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  3 (2004), Nr. 1: Inhalt
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Rolf Reichardt

Studium in Heidelberg (vor allem bei Reinhart Koselleck), Dijon, Marburg und Paris (im Mai 1968), Promotion mit einer begriffsgeschichtlichen Arbeit über die Zusammenhänge zwischen Aufklärung und Revolution in Frankreich. Nach bibliothekarischer Zusatzausbildung seit 1971 Fachreferent an der Universitätsbibliothek Mainz, seit 1991 Leiter des dortigen Sammelschwerpunkts 'Frankreichforschung: Kultur – Gesellschaft – Regionen', seit 1996 zugleich Honorarprofessor für Neuere Geschichte an der Justus-Liebig-Universität Gießen.

Ein kulturhistorisches Experimentierfeld par excellence: Rolf Reichardt über Revolutionsforschung, Totenkult und Erinnerungskultur

Das Gespräch führte Gudrun Gersmann.
 
<1>
Herr Reichardt, aus Ihrer Feder stammen zahlreiche Publikationen zur Geschichte des Ancien Régime und zur Französischen Revolution. [*] Verraten Sie uns, was Ihre Liebe zum Thema geweckt hat? Ist es indiskret zu fragen, welcher Revolutionshistoriker Sie am stärksten persönlich beeinflusst hat?

Das Thema reizt mich immer wieder, weil in ihm tendenziell demokratische Basisbewegungen eine wesentliche Rolle spielen und weil die überaus reiche Quellenlage es erlaubt, diese politischen Akkulturationsprozesse plurimedial besonders genau und detailliert zu verfolgen – gleichsam auf einem kulturhistorischen Experimentierfeld.
Stark beeinflusst hat mich zum einen der junge François Furet, brillant verband er in den 1960er- und 1970er-Jahren die neue serielle Aufklärungsforschung mit scharfsinniger Kritik an der marxistisch-leninistischen Revolutionshistoriographie. Zum anderem hat mich methodisch begeistert der mentalitätshistorische Ansatz von Michel Vovelle, primär in seiner wegweisenden Regionalstudie über die Dechristianisierung in der Provence (1973).

 
<2>
Beim Blick auf die Literaturlandschaft drängt sich der Eindruck auf, dass nach der Veröffentlichungswelle des Bicentenaire eine gewisse Publikationsflaute in Bezug auf die Revolutionsgeschichte zu beobachten ist. Teilen Sie diese Einschätzung?

Ja – und das erklärt sich schon allein aus dem Auslaufen der jubiläumsbezogenen Fördermittel in Frankreich, aus dem Abspringen vieler 'Trittbrettfahrer', die jeweils aktuelle Themen bevorzugen, und aus dem Abflauen der leidenschaftlichen Debatten um die 'Entgleisung' der Revolution, um den Jakobinismus, den 'Völkermord' in der Vendée usw. Ich sehe darin weniger einen Nachteil als vielmehr einen Vorteil. Nachdem die Revolution während des Bicentenaire gleichsam unter einem Meer von Rosen, das heißt auch: von wenig substanziellen Publikationen und Veranstaltungen, begraben worden ist, kann sie nun ruhiger und gründlicher erforscht werden als unter der Jubiläumshektik. Es erscheinen derzeit vergleichsweise wenige, aber wissenschaftlich gewichtige Quellenstudien.

 
<3>
Welche 'Trends' der Revolutionsforschung in Frankreich lassen sich derzeit konstatieren?

Nachdem mit Albert Soboul und François Furet die ebenso streitbaren wie einflussreichen Wortführer des 'marxistischen' und des 'revisionistischen' Lagers verstorben sind, hat sich der schroffe Gegensatz der verfeindeten Richtungen relativiert. Die auf 'Normalmaß' gemäßigten Auseinandersetzungen verlaufen nun zwischen der mehr sozial- und kulturhistorisch orientierten Forschung einerseits und einem 'klassischeren', stärker politik- und ideengeschichtlich Ansatz andererseits, der sich auch geographisch verorten lässt.

 
<4>
Sehen Sie Unterschiede zwischen einer 'Revolutionsforschung in der Provinz' und der Pariser Revolutionsforschung?

Ja, das meinte ich mit der letzten Bemerkung. Die 'Politiker' um Leitfiguren wie Jean-Clement Martin und Patrice Gueniffey beherrschen weithin die gutdotierten Posten der Pariser Forschungslandschaft mit dem Institut für Revolutionsgeschichte an der Sorbonne und dem Institut Raymond Aron, während die 'KulturhistorikerInnen' wie Christine Peyrard, Philippe Bourdin und Eric Wauters im provinzialen Frankreich das Übergewicht haben, mit besonders deutlichen Schwerpunkten in Rouen und Aix-en-Provence.

 
<5>
Wie beurteilen Sie die aktuelle Situation der deutschen und amerikanischen Revolutionsforschung? Wohin 'geht' dort der Weg?

Die deutsche Revolutionsforschung kann einiges vorweisen und ist zum Bicentenaire u.a. in den USA bemerkenswert positiv aufgenommen worden, befindet sich jedoch inzwischen, wie ich meine, eher in einem kritischen Zustand. Es gibt zwar eine Reihe hoffnungsvoller NachwuchsforscherInnen wie Susanne Lachenicht und Daniel Schönpflug, aber dies sind Einzelkämpfer ohne institutionellen Rückhalt, ohne Vernetzung in einem Forschungsverbund, ohne die Möglichkeit, sich an mittelfristigen Arbeitsprojekten zur Revolution zu beteiligen. An Gegenständen für lohnende Gemeinschaftsprojekte – wie etwa die Pamphletistik – fehlt es wahrlich nicht, wohl aber an Forschern in leitenden Positionen, die sie anpacken und Andere zur Mitarbeit motivieren. Allerdings dürfte Letzteres angesichts der meist dürftigen und allgemein rückläufigen Französischkenntnisse bei den Studierenden mit der Zeit kaum leichter fallen.
Ganz anders in den USA. Wer dort einmal an der Jahrestagung der Society for French Historical Studies (http://fhs.ucdavis.edu/index.shtml) teilgenommen und erlebt hat, mit welcher Kompetenz und Disziplin in fünf Sektionen mehrere Tage lang neue Forschungen der über 2.000 Mitglieder vorgetragen und diskutiert werden, der registriert es als folgerichtig, wenn amerikanische Historiker jedes Jahr ein Dutzend neue Monographien zur Revolutionsforschung beisteuern. Dabei geht freilich der Trend weg von den geistgeschichtlichen Höhenflügen eines Keith M. Baker und den sozialhistorischen Erhebungen eines John Markoff hin zur soliden Politikgeschichte eines Timothy Tackett.

 
<6>
Das Thema dieser Ausgabe der zeitenblicke lautet ja 'Totenkult und Erinnerungskultur': welche Phasen der Revolution assoziieren Sie spontan damit?

Nicht die Phase der 'Terreur', wie Sie vielleicht erwarten, sondern die Jahre 1789 bis 1793, weil sich in dieser Zeit eine neue politische Erinnerungskultur für 'demokratische' Nationalhelden herausbildet – beginnend mit den Bastille-Siegern, forgesetzt mit den Pantheonisierungen und gipfelnd im revolutionären Kult um die Freiheitsmärtyrer Lepeletier, Marat, Chalier, Bara und Viala. Es handelt sich um eine Kultur, bei der das Zusammenwirken von Bildkünsten, Printmedien, Liedern, Hymnen und öffentlichen Festen besonders wichtig ist. Damals werden in Frankreich die Grundmuster der republikanischen Erinnerungskultur des 19. Jahrhunderts geprägt.

 
<7>
Im Rahmen des Gießener Sonderforschungsbereichs 'Erinnerungskulturen' leiten Sie selber seit einigen Jahren ein Projekt zur 'Europäischen Revolutionserinnerung in der europäischen Bildpublizistik (1789-1889)'. Der Bogen spannt sich dabei thematisch ja von der Französischen Revolution bis zur III. Republik: Welche Ergebnissen lassen sich zum jetzigen Zeitpunkt formulieren? Was macht für Sie den besonderen Reiz dieses Projektes aus?

Der Reiz besteht nicht zuletzt darin, mit der historisch-politischen Druckgraphik ein reichhaltiges Brachland zwischen Fach- und Kunsthistorie zu bearbeiten, um dort interkulturelle Vernetzungen und langfristige Zusammenhänge zu entdecken, welche die nach Ländern und engen Zeiträumen sektionierte Forschung bisher kaum wahrgenommen hat. Dabei spielen nicht nur symbolische Ereignisse und Revolutionsmotive, sondern auch und besonders die vielfältigen Formen von Bildzitaten eine maßgebliche Rolle. Wir sind zwar noch dabei, zigtausende relevanter Bildflugblätter und Presse-Illustrationen zu systematisieren, es zeichnet sich aber ab, dass die von der Französischen Revolution geprägte neue visuelle Kultur sich wenigstens bis 1871 – mit einer Reihe von Transformationen – über Westeuropa und darüber hinaus verbreitet hat und als eine transnationale Zeichensprache fungierte, die dann beim Siegeszug der Nationalstaaten verdrängt und 'vergessen' wurde.

 
<8>
In den vergangenen Jahren sind – als deutsche Antwort auf Pierre Noras 'Lieux de Mémoire' – zahlreiche Arbeiten zur Erinnerungskultur erschienen, bis hin zuletzt zu Etienne François´ 'Deutschen Erinnerungsorten'. Hat sich das Thema damit allmählich erschöpft oder sehen Sie perspektivisch noch weitere Entwicklungsmöglichkeiten? Welche Bereiche sind unter dem Stichwort Erinnerungskultur bislang möglicherweise noch viel zu wenig bearbeitet worden?

Auf der einen Seite ist es so modisch geworden, alle möglichen historischen Publikationen als Beiträge zur Erinnerungsforschung anzupreisen, daß sich allmählich ein Gefühl der Übersättigung einstellt. Das gilt wohl auch für die 'Erinnerungsorte', die in Frankreich eigentlich einen recht konservativen Ansatz verfolgten und auch in ihrer deutschen Anverwandlung sehr Disparates unter einem lockeren Dach zusammenfassen. Was dagegen weitgehend fehlt, ist meines Erachtens zweierlei: zum einen systematisches Nachdenken darüber, worin eigentlich das spezifisch Eigene der Erforschung der 'Erinnerungskulturen' im Unterschied zur übrigen Fachhistorie besteht. Zum anderen eine psychologisch, soziologisch und kunstwissenschaftlich fundierte Theorie der Erinnerungsmedien, ihrer je spezifischen Leistungen, ihrer intermedialen Beziehungen und Wirkungen auf die kollektiven geschichtlichen Erinnerungsprozesse.

 
<9>
Last but not least: Wie wird die deutsche Forschung zur Erinnerungskultur in Ihren Augen in Frankreich wahrgenommen?

Kaum – es sei denn, man unterläuft den ungebrochenen 'Haxagonalismus' der Franzosen, indem man französisch publiziert.

 
<10>
Herr Reichardt, vielen Dank für das Interview.
 

Anmerkungen:

[*]
Publikationen von Rolf Reichardt
 
(Hg.): Die Französische Revolution (Ploetz), Freiburg i.Br. 1988.
 
(Hg.): Die Bastille. Symbolik und Mythos in der Revolutionsgraphik. Eine Ausstellung des Landesmuseums Mainz und der Universitätsbibliothek Mainz, Mainz 1989
 
(zusammen mit Klaus Herding): Die Bildpublizistik der Französischen Revolution, Frankfurt a.M. 1989.
 
(zusammen mit Hans-Jürgen Lüsebrink): Die "Bastille". Zur Symbolgeschichte von Herrschaft und Freiheit, Frankfurt a.M. 1990.
 
(Hg.): Französische Presse und Pressekarikaturen 1789-1992, Katalog der Ausstellung der Universitätsbibliothek Mainz, 3. Juni bis 17. Juli 1992, Mainz 1992.
 
(zusammen mit Hans-Jürgen Lüsebrink): "Kauft schöne Bilder, Kupferstiche...". Illustrierte Flugblätter und französisch-deutscher Kulturtransfer 1600-1830, Mainz 1996.
 
(Hg. zusammen mit Hans-Jürgen Lüsebrink): Kulturtransfer im Epochenumbruch Frankreich-Deutschland 1770 bis 1815, 2 Bde., Leipzig 1997.
 
(Hg.): Aufklärung und Historische Semantik. Interdisziplinäre Beiträge zur westeuropäischen Kulturgeschichte (ZHF, Beiheft 21), Berlin 1998.
 
Das Blut der Freiheit. Französische Revolution und demokratische Kultur (Europäische Geschichte), