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Claire Gantet
Die französische Geschichtsschreibung der Gegenwart:
Ein Essay
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In der heutigen französischen Geschichtsschreibung ist es üblich geworden, die Geschichte in Frage zu stellen. Man / Frau spricht von der 'in tausend Stücke geschlagenen Geschichte' (histoire en miettes), von der 'kritischen Wende' (tournant critique) und von der 'Krise der Geschichte' (la crise de l'histoire). [1] Die Zeit der großen Historiker wie Fernand Braudel, Pierre Renouvin oder Georges Duby, welche die Entwicklung des ganzen Faches entscheidend beeinflussten bzw. lenkten, scheint vorbei. Heutzutage ist die französische Geschichtsschreibung vielmehr von einer Pluralisierung, ja von Eklektizismus bestimmt. In diesem Essay seien einige aktuelle 'Trends' aufgezeigt.
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Am Ende der 1980er-Jahre hatte das Paradigma der exakten Naturwissenschaften an Faszination verloren. Die quantitative Geschichte der 1950er- und 1960er-Jahre hatte auf dem Glauben an eine absolut sichere historische Wahrheit beruht; die strukturalistische Geschichte der 1960er- und der 1970er-Jahre war auf die Suche nach stets gleichbleibenden Tendenzen und nach Kausalitätsmechanismen gegangen. Danach intendierte man weniger Tiefenbohrungen als die Erfassung der Lebenswelt. Daraus ergab sich eine hermeneutische Krise der Geschichte als Wissen und Erkenntnis, und zwar in zweierlei Hinsicht. Zuerst erforschten die Historiker die Repräsentationen der Akteure. Später aber - seit Beginn der 1990er-Jahre - verfassten viele Fachhistoriker kritische Überlegungen und Synthesen in Bezug auf ihr Fach, auf Forschungsprojekte und methodologische Fragen. [2]
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Zweitens haben sich die sozialen Mechanismen, die die Gegenwartserfahrung mit denjenigen früherer Generationen verknüpften, aufgelöst oder zumindest verändert – François Hartog nannte dies das 'régime d'historicité' [3]. Heute ist die Vergangenheit nicht mehr mit der Zukunft durch das Kommemorieren der Gegenwart verknüpft. Die Zukunft scheint im Gegenteil unvorhersehbar und die Gegenwart ohne Hilfslinien zu sein.
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Diese Zersplitterung und Unsicherheit sind nicht rein theoretischer Natur. Sie kennzeichnen im Gegenteil die ganze Geschichtswissenschaft. Denn die eingangs benannte Krise resultierte daraus, dass die Historiker sich ihrer Instrumentalisierung durch die Politik und ihrer Formung des kollektiven Gedächtnisses bewusst geworden waren. Wie zur Zeit der Dreyfus-Affäre beansprucht der Historiker zwar weiterhin politische und soziale Verantwortung. Heute geht es allerdings nicht mehr um die Werte der Republik, sondern um Prozesse gegen die Akteure der Vichy-Regierung, um das Anprangern von Verbrechen gegen die Menschlichkeit und um die kollektive Versöhnung gegen einseitige kulturelle Gedächtnisse. Das traditionelle Nachdenken über den Beruf des Historikers bei den Gründungsvätern der Annales-Schule (wie bei Marc Bloch) ist inzwischen hinter eine epistemologische Fragestellung zurückgetreten. Da die Geschichte ihre teleologische Funktion verloren hat, setzt sich auch ein neuer Dialog zwischen Geschichte, Anthropologie und Philosophie durch – statt des Dialogs zwischen Geschichte und Wirtschaft oder Soziologie, der die 'Heldenzeit' der Annales-Schule auszeichnete.
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Krise oder Erneuerung? Die französischen Historiker sind sich zwar nicht einig, aber sie sind offen; sie behaupten nicht mehr, eine 'Schule' zu vertreten und an der Spitze der Forschung zu stehen. Die skizzierten Entwicklungen gehen weit über den Bereich der Fachhistoriker hinaus. Es geht um die Stellung der Geschichte in der Gesellschaft, das heißt um die Fachorganisation, sowie um die Beziehungen zwischen den Fachhistorikern, den Lehrern und den Erwartungen der Öffentlichkeit.
1. Fachorganisation und -lehre
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Seit langer Zeit ist 'die Geschichte' in Frankreich eine Institution, die eine strategische Bedeutung hinsichtlich der Bildung des kollektiven Gedächtnisses und der Universitätseinrichtungen hat. In den historischen Debatten spiegeln sich immer auch in hohem Maße Machtfragen wider.
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Wie wahrscheinlich auch ihre Kollegen in anderen Ländern kämpfen die meisten französischen Historiker an zwei Fronten. Einerseits streben sie danach, das 'Territorium des Historikers' und seine Stellung in der Gesellschaft zu bewahren. Andererseits wollen sie Regeln und wissenschaftliche Fragestellungen in Zusammenhang mit anderen Geisteswissenschaften erst einmal definieren. Spezifisch französisch hingegen ist die Mehrdeutigkeit der Geschichte in Frankreich: Sie ist zugleich Wissen und Erkenntnis, Arbeitsweise im Universitätsfeld und bürgerliche Institution. Geschichte ist schon an der Grundschule Pflichtfach. Das bedeutet, dass ein wesentlicher Teil der Dozenten und Universitätsprofessoren mit der Ausbildung der Lehrer befasst ist. Der gesamte Bereich der Verlagsproduktion, der Fragestellungen und Forschungsfelder wird davon beeinflusst.
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Seit die Geschichte im 19. Jahrhundert als Schulfach etabliert wurde, sollten französische Schüler viel auswendig lernen. Der Geschichtsunterricht wurde von Anfang an immer auch als Staatsbürgerkunde verstanden.
Anzahl der Studierenden
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Mehr als 70.000 Studierenden waren im Universitätsjahr 1996-97 in Geschichte immatrikuliert, mehr als 37.000 im Grundstudium (Diplôme d'Études Universitaires Générales), fast 27.000 im Hauptstudium und Magisterarbeitsjahr (licence et maîtrise), und fast 6.200 in der Promotion (Diplôme d'Études Approfondi et thèse). Obwohl die Zahl der Studierenden von Anfang der 1960er-Jahre bis zur Mitte der 1990er-Jahre stets zugenommen hatte, stagnierte sie in letzten fünf Jahren bzw. ging sogar zurück. Zwischen 1985 und 1995 arbeiteten an allen französischen Universitäten mehr als 6.000 Doktoranden an einer Dissertation. Fast ein Drittel (31 %) der abgeschlossenen Dissertationen beschäftigte sich mit der Zeitgeschichte nach 1914. Die Hälfte befasste sich mit Sozialgeschichte (28 %) oder mit Politikgeschichte (22 %); ein Fünftel mit Wirtschaftgeschichte, ein Zehntel mit der Geschichte der internationalen Beziehungen, 7 % mit Militärgeschichte.
Die Laufbahn
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Der Hauptunterschied zu Deutschland besteht zuerst darin, dass die Universität in Frankreich mehr Lehrer als Wissenschaftler produzieren soll. Lehramt und Forschung sind nicht getrennt. Deswegen müssen alle Doktoranden, um eine Chance für eine Stelle an einer Universität zu haben, das Staatsexamen für das Gymnasiallehramt bestehen: den 'Certificat d'Aptitude Professionnelle à l'Enseignement Secondaire' für die vier ersten Klassen (collège), oder – was noch vorteilhafter ist – die 'agrégation' für die Oberstufe (lycée). Die Auslese ist auch in allen Stufen viel strenger als in Deutschland. Deswegen sind alle Doktoren, die keine Stelle an der Universität finden, Lehrer in einem Gymnasium: Es gibt keine Arbeitslosigkeit – aber manche Lehrer sind mit ihrer Situation unzufrieden.
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Die französischen Universitäten erfassen allerdings nicht die gesamte Forschung. Nach dem Abitur besuchen die besten Schüler nicht die Universität, sondern absolvieren zwei Jahre die sogenannten 'classes préparatoires', um die Aufnahmeprüfung der 'École Normale Supérieure' zu bestehen. Nachdem der 'normalien' den Zulassungswettbewerb bestanden hat, wird er als Beamter anerkannt und bezahlt, muss aber zugleich die 'École Normale Supérieure' und die Universität besuchen.
