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Heidi Hein
Freiheitsheld und Symbolfigur: Der Piłsudski-Kult als Mittel nationaler Identitäts- und Bewusstseinsbildung
Abstract
Der Piłsudski-Kult ist ein typischer politischer Kult, der durch die Komponenten Mythos, Ritual und Symbole sowie durch eine damit einhergehende Institutionalisierung definiert wird. In den Ausdrucks- und Vermittlungsformen ähneln sich politische Kulte, während die inhaltlichen Aspekte Bezug auf die jeweiligen Traditionen und den historischen Kontext nehmen müssen. Da der Totenkult um Piłsudski auf dem Personenkult aufbaut, wird dieser seit dem Ersten Weltkrieg bis 1935 skizziert und im Folgenden die Begräbnisfeierlichkeiten als Katalysator und Auftakt des Totenkultes, der Totenkult selbst bis 1939 und die Ausdrucksformen und Funktionen des Kultes bis 1939 dargestellt. Anschließend wird dessen Entwicklung im Zweiten Weltkrieg, in der Piłsudski-nahen Emigration, während der Volksrepublik Polen und in der Dritten Republik untersucht. Es soll verdeutlicht werden, dass man den Piłsudski-Kult jederzeit politisch instrumentalisierte, wobei der Mythos als inhaltlicher Bestandteil jeweils nuanciert wurde. Er erhielt legitimatorische und über die Zeit der Zweiten Republik hinausführend identitätsstiftende Funktionen und beeinflusste das historische Gedächtnis.
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"... von Generation zu Generation von Polen müssen wir nicht nur das Gedächtnis und den Kult [des Marschalls Piłsudski] weitertragen, sondern auch die Größe seines Werkes vermitteln". [1] Diese Worte des polnischen Ministerpräsidenten Sławoj-Składkowski sind programmatisch für den Kult um den Ersten Marschall Polens, Józef Piłsudski. Sie und der Anlass – die Verabschiedung des Gesetzes zum Schutz des Namens von Piłsudski - weisen deutlich darauf hin, dass der Kult um den 1935 verstorbenen Diktator als Staatsaufgabe angesehen wurde. Dies war jedoch nur bis 1939 möglich. Dennoch 'lebte' er weiter und wurde insbesondere in den 1980er Jahren ein wichtiges Instrument der politischen Opposition und seit der politischen Wende von 1989/90 ein wesentlicher Bestandteil der politischen Kultur. Der Piłsudski-Kult erhielt während der Zweiten Republik legitimatorische und über diese hinausgehend identitätsstiftende Funktionen und wurde zu einem wichtigen Bestandteil des historischen Gedächtnisses.
 
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Keine historische Persönlichkeit Polens ist bisher so kontrovers, so gegensätzlich beurteilt worden wie Piłsudski. Nach der politischen Wende von 1989/90 und der Aufhebung der staatlichen Zensur setzte vor allem in der ersten Hälfte der 1990er Jahre eine neue Welle von Publikationen ein. Die wenigsten sind als wissenschaftlich zu bezeichnen, obwohl zahlreiche von ihnen diesen Anspruch erheben. Dies ist jedoch als eine Ausdrucksform der Verehrung zu werten. Außer einigen eher polemischen Auseinandersetzungen über die "Piłsudski-Legenden" [2] und einigen deskriptiven Abhandlungen über vereinzelte Ausdrucks- und Vermittlungsformen des Piłsudski-Kultes hat die polnische historische Forschung bisher noch keine Abhandlung über den Piłsudski Mythos und Kult hervorgebracht. Daher ist meine 2002 erschienene Dissertation [3] die erste umfassende Studie zu diesem Themenkomplex, die als Grundlage für die folgenden Erörterungen dienen soll.
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Als Quellen dieser Studie wurden vor allem Archivalien der mit dem Kult verbundenen Organisationen bis 1939 und historisch-politische Publikationen und Schulbücher herangezogen. Die Archivalien, aber auch Tageszeitungen geben vor allem Aufschluss über die mit dem Kult verbundenen Institutionen und ihrer Projekte. In den anderen Publikationen finden sich dagegen vor allem Hinweise zum vermittelten Piłsudski-Bild.
Einige theoretische Überlegungen zu politischen Kulten
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'Kult' bezeichnet im Wesentlichen eine stark ritualisierte Form der Verehrung eines Gegenstands oder einer Person. Unter einem politischen Kult kann man daher die politisch motivierte säkulare Verehrung vor allem von Personen verstehen. Politische Kulte sind im Sinne der 'imagined communities' (Anderson) und 'invention of tradition' (Hobsbawm/Ranger) ein wesentliches Mittel, um einer Gemeinschaft Identität und das Bewusstsein, zu dieser zu gehören, zu verschaffen und zu festigen. Durch ihre spezifische Wirkungsweise befriedigen sie emotionale und soziale Grundbedürfnisse der Gesellschaft nach Orientierung und Identität. Personenkulte resultieren auf einer eher unkritischen Überbewertung der Leistungen und Rolle einer als charismatisch [4] empfundenen Persönlichkeit in der Geschichte, die meist als einzigartig gestaltende Kraft dargestellt wird. Schließlich kann dieses Bild nur dann Anerkennung finden, wenn seine inhaltlichen Grundlagen in der historischen Tradition des Landes bzw. Gesellschaft verankert sind.
 
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Wesentliche und zwingende erforderliche Komponenten von Kulten sind Mythos, Symbole und Rituale. Ohne diese kann ein Kult nicht existieren und wirken. Politische Kulte basieren dabei auf einem "'gemachten' [das heißt nach den Erfordernissen gestalteten] politischen Mythos" [5]. Dieser stellt folglich die inhaltliche Grundlage des Kultes dar, indem er die Vergangenheit selektiv interpretiert. Symbole kann man als "Bausteine des Mythos" [6] und damit auch als 'Bausteine des Kultes' auffassen, da sie die emotionale Verstehensebene des Menschen ansprechen. Rituale umschreiben als symbolische Handlung in nonverbaler Form einen sachlichen Zusammenhang sehr konzentriert und interpretierend nonverbal.
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Bei der Analyse von Personenkulten sind weiterhin die Merkmale und Phasen zu beachten, die sich nicht unbedingt nacheinander, sondern auch nebeneinander bzw. sich überlappend entwickeln können. [7]
1. Die gesellschaftlichen Verhältnisse werden personalisiert und dadurch die historische Rolle der verehrten Persönlichkeit überbewertet.
2. Die Persönlichkeit wird monumentalisiert, dass heißt, dass sie in dieser Phase als konkurrenzlos dargestellt und als Genie verherrlicht wird.
3. Die Persönlichkeit wird vollkommen mythisiert und erhält Charakteristika wie Unfehlbarkeit, Allwissenheit und Allgegenwart. Sie wird als Kultobjekt der Sphäre der alltäglichen Erfahrung entrückt, bleibt aber durch die Propaganda und ihre in der Öffentlichkeit verbreiteten Schriften stets in dieser präsent.
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Parallel zur fortschreitenden Mythisierung der verehrten Person verläuft ein Prozess, in dem das Kultobjekt letztlich selbst zum Symbol wird. Ritualisierung und Institutionalisierung gehen einher, denn die Verehrung wird in eine gesellschaftlich anerkannte, feste Bahn geleitet. Dabei ist aber unabdingbare Voraussetzung, dass die Machtverhältnisse in der Gesellschaft eindeutig geregelt sind. Das heißt, dass die Förderer und Träger des Kultes die entsprechenden Machtmittel besitzen, diesen in der Gesellschaft etablieren zu können.
Da Mythos, Symbole und Ritual in inhaltlicher und funktionaler Hinsicht die grundlegenden Elemente von politischen Kulten bilden, entfalten diese erst durch ihr Zusammenwirken ihre spezifische Wirkungsweise. Der Grad ihrer Ausprägung hängt dabei nicht allein von dem des Kultes ab, sondern sie bedingen sich gegenseitig. Sie bilden also ein System bzw. ein Netz von Deutungselementen, das erst den Kult als solchen ausmacht.
Dies ist zudem ein Ansatz für eine Typologie von politischen Kulten: Die Vermittlungs- und Ausdruckformen folgen eher allgemeinen, überall auffindbaren 'übernationalen' Mustern, während die über den Mythos transportierten Inhalte nur in der jeweiligen spezifischen Situation und Tradition zu verstehen sind. Dies trifft auch für den Piłsudski-Kult zu, der daher als ein typisches Beispiel für politische Kulte dienen kann.
 
Die Biographie Piłsudskis als Grundlage für den Kult und Mythos
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Józef Piłsudski [8] wurde 1867 nahe Wilna geboren und im Geiste des polnischen Freiheitskampfes erzogen. Als er 1887 auf einen Studienplatz in Wilna wartete, geriet er in Kontakt mit einer russischen terroristischen Gruppe. Nach deren Attentatsversuch auf Zar Alexander III. wurde er für fünf Jahre nach Sibirien verbannt. Nach seiner Rückkehr fand er Anschluss an die Polnische Sozialistische Partei (PPS) und entwickelte sich zu ihrer führenden Persönlichkeit. Seine sozialistischen Ideen verbanden sich mit den Vorstellungen eines unabhängigen und demokratischen Polens. Er wirkte konspirativ in Kongresspolen und wurde 1900 verhaftet. Nach seiner Flucht 1901 hielt er sich vor allem im autonomen Galizien, dem österreichischen Teilgebiet Polens, auf. Er verlor nun zunehmend an Einfluss in der PPS, die sich in zwei Flügel spaltete. Um sein Ansehen zumindest im rechten, national orientierten Flügel der PPS zu stärken, plante und beteiligte er sich im September 1908 an einem Überfall auf den Postzug von Wilna nach St. Petersburg.
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1908 gründeten seine Anhänger den Verband des Aktiven Kampfes, einer illegalen, die Unabhängigkeit Polens anstrebenden, Organisation. Zwei Jahre später ermöglichte ein österreichisches Gesetz die Gründung von legalen Schützenverbänden, die nach Piłsudskis Vorstellungen die Kader einer zukünftigen polnischen Armee darstellen sollten. Es bildete sich in Galizien ein nach Unabhängigkeit strebendes Lager heraus, in dem Piłsudski die führende Persönlichkeit wurde. Er erkannte seit der Balkankrise 1908 den sich zuspitzenden Konflikt zwischen den Teilungsmächten Polens. Dabei vertrat er die Auffassung, zunächst die Mittelmächte gegen Russland zu unterstützen. Nach Beginn des Ersten Weltkrieges begann er daher eigenmächtig am 6. August 1914 den Kampf gegen die russische Teilungsmacht, indem er eine kleine Kaderkompanie mit rund 150 Schützen von Krakau aus über die russische Grenze nach Kielce schickte. Er wurde jedoch im Laufe des Augusts gezwungen, mit dem Obersten Nationalkomitee zusammen zu arbeiten, das vorwiegend aus politischen Gegnern bestand. Er musste auch seine Kompanie den dem österreichischen Armeeoberkommando unterstehenden polnischen Legionen unterstellen. Er führte deren Erste Brigade. Es gelang ihm, vor allem in ihr und in der dritten Brigade, eine treue, ihm blind ergebene Anhängerschaft aufbauen, die nach seinem Staatsstreich von 1926 die politische Elite bilden sollte.
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Als sich nach dem Frieden von Brest-Litowsk im Frühjahr 1917 die politische Situation grundlegend geändert hatte, führte Piłsudski den Bruch mit den Mittelmächten herbei. Er rief seine Legionäre auf, den Eid zu verweigern, was zu ihrer Internierung bzw. Überführung in die Heere der Mittelmächte führte. Piłsudski selbst wurde in Magdeburg bis zur Revolution in Berlin 1918 inhaftiert. Während der Zeit als Kommandant der Ersten Brigade und vor allem während seines Arrests war Piłsudski durch die Agitation seiner Anhänger zu einer populären Gestalt in Polen aufgebaut worden, zumal er von allen weiteren politischen Verwicklungen ferngehalten worden war.
Piłsudski kehrte am 10. November 1918 nach Warschau zurück. Kraft seiner Anwesenheit wurde Piłsudski zum Staatschef und Oberbefehlshaber des sich gründenden polnischen Staates. Er sah es als seine zentrale Aufgabe an, durch ein aktives militärisches Vorgehen die Ostgrenzen Polens festzulegen. Zunächst war die polnische Armee unter seinem Oberbefehl erfolgreich, musste aber im August 1920 bis nach Warschau vor der Roten Armee zurückweichen. Sie konnte diese schließlich im propagandistisch verbrämten 'Wunder an der Weichsel' besiegen. Aus Unzufriedenheit über die innenpolitische Entwicklung zog sich Piłsudski zwischen 1923 und 1926 zurück. Er gerierte sich als kritischer Wächter, der die Zerstrittenheit der Parteien öffentlich anprangerte und die Fehlentwicklungen im parlamentarischen System unverhohlen kritisierte. In dieser Zeit forcierte Piłsudski durch den Zusammenschluss der Legionäre den Aufbau einer eigenen Hausmacht, die ihm bisher gefehlt hatte.
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Im Mai 1926 führte Piłsudski einen Putsch durch und etablierte das Regime der Sanacja, das nach seiner Parole der 'moralischen Gesundung' benannt wurde. Bis 1930 wandelte sich die Sanacja zu einem autoritären Regime, das im Jahre 1930 die Opposition ausschaltete und ihre wichtigsten Repräsentanten rechtswidrig, teilweise mit Folter, internierte. Piłsudski war faktisch Diktator, auch wenn er sich bemühte, im Rahmen der Verfassung zu handeln. Er selbst war nur zwei Mal für wenige Monate Ministerpräsident und begnügte sich formal mit den Ämtern des Kriegsministers und Generalinspekteurs der Streitkräfte. Er interessierte sich nur für die Außen- und Militärpolitik und zog sich nach 1930 aus dem politischen Alltagsgeschäft fast völlig zurück. Nach Piłsudskis Tod am 12. Mai 1935 zerfiel die Sanacja in verschiedene Lager, wobei sich jedoch der neue Marschall Edward Rydz-Śmigły mit dem totalitäre Züge annehmenden Lager der Nationalen Einheit durchsetzen konnte.
Die Phasen des Personenkultes um Piłsudski (1914/15-1935)
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Eine wichtige Besonderheit des Personenkultes um den Ersten Marschall Polens liegt in der Tatsache begründet, dass 'Piłsudski-Kult' ein zeitgenössischer Begriff ist und bis heute mit positiven und negativen Konnotationen versehen ist, während der Terminus etwa beim 'Hitler-' oder 'Stalin-Kult' eindeutig negativ assoziiert wird. Piłsudski gelang es während der gesamten Zeit seines Wirkens, eine ihm blind ergebene Anhängerschaft zu sammeln und zu festigen. Seit dem Ersten Weltkrieg gerierte sich Piłsudski als Führer. Die Rolle Piłsudskis beim Aufbau des staatlich geförderten Kultes nach 1926 lässt sich aufgrund der Quellenlage nicht präzise bestimmen; er war aber zumindest sein spiritus rector. Seine Anhänger stellten die zentralen Förderer des Kultes um ihn, insbesondere als sie die Elite der Sanacja bildeten. Die einzelnen Phasen entsprechen den biographischen Abschnitten. Daher ist der Piłsudski-Kult nicht eindeutig einem Kult um lebende oder um tote Persönlichkeiten zuzurechnen, worin er sich von anderen politischen Kulten unterscheidet.
 
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Im Ersten Weltkrieg begann eine starke Verehrung Piłsudskis unter seinen Legionären, vor allem aus der von ihm bis 1915 geführten Ersten Brigade. Diese ersetzte seinem Lager schon in dieser Phase ein wirkliches politisches Programm, das bis auf das Schlagwort der Unabhängigkeit nicht ausgebildet wurde. Diese Funktion ist letztlich ein Kontinuum des Piłsudski-Kultes: Sie wurde zur politischen Propaganda für dessen Lager derart stark genutzt, so dass eine oppositionelle Stimme sie schon im Jahre 1917 als ’Kult’ diffamierte. Piłsudski gerierte sich bereits in dieser Phase als Führer und billigte die kultische Verehrung zumindest, wenn er sie nicht sogar förderte. Er beabsichtigte damit, seinen Gefolgsleuten und Soldaten eine dauerhafte Identifizierung zu ermöglichen und sich so eine eigene Hausmacht aufzubauen.
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Die Verehrung des Ersten Marschalls nahm unter seinen Anhängern bis 1926 zu. Dabei stellten die Staatsgründung im November 1918 und der Sieg über die Rote Armee im Jahre 1920 wichtige Zäsuren dar. In dieser Phase manifestierte sich der Kult vor allem in Form der Piłsudski-Feiern zum Jahrestag des Abmarsches der Kaderkompanie (6. August), die zu einem Treffen der ehemaligen Legionäre genutzt wurden. Seine Anhänger begangen auch den Namenstag Piłsudskis, den 19. März, sowie den 11. November als Staatsgründungstag. Nur vereinzelt gab es Initiativen, Piłsudskis Leistungen in Form von Denkmälern zu würdigen. Bis zum Maiumsturz wurde seine Verehrung zur Erhöhung seiner Persönlichkeit genutzt, wobei seine Leistungen bezüglich der Wiedergewinnung der Unabhängigkeit und bei der Festlegung der polnischen Staatsgrenzen über Gebühr betont wurden.
 
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In der zweiten Phase zwischen 1926 bis 1939 besaß das Piłsudski-Lager die Macht, den Kult staatlich zu etablieren. Jetzt erst wandelte sich die Verehrung Piłsudskis in einen wirklichen Personenkult: Wichtige Einschnitte bildeten dafür die Jahre 1928 und 1930/32. Alle Komponenten und Charakteristika wurden aus den schon vorhandenen Ansätzen weiter entwickelt: Er wurde zu einem von staatlicher, administrativer Seite geförderten Kult und allmählich institutionalisiert. Dies bedeutet, dass sich die Formen der Verehrung endgültig ausprägten. Sie bestand aus Denkmälern, Straßenbenennungen und nicht zuletzt aus den Piłsudski-Feiern zu den historisch-politischen Jahrestagen: zum 6. August, zum 11. November und zum 19. März. Zu einer Zeit, als erste Schwächen der Sanacja-Herrschaft offenkundig wurden, waren die Feierlichkeiten zum zehnjährigen Bestehen der Republik 1928 ein geeignetes Mittel, diese Defizite zu überdecken und die überragende Rolle Piłsudskis bei der Wiedererlangung der Unabhängigkeit zu betonen. Es gab eine erste Welle an Veröffentlichungen über den Marschall und eine Zunahme des Denkmalbaus und der Straßenbenennung, so zum Beispiel die Benennung des Piłsudski-Platzes in Warschau.
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Im Wirken des Instituts zur Erforschung der Neuesten Geschichte Polens – das Piłsudskis Anhänger schon 1923 gegründet hatten – seit 1926 und vor allem in der Aufnahme des Piłsudski-Mythos in die Schulbücher durch die Schulreform 1932 sind Ansätze einer Institutionalisierung zu finden. Die erste Werkausgabe der "Schriften-Reden-Befehle" [9] kanonisierte seine Äußerungen. Dies alles bedeutete letztlich eine staatliche und gesellschaftliche Normierung seiner Aussagen und seines Wirkens. Somit wurde Piłsudski monumentalisiert und zum charismatischen 'Genius der Unabhängigkeit' stilisiert. Zugleich wurde der Helden-Mythos um ihn ausgebaut.
Die Feierlichkeiten zum Piłsudski-Begräbnis 1935
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Die Begräbnisfeierlichkeiten stellten den Katalysator für den Piłsudski-Kult und den Auftakt des Totenkultes dar. Als Totenkult kann man im Gegensatz zum Kult um lebende Persönlichkeiten die Verehrung von verstorbenen Menschen bezeichnen, in der sämtliche Komponenten eines politischen Kultes (Mythos, Ritual, Symbol und Institutionalisierung) enthalten sind.
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Den 'Regisseuren' des Begräbnisses, den Epigonen Piłsudskis, war klar, dass die Feierlichkeiten über die üblichen Staatsbegräbnisse herausragen müssten: "Das Zeremoniell des Begräbnisses des Marschall Piłsudski soll beispiellos für die Zukunft sein." [10] Insofern wurde mit aller Sorgfalt trotz der kurzen Zeit das Begräbnis geplant. Zunächst wurde der Leichnam Piłsudskis in einem nächtlichen Trauerzug aus dem Belvedere-Palais in die Johannes-Kathedrale in der Altstadt überführt (15.V.1935) und dort aufgebahrt. Die Kirche wurde mit weiß-roten Fahnen und Schützenadler geschmückt. Am 17. Mai fand dann dort der Trauergottesdienst statt, danach führte der Trauerzug, an dem staatliche, gesellschaftliche und kirchliche Würdenträger sowie ausländische Staatsgäste teilnahmen zum Feld von Mokotów, wo die 'letzte Parade' des polnischen Militärs vor Piłsudski stattfand. Danach wurde der Sarg auf einen offenen Waggon geladen und in einer nächtlichen Fahrt über Kielce nach Krakau überführt.

Abb. 1

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Die Bevölkerung konnte an den Bahnhöfen Abschied von Piłsudski nehmen. Von symbolischer Bedeutung war dabei die Route: Sie verband die für den Piłsudski-Mythos zentralen Wirkungsorte Krakau, Kielce und Warschau auf symbolisch eindringliche Weise. Dies galt auch für den Trauerzug in Krakau: Er führte vom Bahnhof über den traditionellen 'Königsweg' durch die Altstadt zur Wawel-Kathedrale, wo Piłsudski in der Leonards-Gruft beigesetzt wurde. Das Herz Piłsudskis wurde erst Ende Mai 1935 provisorisch in der Theresienkirche in Wilna beigesetzt, weil das Mausoleum auf dem militärischen Teil des Rossa-Friedhofes mit den Gräbern der 1919/20 Gefallenen noch nicht fertig gestellt war. Erst 1936 wurde es, dem Wunsch Piłsudskis gemäß, dort zu Füßen der sterblichen Überreste seiner Mutter, feierlich beigesetzt.

Abb. 2

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In allen größeren Ortschaften Polens fanden im Mai 1935 noch Trauerveranstaltungen statt, die die Behörden, Institutionen und gesellschaftlichen Vereinigungen organisierten.
Hunderttausende säumten während der Feierlichkeiten die Straßenränder. Das Ereignis wurde gefilmt und nur wenige Tage und Wochen nach dem Begräbnis in allen Provinzstädten gezeigt. Die Begräbnisfeierlichkeiten stellten ein besonderes Ritual dar. Alle in jedweder Form an diesen Ritualen Teilnehmenden erlebten in sinnlich-physischer Weise das, was der Trauerdiskurs verbal verbreitete: Es ging darum, das 'Erbe' des Marschalls zu bewahren. Die "funerale Signatur" (Ackermann) bei den Trauerfeierlichkeiten, die Verwendung von Symbolen des Staates und des Piłsudski-Lagers sowie der Trauerdiskurs machten den hohen Grad der Identifizierung Piłsudskis mit dem polnischen Staat deutlich und schlossen die Teilnehmenden zu einer communio zusammen. Hierdurch wurde der Identitätsverlust, der durch das Ableben Piłsudskis eingetreten war, durch ein neues Identifikationsangebot, das heisst durch die kollektive Trauer, kompensiert.
Der Totenkult 1935-1939
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Dieses Identifikationsangebot wurde im Totenkult immer wieder erneuert: In den Jahren 1935 bis 1939 verdichtete sich die kultische Verehrung Piłsudski. Neue Formen und Funktionen nahm sie jedoch nicht an. Daher ist der Totenkult als eine weitere Phase des bis 1935 entstandenen Kultes zu werten, dessen Traditionen er fortführte. Stärker als der Namenstag wurde nun der Todestag begangen. Der Ablauf der Feierlichkeiten zum 12. Mai wurde 1936 vom "Obersten Komitee zur Bewahrung des Gedächtnisses an Marschall Piłsudski" entwickelt. Der 12. Mai stellte nun den rituellen Schwerpunkt des Totenkultes dar. Die Feiern zum 6. August verloren endgültig ihre Bedeutung für den Piłsudski-Kult, weil sie durch die Uneinigkeit des Regierungslagers nicht mehr dafür geeignet waren. Auch die Piłsudski-Feiern zum 11. November, der seit 1937 gesetzlicher Feiertag war, wurden zeitweise aus politischen Gründen von der staatlichen Propaganda in den Hintergrund gedrängt.
 
