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  3 (2004), Nr. 1: Inhalt
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Zu dieser Ausgabe

 

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Zahlreiche historische Beispiele belegen, in welchem Maße der ‚Tod eines Mächtigen’ häufig nur den Auftakt zur Inszenierung eines monumentalen Totenkults bildete, der seinerseits wiederum die Ambitionen und ideologischen Aneignungen der Erben widerspiegelte, angefangen bei den antiken Trauerfeierlichkeiten für verstorbene Herrscher bis hin zu den teilweise als gigantischer Massenaufmarsch organisierten Staatsbegräbnissen des 20. Jahrhunderts.

 
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Der allerletzte Gang des Königs - oder Politikers - auf Erden ist bis heute immer auch ein ‚Spektakel der Sinne’ gewesen, ein ‚Theatrum Doloris’, das auf die Teilnehmer durch die gezielte Anwendung medialer und visueller Strategien einen nachhaltigen und dauerhaften Eindruck ausüben sollte. Jedes Staatsbegräbnis stellt eine hochoffizielle, in ein komplexes ästhetisches Rahmenprogramm eingebundene Zeremonie dar, deren Ablauf oft genug vom Versuch einer politischen Heroisierung des Verstorbenen bestimmt wird. Noch die kleinsten scheinbar spontanen Gesten (wie das Salutieren des dreijährigen John John Kennedy vor dem fahnenbedeckten Sarg seines Vaters auf dem Militärfriedhof von Arlington) sind in solchen Kontexten auf Wirkung berechnet und im Vorhinein sorgfältig einstudiert. Wie Beisetzungen systematisch zu Propagandaveranstaltungen umfunktioniert worden sind, hat besonders anschaulich etwa der russische Diktator Stalin vorgeführt, der die mit Formalin, Glyzerin und Kaliumazetat konservierte Leiche seines Vorgängers Lenin zum populären Aushängeschild der Russischen Revolution stilisierte.
 
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Über den Akt der Bestattung hinaus findet die Instrumentalisierung von ‚Staatsbegräbnissen’ oder ‚Heldenbeisetzungen’ nicht selten ihre Fortsetzung in dem Bestreben, das Ereignis dem Gedächtnis der Nachwelt in einer ganz bestimmten Form einzuschreiben. Durchaus in bewusster Ausnutzung des mit dem ‚Verlust des Helden’ verbundenen emotionalen Ausnahmezustandes wird der ‚Totenkult’ dann benutzt, um spezifische Erinnerungen zu schaffen oder wieder heraufzubeschwören, die der Identitätsstiftung gesellschaftlicher Gruppen - ob es sich um die Veteranen des Ersten Weltkriegs und Verdun-Kombattanten handelt oder um die Anhänger des NS-Regimes - dienen sollen.
 
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Welche Funktion kommt den Totenfeiern innerhalb solcher Szenarien zu? Welche Geschichtsbilder und historische Mythen lassen sich in diesem Zusammenhang rekonstruieren, und über welche Medien wurden sie vermittelt? Welche Vorstellungen, Motive und Inszenierungsabsichten prägten das Handeln der jeweiligen Akteure? Diese Leitfragen standen im Mittelpunkt eines interdisziplinären und internationalen Symposions zum Thema „ Totenkult, Medien und Erinnerungskultur. Frankreich, Deutschland, Polen im Vergleich“, das wir mit Unterstützung der VW-Stiftung im Dezember 2002 im Gustav-Stresemann-Institut in Bonn veranstalten konnten. Ziel war es, dem Verhältnis von Totenkult und Gesellschaftsentwicklung im vergleichenden und Zeiten übergreifendem Zugriff an ausgewählten Beispielen der west- und osteuropäischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts nachzuspüren.
 
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Die in dieser Ausgabe des Journals zeitenblicke publizierten Aufsätze sind aus dem Bonner Symposion hervorgegangen und um weitere Beiträge - wie das Interview mit dem Revolutionshistoriker Rolf Reichardt - ergänzt worden. Naturgemäß kann ein Ensemble von Texten, die aus unterschiedlichen Federn stammen, nicht die Geschlossenheit einer Monographie erreichen. Dennoch hoffen wir, zentrale Aspekte des historischen Totenkults beleuchtet zu haben. Unser herzlicher Dank gilt neben der Stiftung, die uns die Durchführung der Tagung ermöglicht hat, den Autorinnen und Autoren, vor allem aber auch Frau Dr. Verena Zimmermann (München), die durch ihre ausgeprägten Organisationstalente zum Gelingen der Veranstaltung beigetragen hat.
 

Köln und Heidelberg, im Mai 2004
Gudrun Gersmann / Edgar Wolfrum

 


ZEITENBLICKE ISSN: 1619-0459