte. Im Katalog als die einzige 'Monumentalplastik' der Ausstellung charakterisiert, war sie keine reine Gelegenheitsarbeit. [13] Bei der einzigen erhaltenen Fotografie des 'Lustgreises' lässt sich der Dürer'sche Stich nicht mehr erkennen, ebenfalls fehlt eine weitere, von Max Ernst in einem Gespräch erwähnte Zutat. Unter dem deutlich hervorragenden Geschlechtsteil hing in der Ausstellung noch ein Servierbrett, über das rote Farbe gegossen war. [14] Auch hier ist, wie bei dem 'Preußischen Erzengel' von Heartfield und Schlichter, ein durch den Krieg deformierter Krüppel zu sehen. Seine aggressive Sexualität, quasi im Gegenbild zum Geschlechtswandel bei 'Der wildgewordene Spießer Heartfield', wird zum Kennzeichen des eigenen Zerstörungstriebes, eher Vergewaltigung als eigene Verletzung andeutend. Dass er bereit ist, die alte Ordnung mit dem Gewehr vor dadaistischen Angriffen zu verteidigen, macht ihn zum idealen Ziel des Spotts und der Verachtung. Wie der Offizier mit dem Schweinekopf ist er nur ein aufgeblasener Popanz.

Abb. 8

<17>
Etwa gleichzeitig machte Max Ernst zahlreiche Fotocollagen, für die eine direkte Bezugnahme auf den Ersten Weltkrieg nachgewiesen werden konnte. [15] Das Collagematerial selbst entstammt Publikationen aus der Kriegszeit und hat den Krieg zum Thema. Max Ernst fand die Vorlagen in den während des Krieges publizierten Broschüren eines Luftwaffenoffiziers, Georg Karl Neumann, die reine Propagandahefte für die deutsche Luftkriegsführung waren. [16]
<18>
'Le massacre des Innocents' (Abb. 9) hat eine mit einem Flugzeug gemachte Luftaufnahme zur Grundlage; sie zeigt die Stadt Soissons aus 2700 Meter Höhe (Abb. 10). Da Max Ernst die Collage in einem komplizierten Ablauf anfertigte, sei eine Rekonstruktion des Herstellungsprozesses angedeutet. Das Bild aus dem Luftfahrtbuch diente als Fond für einige aufgeklebte Fragmente wie die Gebäudefassaden und die Aktentasche in der linken unteren Ecke. Das Fluggeschöpf in der linken oberen Ecke entstand aus der Kombination des Verkündigungsengels aus der 'Anbetung des Kindes' (Abb. 11) von Stephan Lochner mit einer Säulenreihe und einem Lilienthal'schen Gleitflieger aus dem 'Deutschen Kriegsflugwesen' (Abb. 12). Von dieser Collage wurde eine photographische Vergrößerung hergestellt, auch um die Klebekanten und damit den Herstellungsprozess zu verwischen. Andererseits war aber erst jetzt die Einfügung der drei Schablonenmänner möglich. Max Ernst entnahm die Schablone einem Lehrmittelkatalog, der die wichtigste Materialquelle seiner Dadajahre war (Abb. 13). Kräftige Farbakzente wie der nachtblaue Himmel oder die gelb- und rosafarbenen Streifen auf den Fassaden sorgen für eine weitere Verunklärung der Ausgangssituation. Das Fluggeschöpf wird mit grüner Farbe gekennzeichnet.