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In dieser Phase wurde der Kult jedoch vollkommen institutionalisiert, indem das Oberste Gedächtniskomitee die Aufgabe erhielt, alle Ausdrucksformen des Piłsudski-Kultes zu organisieren, zu harmonisieren und zu genehmigen. Weitere wichtige Institutionen waren das 1936 nach dem Marschall benannte Piłsudski-Institut zur Erforschung der Neuesten Geschichte Polens und das Piłsudski-Museum im Belvedere. Es entstand eine Welle von Benennungen von Straßen und Institutionen nach Piłsudski. Außerdem gab es einen Denkmal-'Boom'. Durch den Totenkult wurde der Marschall endgültig mythisiert, was sich etwa symbolisch durch den Ort seiner Beisetzung in der Grablege der polnischen Könige, in der Wawel-Kathedrale in Krakau, ausdrückte. Dies kam einer Apotheose Piłsudskis als unsterblicher Retter Polens gleich.
Die Komponenten des Piłsudski-Kultes und dessen Funktionen bis 1939
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Schon in der ersten Phase des Piłsudski-Kultes wurden die Medien des Kultes etabliert, die in seiner weiteren Entwicklung noch ausgebaut, jedoch nicht grundsätzlich verändert wurden. Dies sind zunächst die mit Piłsudski verbundenen Publikationen, aber auch Periodika und nach 1932 auch Schulbücher. In ihnen wird das von dem Piłsudski-Lager vertretene Piłsudski-Bild vermittelt, das aufgrund seiner höchst selektiven Interpretation der neuesten Geschichte Polens, das nur durch Piłsudskis 'bewaffnete Tat' entstanden sei, als Mythos zu bezeichnen ist.
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Eine weitere wichtige Komponente waren die Piłsudski-Feiern zum 6. August, 11. November, 19. März und 12. Mai als jährlich wiederkehrende Rituale sowie die Begräbnisfeierlichkeiten als herausragendes Ritual. Die politischen Symbole wie Straßenbenennungen, Herausgabe von Briefmarken und Münzen, die erst nach dem Maiumsturz durch die Piłsudski-Anhänger eingeführt werden konnten, stellten weitere Vermittlungsformen dar. Zunehmend wurden auch die Symbole des Piłsudski-Lagers, der 'Marsch der Ersten Brigade' (siehe Anhang) und der Schützenadler, verwandt. Dies gilt auch für die Denkmäler, die in großer Anzahl erst nach 1926, und zwar vor allem 1928 und dann nach 1935, errichtet worden sind.

Abb. 3

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Der im Kult enthaltene Mythos umfasste mehrere miteinander verwobene Aspekte, die auch bildlich dargestellt wurden (siehe die Abbildungen). Es ist das Bild von Piłsudski als dem Schöpfer des polnischen Heeres, das sich auf die von ihm geführten Schützen, die Erste Brigade und insgesamt auf seine 'bewaffnete Tat' bezieht. Außerdem wird er als Wiedererrichter und Baumeister des unabhängigen Polen und als Wächter des polnischen Ruhmes dargestellt. Diese Interpretation ist nicht nur eine Folge seiner militärischen Leistungen bis 1920, sondern auch seiner Funktion als Diktator seit 1926 – war er doch unter der Parole der 'moralischen Sanierung' angetreten. Dies bedingt schließlich die Vorstellung von Piłsudski als 'größtem Erzieher' seines Volkes und schließlich als dem 'größten Polen der Geschichte'. Dadurch wurde er zum Symbol Polens und der Unabhängigkeit stilisiert. Durch den Totenkult kam noch als letzter Bestandteil des Mythos sein 'ideelles' Testament hinzu, als welches seine Taten und Schriften gewertet wurden.

Abb. 4
Abb. 5

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Sein Wirken wurde im Sinne des (durch ihn erfolgreichen) polnischen Freiheitskampfes als Engagement für die Größe des demokratischen polnischen Staates interpretiert, wobei vor allem seine antirussische bzw. antisowjetische Haltung hervorgehoben wurde. Der Mythos knüpfte damit zugleich an das Bild von Polen als 'Vormauer' der Christenheit und des 'zivilisierten Europas' an – denn Piłsudski habe 1920 Europa vor der 'roten Flut' gerettet. Insbesondere dieser Aspekt des Mythos wurde für seine weitere Wirksamkeit bedeutsam. Insgesamt lässt sich feststellen, dass der Piłsudski-Kult in dem Maße zunahm, wie die Defizite seines Lagers, damit auch seiner politischen Rolle, deutlich wurden und sich Piłsudski aus dem politischen Alltagsgeschäft zurückzog. Die Lücke, die er hinterließ, musste schließlich durch den Totenkult gefüllt werden. Dies erklärt auch, warum dieser weitaus stärkere Ausmaße annahm, warum er stärker institutionalisiert und die Verehrung in Form von Ritualen und insbesondere von Symbolen vorangetrieben wurde als der Personenkult.
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In den Vermittlungs- und Ausdrucksformen des Piłsudski-Kultes lassen sich die Funktionen für das Regime erkennen. Der Piłsudski-Kult diente zunächst der Legitimation des Regimes. Indem seine Leistungen als überragend und die Existenz Polens sichernd dargestellt wurden, konnte die Herrschaft der Sanacja begründet werden. Darüber hinaus diente er der Identitäts- und historischen Bewusstseinsbildung, weil die Rituale und auch die Symbole der Selbstvergewisserung der Verehrenden dienten. Es wurde dabei ein auf Piłsudski fixiertes und auf die staatliche Existenz konzentriertes Geschichtsbild vermittelt, das auch versuchte, die Minderheitenbevölkerung, immerhin circa 30 Prozent des Staatsvolkes, einzubeziehen.
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Diese Funktion war umso dringlicher, weil der wiedergegründete polnische Staat auch in ideeller Weise vereinheitlicht werden musste: Nur die Persönlichkeit, die sich um ganz Polen verdient gemacht hatte, bzw. die mit diesem Verdienst verbundene Symbolik war dazu geeignet, eine gemeinsame Identität für alle Staatsangehörigen, auch für die Minderheiten zu schaffen. Durch neue Symbole und Mythen sollte der "Glauben an Polen bestimmt" [11] und die Bevölkerung durch diesen gewonnen werden. Die Person des Marschalls bot sich als einzige und aufgrund der Facetten des Mythos in mehrfacher Weise an, da der Kult sie als Ideal und Vorbild der Gesellschaft und der gemeinsamen Verpflichtung vorstellte. Die Helden und Mythen der Teilungszeit, insbesondere Tadeusz Kościuszko, verloren diese Funktion, weil sie letztlich doch nur eine Niederlage erlitten hatten. Die 'bewaffnete Tat' Piłsudskis jedoch war erfolgreich und führte zur Unabhängigkeit. Gerade die im Mythos enthaltenen Interpretationen seines Wirkens für ein souveränes und starkes Polen und vor allem die zuletzt genannte Funktion des Piłsudski-Kultes als Mittel der Identitäts- und Bewusstseinsbildung stellten die Grundlage für die weitere Entwicklung des Piłsudski-Kultes nach 1939 dar.
Der Totenkult im Zweiten Weltkrieg
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Die weitere Entwicklung des Totenkultes um Piłsudski verlief unter völlig anderen Bedingungen als zur Zeit der Zweiten Republik. Mit der deutschen und sowjetischen Besetzung Polens endete der Piłsudski-Mythos nicht, erhielt aber andere Akzente dadurch, dass die administrativ-staatlichen Vorgaben bezüglich des Kultes obsolet geworden waren. Da die Heimatarmee eine Untergrundarmee war, wurde letztlich nur in Publikationen auf Piłsudski rekurriert, so dass hier besser von Verehrung und Mythos zu sprechen wäre. Interessant ist hierbei, dass die Heimatarmee von ehemals in Opposition zur Sanacja stehenden Gruppierungen, insbesondere von Angehörigen der Bauernpartei PSL dominiert wurde. Der Piłsudski-Kult zeigte dennoch bei den Untergrundkämpfern insofern noch seine Wirkung, als sie etwa glaubten, dass der Krieg gegen Deutschland anders verlaufen wäre, wenn Piłsudski noch gelebt hätte.
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Betont wurde besonders die Rolle Piłsudskis als Gründer der Legionen und der konspirativen polnischen Militärorganisation, auch wurden Äußerungen Piłsudskis als Motto und als Leitgedanken für den polnischen Untergrundkämpfer zitiert. Hierbei stand also das Bild Piłsudskis als aufopferungsvoller Freiheitskämpfer, aber auch als siegreicher Führer und Erzieher seines Volkes im Vordergrund, um so die Soldaten zum Widerstand und aufopferungsvollen Kampf gegen die deutsche Besatzungsmacht aufzufordern.
Der Totenkult in der polnischen Emigration seit dem Zweiten Weltkrieg
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Diese Funktion lässt sich auch in der Frühphase der polnischen politischen Emigration erkennen. Sie bestand vor allem aus Eliten der Zweiten Republik und versammelte sich seit den 1940er Jahren vor allem um die Piłsudski-Institute in New York und London, die als Nachfolgerinnen des gleichnamigen Instituts im Vorkriegspolen errichtet wurden. Während des Zweiten Weltkrieges wurde betont, dass er unter außergewöhnlichen Bedingungen zu siegen verstanden sowie die territoriale Integrität und Größe Polens bewahrt habe. Während Piłsudski die nationale Katastrophe habe kommen sehen, hätten seine schwachen Nachfolger sie nicht verhindern können. Piłsudski-nahe Exilkreise behielten diese Überzeugung durchgängig bei. Hinzu kam nach Errichtung der Volksrepublik Polen noch das aus dem Piłsudski-Kult der Vorkriegszeit übertragene Bild vom Freiheitskämpfer Polens (gegen Sowjetrussland), so dass dieses eine scharfe Abgrenzung zum kommunistischen Regime bedeutete.
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Die Piłsudski-Institute entwickelten sich immer mehr zu 'Hüterinnen' des Piłsudski-Kultes. Sie organisierten die Feiern zu den Jahrestagen in der Polonia, insbesondere zu 'runden' wie dem 100. Geburtstag Piłsudskis 1967, und veröffentlichten entsprechende Publikationen, teils wissenschaftlicher, teils populärwissenschaftlicher Art, in denen jedoch immer der Piłsudski-Mythos deutlich wird. Vor allem in den 1980er Jahren arbeiteten sie mit polnischen oppositionellen Gruppierungen zusammen und unterstützten sie, wie etwa anlässlich der Restaurierung des Piłsudski-Erdhügels bei Krakau.
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Diese Formen der Verehrung sind zwar auch als Kult zu charakterisieren, umfassen jedoch nur in weitaus geringerem Maße Komponenten des Kultes, zumal er mehr oder weniger nur von den führenden Kreisen der Emigration fortgeführt wurde, obwohl ein gewisses Maß an Piłsudski-Verehrung sicherlich auch bei den breiteren Schichten der Polonia zu finden ist.
Wichtigste Vermittlungsformen waren jedoch die Publikationen und weniger die Rituale, obwohl diese wie auch die Symbole erhalten blieben. Der Piłsudski-Kult diente zur politischen und sozialen Integration dieser Emigrationszirkel und als Ansporn, den eigenen Kampf gegen das kommunistische Regime in Polen fortzuführen.
Der Totenkult in der Volksrepublik Polen
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Das Verhältnis des kommunistischen Regimes zum Piłsudski-Kult ist durch Verschweigen und Vergessen–Lassen–Wollen zu kennzeichnen. So wird von Zeitzeugen berichtet, dass etwa mit Piłsudski in Verbindung zu bringende Exponate in Museen zerstört werden sollten, diese jedoch immer wieder von Museumsmitarbeitern in den hintersten Winkeln der Magazine versteckt wurden.
Symptomatisch für diese Politik ist etwa auch, dass die Warschauer Universität, die 1935 nach Piłsudski benannt worden war, nicht in einem offiziellen Akt umbenannt wurde – nur das darauf hinweisende Namenspartikel wurde (bis heute) einfach weggelassen. Piłsudski war bis Ende der 1960er Jahre ein politisches Tabuthema. Dies wurzelte vor allem in seiner antisowjetischen Haltung, deren wichtiger Ausdruck der Sieg von 1920 war.
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Als aber deutlich wurde, dass die Erinnerung an den Marschall fortbestand, wechselte das kommunistische Regime den Weg, jedoch nicht das Ziel: Nun setzte man sich mit der Piłsudski-Legende auseinander, wobei man jedoch die 'schwarze Legende', die negativen Seiten Piłsudskis hervorzuheben versuchte. Dieses Verhalten ist als Reaktion auf den immer noch in der Bevölkerung stark vorhandenen Piłsudski-Mythos zu kennzeichnen.
Unter Einfluss der politischen, Piłsudski-nahen Exilkreise lebte die Piłsudski-Verehrung in Oppositionskreisen fort. So erlaubte etwa in den 1970er Jahren Karol Wojtyła als Krakauer Erzbischof und 'Hausherr' der Wawel-Kathedrale Kranzniederlegungen und Gedenkfeiern in der Krypta mit dem Sarg Piłsudskis.
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Insbesondere lebte der Kult im Dunstkreis der Unabhängigen Gewerkschaft Solidarität weiter. Hiervon zeugen zum Beispiel zahlreiche illegale Publikationen, die häufig Reprints von Publikationen aus der Zweiten Republik sind, Abbildungen Piłsudskis auf Untergrundgeldscheinen, Kranzniederlegungen an mit Piłsudski verbundenen Gedenkorten und Piłsudski-Feiern und so weiter. Dabei benutzte die Solidarität die Figur Piłsudskis als Symbol ihrer Opposition gegen das System und berief sich auf sein ideelles Erbe, das sich mit den Schlagworten Freiheit und Unabhängigkeit (verstanden im Sinne der politischen Unabhängigkeit von der Sowjetunion) und Demokratie umschreiben lässt.
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In der Endphase der Volksrepublik Polen, seit etwa Mitte der 1980er Jahre, formierten sich zahlreiche illegale Gedächtnisgesellschaften, die sich auf die vom Piłsudski-Mythos vertretenen Ideale des freien, demokratischen Polen beriefen. Ihr Ziel war es, Formen des Gedächtnisses, insbesondere durch Gedenktafeln und Denkmäler sowie durch Publikationen, durchzusetzen. Unter dem starken Druck einer (nicht legalen) Piłsudski-Verehrung begannen schließlich auch die Parteiorgane, sich mit dem Marschall in der Öffentlichkeit auseinander zu setzen. Dies ist als ein Versuch zu werten, dadurch wieder an Popularität und Rückhalt in der Bevölkerung zu gewinnen. Ein erster Schritt war die kritische Würdigung des Marschalls anlässlich des 50. Todestags 1985. Schließlich legte der Staatsratsvorsitzende Barcikowski zum 70. Jahrestag der polnischen Unabhängigkeit 1988 an den Särgen Piłsudskis – und seines politischen Gegners Władysław Sikorski – Kränze nieder. An den 11. November wurde seitdem auch offiziell erinnert.
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Eine Institutionalisierung war – abgesehen von den illegalen Gedenkgesellschaften – in dieser Zeit aufgrund der politischen Situation nicht möglich. Dennoch kann man in bezug auf die politische Opposition von einem politischen Kult sprechen, da sich die ’Solidarität’ des Mythos, der Rituale und Symbole des Piłsudski-Kultes bediente. Im Mittelpunkt der Verehrung stand Piłsudski als Freiheits- und Unabhängigkeitskämpfer, als Kämpfer für Demokratie und gegen Sowjetrussland. Diese Hauptmotive griffen ebenfalls auf den alten Piłsudski-Mythos zurück, jedoch mit nuancierter Akzentuierung, die auf der oppositionellen Haltung gegenüber dem kommunistischen Regime beruhte.
Der Totenkult in der Dritten Republik
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Nach dem Fall des kommunistischen Regimes und der staatlichen Zensur stand einem uneingeschränkten 'freien' Piłsudski-Kult kein Hindernis im Weg. Er wurde nun von den Behörden auf verschiedenen Ebenen der staatlichen Verwaltung gefördert und erhielt somit auch wieder institutionellen Charakter. 1990 wurde der 11. November wieder als Staatsfeiertag eingeführt. [12] Es kam zu einer Welle von Umbenennungen von Straßen, so dass fast jede größere Stadt eine Piłsudski-Straße oder -Platz erhielt; Institutionen wurden wieder nach Piłsudski benannt. Es entstanden zahlreiche Denkmalsprojekte, die häufig alte Denkmäler aus der Zwischenkriegszeit wieder herstellten oder damals nicht realisierte nun verwirklichten, so zum Beispiel in Kattowitz 1993 und in Lublin 2001.

 
Abb. 6
Abb. 7

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Symptomatisch für diese Orientierung an Piłsudski ist der Umgang mit ihm in Warschau. Hier fand die symbolträchtigste Umbenennung statt: Der Sieges-Platz (gemeint war der Sieg der Roten Armee) wurde wieder, wie in der Zweiten Republik, nach Piłsudski bezeichnet. Auch erhielt die Akademie für Leibeserziehung ihre Benennung nach dem Marschall aus der Zwischenkriegszeit zurück. Es wurden zwei Piłsudski-Denkmäler geschaffen. Das erste wurde 1995 auf dem Piłsudski-Platz enthüllt. Es war und ist für viele zu klein und würde ihn nicht genügend würdigen, zumal das Denkmal am Rande eines Parkplatzes steht. Daher wurde 1998 ein zweites, monumentaleres vor dem Belvedere errichtet.
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Der Bezug auf den Piłsudski-Mythos bedeutete ein Anknüpfen an die Traditionen der Zweiten Republik, was sich schon in der Selbstbezeichnung des Staates nach 1989 als Dritte Republik ausdrückt. Insbesondere wurde der 11. November zu einem Kristallisationspunkt des Gedenkens an Piłsudski, auch wenn es vor allem in den Anfangsjahren der Dritten Republik verschiedene, meist von Gedenkorganisationen veranstaltete Feiern zum 19. März gab. Diese, wie auch die Curricula und Schulbücher, weisen auf ein durchweg positives, unkritisches Piłsudski-Bild hin, das den Mythos aufgreift. Piłsudski stand als Freiheitsheld, als Schöpfer und Wächter der polnischen Unabhängigkeit im Mittelpunkt, als jemand, der sich für die Freiheit und Demokratie der Polen eingesetzt habe, was etwa auch durch die Inschriften auf dem ersten Warschauer Piłsudski-Denkmal von 1995 auf dem Piłsudski-Platz deutlich wird. Der Grund liegt in der Suche nach einem neuen Selbstverständnis, das sich scharf vom kommunistischen Regime abgrenzte. Piłsudski bot sich aufgrund seiner im Mythos verklärten Erfolge an. Dadurch wurde an ein Geschichtsbild angeknüpft, dass vor allem antirussisch/antisowjetisch war.
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Die Flut an Benennungen und Denkmalsprojekten ebbte Ende der 1990er Jahre ab und ’beruhigte’ sich wie auch die Verehrung in Form der Piłsudski-Feiern, ohne jedoch zu versiegen. Dies weist darauf hin, dass ein gewisser Grad an nationaler und staatlicher Identität erreicht worden ist. Indiz hierfür ist etwa ein Umfrageergebnis der Wochenschrift Polityka [13] vom April 1997, wonach als wichtige polnische Persönlichkeiten nun Karol Wojtyła und Marie Curie-Skłodowska bezeichnet wurden und Piłsudski nur den dritten Platz belegte, während er 1987 noch den ersten Platz einnahm. Insgesamt wird deutlich, dass während der Anfangsjahre der Dritten Republik die Verehrung des Marschalls ein politischer Kult war. Sie umfasste die notwendigen Komponenten Mythos, Ritual und Symbol und war nicht zuletzt in einem gewissen Grade in Form der Feiern, der Involvierung der Behörden und anderer öffentlicher Organe mit Gedenkprojekten institutionalisiert.
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Der Piłsudski-Kult ist zu jeder Zeit politisch instrumentalisiert worden, was ein typisches Merkmal von politischen Kulten ist. Die Medien des Kultes: Publikationen, Rituale und Symbole variierten in der Intensität ihres Gebrauchs ebenso wie die inhaltlichen Nuancierungen des Piłsudski-Mythos, der jedoch im Kern immer darauf beruhte, dass Piłsudski als Freiheitskämpfer und daher als Schöpfer der polnischen Unabhängigkeit und damit als Symbolfigur des freien Polen gesehen wurde. Die Fortdauer dieses Bildes über verschiedene politische Systeme hinweg war nur möglich, weil durch den Mythos die Geschichte selektiv nach den eigenen Bedürfnissen interpretiert wurde. Dadurch konnte Piłsudski seine Aktualität bewahren. Daher diente er zu allen Zeiten und mit all den erwähnten Nuancierungen dazu, die fehlende oder beschädigte nationale Identität und Selbstverständnis zu kompensieren, diese weiterzuentwickeln und zu fördern.
Anmerkungen
[1] Rede des Ministerpräsidenten Felicjan Sławoj-Składkowski bei der Beratung des Gesetzes zum Schutz des Namens Piłsudskis im Sejm am 15.III.1938, zitiert in: Heidi Hein: Der Piłsudski-Kult und seine Bedeutung für den polnischen Staat 1926-1939, Marburg 2002, 491.
[2] Etwa: Daria Nałęcz / Tomasz Nałęcz: Józef Piłsudski. Legendy i fakty [Józef Piłsudski. Legenden und Fakten], Warszawa 1986.
[3] Hein: Piłsudski-Kult.
[4] Vgl. dazu Max Weber: Die drei reinen Typen der legitimen Herrschaft, in: ders.: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hg. von Johannes Winckelmann, Tübingen 1988, 475-488.
[5] Benno Ennker: Die Anfänge des Lenin-Kultes in der Sowjetunion, Köln u.a. 1997.
[6] Friedrich Doucet: Im Banne des Mythos, Gütersloh 1982, 184.
[7] Reinhard Löhmann: Der Stalinmythos. Studien zur Sozialgeschichte des Personenkultes in der Sowjetunion (1929-1935), Münster 1990.
[8] Grundlegende Biographien sind: Andrzej Garlicki: Józef Piłsudski 1867-1935, Warszawa 1988 und Włodzimierz Suleja: Józef Piłsudski, Wrocław u.a. 1995.
[9] Józef Piłsudski: Pisma, Mowy, Rozkazy [Schriften, Reden, Befehle], 8 Bde., Warszawa 1930-1936.
[10] Archiwum Akt Nowych [Archiv der Neuen Akten, Warschau], Prezydium Rady Ministrów, Protokóły Posiedzeń [Präsidum des Ministerrats, Sitzungsprotokolle], 78, B. 442.
[11] Droga [Der Weg] Nr. IV/V 1927, 2.
[12] Vgl. zur Staatssymbolik der Dritten Republik: Arnold Bartetzky: Der wiedergekrönte Adler. Polens visuelle Selbstdarstellung, in: Osteuropa 53 (2003), 910-920. Vgl. auch Wolfgang Schlott: Piłsudski-Kult. Die Wiedergeburt einer charismatischen Persönlichkeit in der Solidarność-Ära (=Forschungsstelle Osteuropa Bremen. Arbeitspapiere und Materialien 48), Bremen 2003.
[13] Polityka [Politik], 11.IV.1998.

Autorin:
Dr. Heidi Hein
Herder-Institut e.V.
Gisonenweg 3-5
35037 Marburg
heidi.hein@staff.uni-marburg.de

Empfohlene Zitierweise:

Heidi Hein: Freiheitsheld und Symbolfigur: Der Piłsudski-Kult als Mittel nationaler Identitäts- und Bewusstseinsbildung, in: zeitenblicke 3 (2004), Nr. 1 [09.06.2004], URL: <http://zeitenblicke.historicum.net/2004/01/hein/index.html>

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