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Neben der 'École Normale Supérieure' sind zahlreiche Universitäten und Institute an der Forschung beteiligt – unter anderen die 'École Nationale des Chartes' (für die künftigen Bibliothekare, Konservatoren und Archivare), die 'Fondation Nationale des Sciences Politiques' (für die Politologen und die Zeithistoriker), die 'École Pratique des Hautes Études' (für die Philologie) und die 'École des Hautes Études en Sciences Sociales' (für die Sozialwissenschaften und die ausländische Forschungen), sowie schließlich das 'Centre National de la Recherche Scientifique', ein reines Forschungszentrum ohne Lehrtätigkeit.
Der Nachwuchs
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Fast 29.000 Lehrer sind im Gymnasialunterricht tätig, davon 5.600 an Privatschulen. Dazu kommen etwa 1.200 Universitätsprofessoren: Die Zahl der Professoren hat sich seit Anfang der 1960er-Jahre mehr als vervierfacht (kaum 300 Historiker waren zu jener Zeit Titularlehrkräfte an der Universität).
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Die Kandidatenliste für die beiden Staatsexamina (CAPES und 'agrégation') wird immer länger: 4.100 im Jahre 1995, mehr als 4.500 im Jahre 1996, zwischen 6.000 und 7.000 in den vergangenen zwei Jahren. Im Jahre 1818 wurde Geschichte als Pflichtfach am Gymnasium eingeführt. Die 'agrégation' wurde 1830 geschaffen, um qualifizierte Lehrer auszubilden und Geschichte von den anderen Geisteswissenschaften zu unterscheiden. Der Kandidat bereitet sich auf den Wettbewerb entweder an der Universität, in speziellen Instituten ('Instituts de Formation des Maîtres') oder noch in den 'Écoles Normales Supérieures' vor.
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Die Dozenten ('maîtres de conférences') und Professoren ('professeurs') werden ebenfalls nach Absolvierung eines nationalen Wettbewerbs eingestellt. Nach Abschluss der Dissertation bzw. der Habilitation muss der Kandidat zuerst durch den Nationalen Universitätsrat ('Conseil National des Universités') zugelassen werden. Dann muss er sich um eine Stelle in bestimmten Universitäten bewerben und dort durch eine Kommission gewählt werden. Diese Wahl ist immer ein Kompromiss zwischen den besonderen Forderungen der Universität (wie zum Beispiel den Bedürfnissen nach Lehrern, die dazu bereit sind, Verwaltungsaufgaben zu erfüllen) und den Forderungen des Fachs (den Ruf und die Ausstrahlung der Universität zu sichern). Die Dozenten haben eine Anstellung auf Lebenszeit und sind nicht weisungsgebunden; theoretisch sind sie nicht verpflichtet, sich zu habilitieren, aber ihr Lehrdeputat ist wesentlich umfangreicher als in Deutschland: 8 Stunden zu 60 Minuten in der Woche, mit Seminaren und Vorlesungen. Alle Dozenten und Professoren sind Beamte und empfangen denselben Lohn, seien sie an der Sorbonne, in Pau oder in Valenciennes.
2. Kommunikation
Verbände
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Die Historiker arbeiten in vier Epochen – in der 'histoire antique' (Antike), 'histoire médiévale' (Mittelalter), 'histoire moderne' (Frühneuzeit, vom Ende des 15. Jahrhunderts bis Anfang des 19. Jahrhunderts) und 'histoire contemporaine' (Zeitgeschichte) -, jede von diesen besitzt einen eigenen Verband. Ansonsten existieren zahlreiche thematische, lokale und regionale Verbände und Vereine.
Medien
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Trotz der Krise des Verlagshandels erscheinen jedes Jahr fast 3.000 neue Geschichtsbücher (die Taschenbücher einbezogen), die fast ein Achtel der gesamten Verlagsproduktion ausmachen. Die durchschnittliche Auflage liegt bei 4.500 Exemplaren (mit Taschenbüchern). Einige Bücher, die von intensiver Werbung profitierten, wurden Bestseller. Genannt seien 'Montaillou, village occitan, de 1294 à 1324' von Emmanuel Le Roy Ladurie, dessen 130.000 Exemplare innerhalb zwei Jahren verkauft wurden, oder 'Le Temps des cathédrales' von Georges Duby, von dem 75.000 Exemplare gedruckt wurden.
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Außer den Fachzeitschriften – der im Jahre 1876 gegründeten 'Revue historique', den 'Annales. Sciences sociales' (1929), 'Vingtième Siècle' (1984), 'Genèses' (1990) –, gibt es zahlreiche populärwissenschaftliche Zeitschriften in Frankreich, die beachtliche Auflagenzahlen erreichen: 'Historama' (mit einer Auflage von 70.000 bis 80.000 Exemplaren), Historia (80.000 Exemplare), Notre Histoire (30.000 Exemplare) und vor allem 'L'Histoire' (60.000 Exemplare). Hier werden mehrere Hunderttausende von Exemplaren produziert, im Vergleich zu nur einigen Zehntausend in England. Seit den 1950er-Jahren haben auch mehrere Rundfunk- und Fernsehsendungen das Interesse des Publikums belebt. Die Internetangebote sind hingegen weniger gut als in Deutschland entwickelt. Zwar haben alle Universitäten und Institute ihre Webseite, aber es existiert kein gemeinsamer zentraler Server wie der Münchener 'Server Frühe Neuzeit'. [4]
Internationale wissenschaftliche Beziehungen
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In Bezug auf die allgemeine internationale Ausrichtung seien die besonderen Schwerpunkte einiger französischer Universitäten genannt: Die EHESS ist wahrscheinlich die kosmopolitischste Universitätsanstalt. Die Universität Paris I beschäftigt sich hauptsächlich mit der deutschen, spanischen, mitteleuropäischen und nordamerikanischen Geschichte; die Universität Paris IV konzentriert sich auf die englische und Paris VII auf die afrikanische Geschichte; Paris X, Grenoble und Aix-en-Provence erforschen die italienische Geschichte.
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Zwei Geschichtsinstitute ermöglichen französischen Historikern (sowohl Studierenden als auch Professoren) Forschungsaufenthalte in Deutschland und stellen Stipendien bereit: die 'Mission historique française en Allemagne' in Göttingen für die Mediävisten und die Frühneuzeitler; das 'Zentrum Marc Bloch' in Berlin für die Neuzeitler und Zeithistoriker. Beide Institute veranstalten auch zahlreiche Tagungen und Kongresse, um den wissenschaftlichen Austausch zu fördern und die deutschen und französischen Historiker über die europäische Forschung in Europa zu informieren. Die 'Mission historique' gibt zudem eine Bibliographie der letzterschienenen Bücher, eine Zeitschrift ('Bulletin') und Linksammlungen heraus. Neben dem Deutschen Historischen Institut in Paris, das über eine Bibliothek von 800.000 Bänden und mehr als 400 Zeitschriften zur deutschen Geschichte und den deutsch-französischen Beziehungen besitzt, hat sich in den vergangenen Jahren das jüngere deutsche Forum für Kunstgeschichte etabliert. Seit September 1999 erweitert und verstärkt die Deutsch-Französische Hochschule die deutsch-französische Universitätskooperation. Dank ihrer vernetzten Struktur nimmt die DFH eine vermittelnde und beratende Rolle wahr; da sie Diplome erteilt, die sowohl in Deutschland als auch in Frankreich anerkannt werden, hat sie eine Vorreiterrolle in Europa.
3. Forschung
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Wie in Deutschland gelten auch in Frankreich die Neuzeit, vor allem das 20. Jahrhundert, und dann, allerdings weit abgeschlagen an zweiter Stelle, das Mittelalter als die am besten erforschten Gebiete. Die Frühe Neuzeit ist dennoch viel intensiver bearbeitet als in Deutschland. Aktuelle Forschungsschwerpunkte sind hier Fragen nach dem erzählenden Charakter der Geschichte, nach dem Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, von Geschichte und Gedächtnis, von Raum und Zeit, Fragen nach kulturellen Transfers oder der Herausbildung politischer Identitäten.
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Nachdem sich die Annales-Schule mit quantitativen Verfahren befasst hatte, deren "Objektivität" vorausgesetzt wurde, begann eine Debatte über die Subjektivität und die Darlegung in der Geschichte. Diese - zuerst durch die hermeneutische Richtung der Philosophie (Paul Ricœur) aufgeworfene – Diskussion erhielt durch den von amerikanischen Forschern ins Spiel gebrachten 'linguistic turn' weiteren Auftrieb. Es ging dabei weniger um den literarischen Stil der Historiker als um die 'Poetik des Wissens', das heißt um die Erforschung des literarischen Verfahrens, wodurch ein Diskurs sich von der Literatur abgrenzt und für sich den Status einer Wissenschaft beansprucht. Die Frage des Diskurses wird heutzutage weniger diskutiert, weil kein Historiker mehr die Wichtigkeit dieser Debatte und die Rolle der Repräsentationen des Historikers bestreitet: Die Wissenschaft sagt nicht 'die' Wahrheit über 'die' Wirklichkeit, sondern 'eine' Wahrheit über 'eine' Wirklichkeit.
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Den Annales-Historikern ging es auch um die Rolle der Akteure und um die Fähigkeit, die Praktiken, die Repräsentationen und die Anschauungen der Individuen darzustellen. Diese Frage ist aber nicht neu, sondern schon seit fast einem Jahrhundert fester Bestandteil der Debatte zwischen Soziologen, Historikern und Anthropologen. Fernand Braudel selbst hatte ein brillantes Portrait von Philipp II. von Spanien verfasst, das ein in Habitus und Zwängen eingeengtes Individuum zeigte: Der strenge Determinismus wurde seit den 1980er-Jahren jedoch zunehmend in Frage gestellt. Früher als in Deutschland begann in Frankreich eine große Debatte über die Beziehung zwischen Geschichte und Gedächtnis. Gegenwärtig wird die Frage des kulturellen Gedächtnisses und des Vergessens intensiv diskutiert.
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Seit den 1980er-Jahren betonten die Geschichtswissenschaften die Rolle des Akteurs, die Stellung der politischen Handlungsweisen, des Ereignisses und der Biographie. Daneben kritisierten viele Historiker zunehmend aber auch – zum Beispiel unter Verweis auf die Arbeiten Michel Foucaults – den Anspruch einzelner Annales-Historiker auf eine 'globale' umfassende Erkenntnis der Gesellschaft. In den 1990er-Jahren verstärkten sich die Spannungen zwischen den Historikern. In der Kulturgeschichte zum Beispiel beabsichtigen einige wie Jean-François Sirinelli, eine 'globale Geschichte' zu schreiben; sie integrierten die Praktiken und Diskurse des 'gemeinen Mannes', der Aktivisten so wie des Apparats und des Personals in eine weitergeführte Geschichte der Ideologien und der politischen Parteien: Die Kultur sei nur zu verstehen, wenn man sie mit der Gesellschaft, der Wirtschaft und der Politik konfrontiert. Andere Historiker wie Roger Chartier erforschten hingegen die Praktiken, setzten aber keine Kontinuität zwischen der Absichten oder der Strategien der Individuen oder die Existenz einer 'allgemeinen' Kultur voraus.
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Es gibt keine 'allgemeinen einheitlichen Tendenzen' bei den französischen Historikern mehr. Für diejenigen, die in erster Linie an die Schulbildung denken, ist die französische Geschichtsschreibung durch eine Krise gekennzeichnet. Für diejenigen hingegen, die den Pluralismus der Meinungen und der Verfahren fördern, ist die Lage durch eine tiefgreifende Erneuerung charakterisiert. Das neue Verhältnis zur Öffentlichkeit – die Kontroversen über die Vichy-Regierung und jüngst den Gebrauch der Folter in Algerien – verstärkte diese innere Spaltung noch.
Anmerkungen
[1] François Dosse: L'Histoire en miettes, Paris 1988; Gérard Noiriel: Sur la «crise» de l'histoire, Paris 1996.
[2] Vgl. u.a. Dominique Julia, Jean Boutier (hg.): Passés recomposés. Champs et chantiers de l'histoire, Paris 1995 (Mutations, 150/151). Bernard Lepetit (hg.): Les formes de l'expérience. Une autre histoire sociale, Paris 1995 (L'Évolution de l'humanité). Roger Chartier: Au bord de la falaise. L'histoire entre certitudes et inquiétudes, Paris 1998 (Bibliothèque histoire). Bernard Lepetit: Carnet de croquis. Sur la connaissance historique, Paris 1999 (Bibliothèque histoire). Jean-Claude Ruano-Borbalan (hg.): L'histoire aujourd'hui, Paris 1999.
[3] Vgl. François Hartog: Temps et histoire. 'Comment écrire l'histoire de France ?', in: Annales, Histoire, Sciences Sociales 50 (1995), 1219-1236.