Abb. 9
Abb. 10
Abb. 11
Abb. 12
Abb. 13
<19>
Für kaum eine andere Dada-Arbeit Max Ernsts wurde so oft wie für 'Le massacre des Innocents' ein Zusammenhang zu den Kriegserlebnissen im Ersten Weltkrieg postuliert. [17] Dabei bietet sie kein naturgetreues Bild von den Kriegshandlungen, gibt keine durchgehende Perspektive dem Auge Halt. Das Chaos des Krieges scheint explosionsartig auf die desolate Bildsituation durchgeschlagen zu haben. Die Luftaufnahme ist nur bei genauer Untersuchung der Collage zu identifizieren; Max Ernst hat mit Tusche einige Straßenverläufe und Details übermalt und das Bild nach oben hin abschattiert. Ihn interessierte das Luftbild wohl in erster Linie wegen der nachtdunklen und bedrohlichen Stimmung. Die darüber gelegten fragmentierten monotonen Häuserfassaden sind durch die Drehung um 90 Grad aus der Ordnung gebracht, reichen gleich Eisenbahnschienen in die Tiefe oder könnten dem Flugwesen als Landebahn dienen. [18] Dieses komplexe Geschöpf ist aus der Kombination von Engel und technischem Fluggerät entstanden. Die Bedrohung durch das Flugwesen zwingt die Menschenschemen, aus dem Zentrum des Bildes zu flüchten. Das im Bildtitel angekündigte Verbrechen wird nicht vorgezeigt; erst die Zusammenfügung der zahlreichen, von Max Ernst gegebenen Hinweise und Angebote in einer von Aragon 1923 beschriebenen "sorte de collage intellectuel" [19] erlaubt es, diese Arbeit mit der Erfahrung des Ersten Weltkrieges in Verbindung zu bringen. Es ist in Motiv und Darstellung ein ausgefeiltes Bild für die nicht kontrollierbare Bedrohung durch die Todeswalze der Kriegstechnik, wie Max Ernst sie auch in zahlreichen Briefen an die Eltern in den Kriegsjahren schilderte.
<20>
Nach dem Krieg entwirft Max Ernst wie die Berliner Dadaisten ein neues Bild vom Menschen: 'die anatomie' (Abb. 14) zeigt eine kahlköpfige, sezierte Person; puppenhaft steif liegt sie auf einer wannenartigen Bahre. Ihr Kopf hängt im Bildvordergrund über den Rand der Wanne hinaus, die geschlossenen Augen lassen sie eher tot als schlafend erscheinen. Das Ergebnis der anatomischen Sektion ist die Enthüllung ihrer zahlreichen Prothesen und künstlichen Organe. Der Kopf ist halbseitig armiert, in den offenen Hals ist eine künstliche Luftröhre eingesetzt. Auch sind Partien des Leibes, die nur wenige Röhren durchziehen, aufgeklappt worden. Der rechte Arm vollführt eine hölzerne Geste, aus dem linken Armstumpf ragt ein kümmerliches Rohrende. Der Rumpf endet in einem gespickten und mit Metallplatten gepanzerten, mit der Wanne verbundenen Annex, die so im unteren Abschnitt integraler Bestandteil der Prothesenkonstruktion geworden ist. Im Vergleich mit den drastisch karikierten Kriegsverletzten von Otto Dix stellt Max Ernst sein Bild vom Menschen in 'die anatomie' nüchtern und kalt vor.

Abb. 14

<21>
Er konnte sich wieder einer Abbildung aus dem 'Deutschen Kriegsflugwesen' bedienen. Nur wenig hat er zu dieser Photographie eines Cockpits in einem französischen Doppeldecker (Abb. 15) hinzufügen müssen. Kopf, Schulterpartien und der rechte Arm sind eingeklebt worden, außerdem deckte Max Ernst eine Partie hinter dem Führersitz ab. Alle prothetischen, mechanischen Komponenten des neuen Menschen aber konnte er unverändert übernehmen. Das Zielfernrohr eines Maschinengewehrs wird zur Luftröhre, die Führungsschiene des Maschinengewehrs zum Armhaken, der Steuergriff zum Gedärm, der Flugzeugmotor zum Rumpfersatz. Durch Einzeichnung eines fernen Berghorizonts wird die enorme Verkürzung der Perspektive evoziert. Die Abbildung aus dem 'Kriegsflugwesen' ist gleichzeitig Fond und reichhaltige Motivquelle. Ein Bild, das die für den Krieg entwickelten technischen Errungenschaften demonstrieren sollte, wird von Max Ernst in ein Bild vom im Krieg durch diese mörderischen Errungenschaften versehrten Menschen umfunktioniert.