Einige Adressen
Universität Paris I: www.univ-paris1.fr

Centre National de la Recherche Scientifique: www.cnrs.fr

École des Hautes Études en Sciences Sociales : www.ehess.fr

Maison des Sciences de l'Homme (Paris): www.msh-paris.fr

Reiseberichte: www.crlv.org

Mission historique française en Allemagne (Göttingen): www.mhfa.mpg.de

Zentrum Marc Bloch für Sozialwissenschaften in Berlin: www.cmb.hu-berlin.de

Frankreich-Zentrum der Technischen Universität zu Berlin: www.tu-berlin.de/fak1/frankreich-zentrum/

Deutsch-Französische Hochschule (Saarbrücken): www.dfh-ufa.org

Deutsches Historisches Institut in Paris: www.dhi-paris.fr

Deutsches Forum für Kunstgeschichte in Paris: www.dt-forum.org

Deutscher Akademischer Austauschdienst in Paris: www.daad.de/paris

Stipendienmöglichkeiten: www.daad.de/info-f-a/foerderung/organisation/index.html

Deutsch-Französisches Jugendwerk: www.ofaj.org

Alle Server über Deutschland (Deutsche Botschaft in Paris):
www.amb-allemagne.fr/deutsch/index.html oder
www.botschaft-frankreich.de

Autorin:
Dr. Claire Gantet
Centre de Recherches d'Histoire Moderne
Université Paris I – Panthéon Sorbonne
17, rue de la Sorbonne
F-75231 Paris cédex 05
Claire.Gantet@univ-paris1.fr

Empfohlene Zitierweise:

Claire Gantet: Die französische Geschichtsschreibung der Gegenwart: Ein Essay, in: zeitenblicke 3 (2004), Nr. 1 [09.06.2004], URL: <http://zeitenblicke.historicum.net/2004/01/gantet/index.html>

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