Abb. 15

<22>
Die Angriffe auf die Grundlagen der wilhelminischen Zivilisation führte Max Ernst, wie bereits angedeutet, mit dem Material, das ihm diese an die Hand gegeben hatte. Die Photocollagen entstehen aus den Büchern, die das Rüstzeug des Untergangs dieser Zivilisation vorstellen. Der Krieg ist in den Flugzeugbüchern von Neumann ohne Grauen. Die kalte Technik, ihre beschleunigte Entwicklung im Krieg, die Präzision der todbringenden Maschinen wird dokumentiert. Max Ernst bedient sich dieser leidenschaftslosen Darstellung der Kriegstechnik und legt sie seinen Bildern zu Grunde. Die Einsatzformen und -möglichkeiten der Technik im Krieg sind für ihn sichtbarer Ausdruck für das Versagen der gesellschaftlichen Strukturen. Durch die Überlagerung der Bilder der Kriegstechnik mit anderen Elementen oder ihre Zusammensetzung zu neuen Bildern wird die dem Material innewohnende Plausibilität zerstört, ohne dass damit die Herkunft des Materials und damit die implizit formulierte Kritik verschleiert würde. Max Ernst zieht das Material in sein Bilderreich, das Dada-Reich, hinüber und verwandelt es.
Dada Paris
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Gehen wir zum Abschluss nach Paris. Dada war erst im Herbst 1919 nach Paris gekommen. Der Aufstand der sich bei der Zeitschrift 'Littérature' sammelnden jungen Literaten Louis Aragon, André Breton, Paul Eluard und Philippe Soupault und ihrer Freunde hatte sich zunächst gegen die blasierte Pariser Schriftstellerszene gerichtet, die trotz des Krieges sich weiter mehr um ihre eigenen ästhetischen Probleme als um eine schriftstellerische Auseinandersetzung mit der so radikal veränderten gesellschaftlichen Realität sorgte. Erst mit der Ankunft des Zürcher Dadaisten Tristan Tzara traten die Pariser Kollegen auch an eine größere Öffentlichkeit, suchten fortan Provokationen und Skandale. Dabei war Tzara nicht der Mann für politische Provokationen. Sein Talent, das Publikum oft bis zur Weißglut zu reizen, spielte er in Theatercoups und Kabarettsoireen aus.
<24>
André Breton war im September 1919 aus der Armee entlassen worden - er hatte als Assistenzarzt im Militärhospital Val-de-Grace seinen Dienst abgeleistet. Aragon war im Krieg ebenfalls Sanitäter gewesen, Eluard hatte als Infanterist gedient. So waren die Dadaisten direkt mit dem Tod, mit Nervenkranken und Verletzten konfrontiert worden. Und dafür suchten sie Schuldige, die öffentlich zur Rechenschaft gezogen werden sollten.
<25>
Bei den Veranstaltungen Tzaras hatten Breton und seine Freunde Bühnenerfahrung sammeln können, ihr Talent zur Publikumsbeschimpfung entdeckt. Nun, gegen Ende der Pariser Dadazeit, im Frühjahr 1921, sollte der Bewegung eine Stoßrichtung gegeben werden. Ihr Opfer sollte der damals überaus populäre Schriftsteller Maurice Barrès sein. Anders als für Tzara erlaubte die Dada-Revolte der Pariser Gruppe keineswegs grenzenlosen Nihilismus. Barrès wurde der Verrat an seinen ursprünglichen Idealen vorgeworfen. Mit Büchern wie 'Un homme libre' und 'L'ennemi des lois' hatte er sich zu Beginn des Jahrhunderts zum Sprecher einer anarchistisch gesonnenen Jugend gemacht, während des Krieges schwenkte er allerdings um zu nationalistischen Schmähreden, suchte als Präsident der Liga der Patrioten Vergeltung an den Deutschen. Man dürfe sich, so Breton, nur in eine Richtung wenden, hin zur Freiheit, dürfe sich nicht in die Fesseln des Nationalismus werfen. Jean Guéhenno nannte Barrès in 'La mort des autres' einen "crieur publique du massacre", [20] er betrieb einen Kult der Toten und der heiligen französischen Erde, die es gegenüber den barbarischen Ausländern zu verteidigen galt.
<26>
Das Tribunal kam am 13. Mai 1921 um 9 Uhr 30 in der Salle der Sociétés savantes, rue Serpente, vor vollbesetzten Publikumsrängen zusammen (Abb. 16 und 17). Zuvor war der Angeklagte vor den Untersuchungsausschuss bestellt worden, dieser flüchtete jedoch unmittelbar zuvor aus Paris Richtung Metz und Aix-en-Provence. Barrès wird es recht gewesen sein, dass ihn Geschäfte im Mai fern der Hauptstadt hielten. In Aix präsidierte er einem Bankett und hielt passenderweise eine Rede zum Thema 'Die Seele Frankreichs während des Krieges'. Die Anklage lautete auf "attentat à la sûreté de l'esprit". Der Prozess wurde sorgfältig vorbereitet, Ausflüge in den Palais de la Justice dienten dazu, sich mit den Formen einer Gerichtsverhandlung vertraut zu machen, potentielle Zeugen der Verteidigung wie Maxime Brienne von der 'Action française' wurden - wenn auch vergeblich - geladen. Selbst die Aussage eines alten Kommunarden, eines Arbeiter-Dichters, der den Surrealisten über Rimbaud, als dem radikalen Gegenbild zu Barrès berichten sollte, wurde erwogen. An die Stelle Barrès' trat eine in Abendanzug gekleidete Schaufensterpuppe, die mit seinem charakteristischen Schnurbart versehen worden war. Das Tribunal hatte sich durch Ausstaffierung mit Arztkitteln und Richterhüten Autorität und Würde verliehen. Überhaupt war die Atmosphäre der Veranstaltung sehr viel seriöser und langweiliger, als es das auf Vergnügung und Satire eingestellte Publikum erwartet hatte. Zeugenaussage folgte nach strengen Regeln auf Zeugenaussage. Einzig Tzara bezweifelte die Rechtmäßigkeit eines Dadatribunals: "Ich habe überhaupt kein Vertrauen in die Justiz, selbst dann nicht, wenn diese Justiz von Dada gemacht ist. Herr Gerichtspräsident, Sie werden mit mir darin übereinstimmen, daß wir alle nur ein Haufen Mistkerle sind und daß folglich die kleinen Unterschiede, größere Mistkerle, kleinere Mistkerle keinerlei Bedeutung haben." Im Anschluss stimmte er ein Dadalied an. [21]

 
Abb. 16
Abb. 17

<27>
Für unsere Argumentation wichtig war vor allem der Auftritt des gerade zur Gruppe gestoßenen Benjamin Péret in der Rolle des unbekannten deutschen Soldaten. Péret trat in der Uniform eines einfachen Gefreiten mit einer Gasmaske auf. Seine auf deutsch gemachte Zeugenaussage wurde zwar protokolliert, doch bei der Veröffentlichung in 'Littérature' aus den Fahnen herausgestrichen: "L'Accusateur: Sie verstehen nicht? R.: Nein. Ich bin kaputt. (Il se met au garde-à-vous.) L'Accusateur: Raus! (Il se retire au pas de parade)." [22] Das aufgebrachte Publikum intonierte im wütenden Protest die Marseillaise, und einige Besucher wollten die Bühne erstürmen. Die im Text der Marseillaise verkündete heroische Bewahrung der französischen Erde vor der Befleckung durch den verderbnisbringenden Feind zeigt die Stoßrichtung der Publikumsreaktion auf. Danach war der Rest der Veranstaltung kaum noch zu hören: Plädoyers und Urteil der Jury gingen im Tumult unter. Barrès wurde zu zwanzig Jahren Zwangsarbeit verurteilt.
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Hier haben wir wie bei den Berlinern wieder den Auftritt des einfachen Soldaten, diesmal noch dazu aus den Reihen des Feindes, der als Spielball der herrschenden Klassen im Krieg kaputt gemacht wurde. Ihm galt durchaus auch das Mitgefühl der Pariser Dadaisten. Geradezu widerwärtig war ihnen jedoch das offizielle Trauerspektakel, das die Militärs um den Unbekannten Soldaten inszenierten. Am 14. Juli 1919 fand eine erste Siegesfeier auf den Champs Elysées statt mit einer Parade der Kriegsinvaliden, den siegreichen Truppen, die von den Marschällen Foch und Joffre angeführt wurden. [23] (Abb. 18) Das Grabmal des Unbekannten Soldaten wurde dann am 11. November 1920, also nur wenige Monate vor dem Prozess Barrès unter dem Arc de Triomphe geweiht. Die Überreste des aus den Gräberfeldern bei Verdun exhumierten Unbekannten wurden gemeinsam mit dem Herzen Léon Gambettas, das in das Panthéon überführt werden sollte, vor großen Zuschauermassen durch die Stadt getragen. Der Ort war erst drei Tage vor der Zeremonie nach einer Debatte in der Nationalversammlung bestimmt worden.

Abb. 18

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Es ist kein Wunder, dass der so in den Augen der Dadaisten missbrauchte Unbekannte Soldat in einer in 'Littérature' veröffentlichten "Liquidationsliste", mit der sie ihre Vorlieben und Abneigungen bekanntgaben, neben Anatole France und dem Marschall Foch die schlechtesten Noten erhielt. [24] Noch 1952, in seinen Radiogesprächen mit André Parinaud, sprach André Breton von dem "Gefühl der Sinnlosigkeit so vieler geopferter Leben", das eine große Wut bei den Kriegsheimkehrern ausgelöst habe. Für ihn hielten sich die kriegsbestimmenden Kräfte mit Hilfe des Gedenkens an der Macht, "in einem Zeremoniell finsterster Not, das endlose Enthüllungen von Denkmälern für die Toten vorsah, bis zum heutigen Tag Zeugen eines Zeitalters des Vandalismus, sowie im Kult, den man in Paris an der Place de l'Etoile um den 'unbekannten' Soldaten trieb…" [25]
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Die Provokation während des Prozess Barrès bestand daher weniger in der Anklage gegen den Schriftsteller als Symbolfigur (auch wenn sich Breton und seine Freunde für die intellektuelle Begründung der Anklage sehr viel Mühe gaben) als im Auftritt des unbekannten deutschen Soldaten. Die Reaktionen der Presse bezeugen dies. So hieß es in der 'Comœdia' vom 15. Mai: "Ce fut une manifestation piteuse, grotesque, odieuse même par l'introduction dans cette mascarade sans gaieté, du symbole que le Soldat inconnu représente pour l'immense majorité des Français." Und in 'La Liberté' vom 16. Mai: "Une chienlit grotesque, stupide et indécente a eu lieu l'autre soir à Paris … L'évocation odieuse, ignoble, du Soldat inconnu dépassait toute mesure." Die Zeitung 'Aux Ecoutes' vom 22. Mai brachte den Skandal mit ihrer Schlagzeile auf den Punkt, sie nannte die Veranstaltung "La profanation". [26] Und genau diese Entweihung des in ihren Augen hohlen und falschen Gedenkens war es, auf die es die Dadaisten in Berlin, Köln und Zürich mit ihren Aktionen und Kunstwerken abgesehen hatten. Dazu bedienten sie sich der Kriegskrüppel und der Kriegstoten, die mit den Puppen und Maskeraden zum drastischen Kampfmittel ihrer Gegenpropaganda instrumentalisiert wurden. Dass sie dabei um die Opfer des Krieges auch trauerten, wurde nicht öffentlich gemacht und bleibt demgegenüber im Rückblick von sekundärer Bedeutung.
Anmerkungen
[1] Max Ernst in dem Film von Carl Lamb / Peter Schamoni: Max Ernst - Entdeckungsfahrten ins Unbewußte, BRD 1963. Bei der Wiedergabe des Zitats in Peter Schamoni: Max Ernst - Maximiliana. Die widerrechtliche Ausübung der Astronomie. Hommage à Dorothea Tanning, München 1974, 13, wurde zwischen "Syntax" und "Logik" noch die "Religion" eingefügt.
[2] Vgl. Rudolf E. Kuenzli: Dada gegen den Ersten Weltkrieg. Die Dadaisten in Zürich, in: Wolfgang Paulsen / Helmut Hermann (Hg.): Sinn aus Unsinn, Bern 1982, 87-100; Amelia Jones: Equivocal Masculinity. New York Dada in the Context of World War I, in: Art History 25 (April 2002)/ 2, 162-205.
[3] Ernst Teubner: Hugo Ball. 1886 1986. Leben und Werk (Kat. Wasgauhalle Pirmasens), Berlin 1986, 128f. zum 'Totentanz', 115 zur Gedächtnisfeier.
[4] Erstmals abgedruckt in: De Stijl 7 (1928)/ 85/86, 100f.
[5] Harald Henzler: Literatur an der Grenze zum Spiel. Eine Untersuchung zu Robert Walser, Hugo Ball und Kurt Schwitters (= Epistemata. Reihe Literaturwissenschaft, Bd. 93; Diss. München 1991), Würzburg 1992, 72. Vgl. ebd., 93-95 die Bemerkungen zu dem 1914-1921 entstandenen 'Tenderenda der Phantast' und den Reflexen auf den Krieg.
[6] Hugo Ball: Die Flucht aus der Zeit, München und Leipzig 1927, 84, 99.
[7] Helen Adkins: Erste Internationale Dada-Messe, in: Jörn Merkert (Vw.): Stationen der Moderne. Die bedeutenden Kunstausstellungen des 20. Jahrhunderts in Deutschland (Kat. Berlinische Galerie 1988), 4. Aufl., Berlin 1989, 156-183, hier: 158. Siehe zur Ausstellung auch: Hanne Bergius: Montage und Metamechanik. Dada Berlin - Artistik von Polaritäten, Berlin 2000, 233-303 und 349-414.
[8] Adolf Behne: Dada, in: Die Freiheit, 9. Juli 1920, zit. nach Rosamunde Neugebauer Gräfin von der Schulenburg: George Grosz. Macht und Ohnmacht satirischer Kunst. Die Graphikfolgen Gott mit uns, Ecce homo und Hintergrund, Berlin 1993, (= Phil. Diss. Heidelberg 1990), 54.
[9] Zit. nach Michael Erlhoff (Hg.): Raoul Hausmann. Bilanz der Feierlichkeit. Texte bis 1933, Bd.1, München 1982, 137f.
[10] Adkins, Dada-Messe, 159.
[11] Die Anzeige wurde von Reichswehrminister Otto Geßler erstattet. Ein Hauptmann Matthäi war als Zeuge geladen, weil er die Ausstellung besucht hatte. Die mündliche Verhandlung fand am 20. April 1921 statt. Grosz und Heartfield bestritten entschieden, die Absicht der Beleidigung der Reichswehr gehabt zu haben. Baader, Burchhard und Schlichter wurden freigesprochen, Grosz wurden 300 Mark, Heartfield 600 Mark Buße auferlegt, wobei wohl eher die Mappe als die Skulptur als Beleidigung gewertet wurde. Kurt Tucholsky, der von der Ausstellung wenig begeistert war, schrieb jedoch voller Bewunderung im Berliner Tageblatt vom 20. Juli 1920.: "Wenn Zeichnungen töten könnten: das preußische Militär wäre sicherlich tot. (Zeichnungen können übrigens töten.) Seine Mappe 'Gott mit uns' sollte auf keinem gut bürgerlichen Familientisch fehlen - seine Fratzen der Majore und Sergeanten sind infernalischer Wirklichkeitsspuk. Er allein ist Sturm und Drang, Randal, Hohn und - wie selten -: Revolution." Zit. nach: Hanne Bergius / Karl Riha (Hg.): Dada Berlin. Texte Manifeste Aktionen, Stuttgart 1977, 125f, hier: 126. Ebd., 127-129 Tucholskys Bericht vom Prozess für die 'Weltbühne'. Vgl. ferner Neugebauer: Grosz, 73-78, 211-213.
[12] Vgl. die Beschreibungen von Jürgen Pech: Mythologie und Mathematik. Zum plastischen Werk von Max Ernst, in: Max Ernst. Skulpturen (Kat. Stadtgalerie Klagenfurt 1997), 9-78, hier: 17. Werner Spies: Max Ernst, Skulpturen, Häuser, Landschaften (Kat. Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen Düsseldorf), Köln 1998, 44-46. Pech sieht die gedrechselten Stäbe eines Treppengitters als tragendes Gerüst, Spies erkennt noch einen Blumentopf. S. zur Ausstellung auch: William A. Camfield: Max Ernst. Dada and the Dawn of Surrealism (Kat. Museum of Modern Art New York), München 1993, 69-74.
[13] Nach Ende der Ausstellung wurde die Skulptur in sein Atelier am Kaiser-Wilhelm-Ring verfrachtet und bildete bei einem Besuch von Gala und Paul Eluard im November 1921 bei den Ernsts die passende Begleitung zu einem Gruppenfoto, von dem in Abb. 8 ein Ausschnitt gezeigt wird.
[14] Werner Spies: Max Ernst - Collagen. Inventar und Widerspruch, Köln 1974, 64. Unerfindlich bleibt, weshalb Spies in Skulpturen, 46, Max Ernst eine weitere Skulptur mit dem Titel 'Ein junger Kölner' beschreiben lässt, wobei diese mit den gleichen Attributen wie der 'lustgreis' versehen gewesen sein soll. Im Katalog der Ausstellung Dada-Vorfrühling (Repr. in: Wulf Herzogenrath (Hg.): Vom Dadamax zum Grüngürtel. Köln in den zwanziger Jahren (Kat. Kölnischer Kunstverein), 2. Aufl., Köln 1975, 55-58), wird eine solche weitere Großplastik nicht aufgeführt.
[15] Die Passagen zu den Collagen folgen Ludger Derenthal: Mitteilungen über Flugzeuge, Engel und den Weltkrieg. Zu den Photocollagen der Dadazeit von Max Ernst, in: Im Blickfeld: Konstruktionen der Moderne. Jahrbuch der Hamburger Kunsthalle (1994)/ 1, 41-60. Vgl. auch Camfield: Max Ernst, 92-94.
[16] Deutsches Kriegsflugwesen. Von Georg Paul Neumann. Leiter der Luftfahrerschule Berlin-Adlershof, Hauptmann d. Res. der Fliegertruppen. Mit 65 Abbildungen und einem farbigen Umschlagbild, Bielefeld und Leipzig [1917] (= Velhagen & Klasings Volksbücher 138/39) 72 S., Preis 1 M. 60 Pf.; Flugzeuge, von Oberleutnant Paul Neumann, mit 47 Abbildungen und einem farbigen Umschlagbild, Bielefeld und Leipzig [1914] (= Velhagen & Klasings Volksbücher 63) 34 S., Preis 60 Pf.
[17] Reminiszenzen an die Luftkämpfe sah schon Uwe M. Schneede: Max Ernst, Stuttgart 1972, 40. Dazu auch Gudrun Escher: Im Zeichen der vierten Dimension. Das Flugzeug aus kunsthistorischer Sicht 1903-1930, Köln 1978 (Phil. Diss. Köln 1977), 290 und Monika Steinhauser: Max Ernst - Dadamax, München 1979, 27.
[18] Eisenbahngleise sah Spies: Collagen, 74; Landebahnen entdeckte Hubertus von Amelunxen: Ein 'Panegyriker des Moments', in: Fotogeschichte 9 (1989)/ 34, 58f, hier: 59.
[19] Louis Aragon: Max Ernst - Peintre des illusions, in: ders.: Ecrits sur l'art, Paris 1981, 12-16, hier: 14.
[20] Marguerite Bonnet (Hg.): L'affaire Barrès, o.O. (Paris) 1987, 8.
[21] André Breton u.a.: L'affaire Barrès, in: Marguerite Bonnet u.a. (Hg.): André Breton. Œuvres complètes, Bd.1, Paris 1988 (Bibliothèque de la Pléiade), 413-433, hier: 420. Kommentar von Marguerite Bonnet: 1406-1413. Deutsche Fassung zit. nach: Unda Hörner / Wolfram Kiepe (Hg.): Dada gegen Dada. Die Affaire Barrès, Hamburg 1997, 28.
[22] Michel Sanouillet: Dada à Paris, 2. Aufl., Paris 1993, 272, Anm. 30.
[23] Vgl. Kenneth E. Silver: Esprit de Corps. The Art of the Parisian Avant-Garde and the First World War, 1914-1925, London 1989, 219-226. Siehe auch Ken. S. Inglis: Grabmäler für Unbekannte Soldaten, in: Rainer Rother (Hg.): Die letzten Tage der Menschheit. Bilder des Ersten Weltkrieges (Kat. Deutsches Historisches Museum) Berlin 1994, 409-422.
[24] Littérature (März 1921), H. 18, 1-7 und 24.
[25] André Breton: Entretiens. Gespräche. Dada, Surrealismus, Politik (= Fundus-Bücher 141), Amsterdam 1996, 59 und 61.
[26] Pressezitate in Bonnet: L'affaire, 91-94.

Autor:
Dr. Ludger Derenthal
Staatliche Museen zu Berlin
Museum für Fotografie
Matthäikirchplatz 6
10785 Berlin
l.derenthal@smb.spk-berlin.de
http://www.smb.spk-berlin.de

Empfohlene Zitierweise:

Ludger Derenthal: Dada, die Toten und die Überlebenden des Ersten Weltkriegs, in: zeitenblicke 3 (2004), Nr. 1 [09.06.2004], URL: <http://zeitenblicke.historicum.net/2004/01/derenthal/index.html>

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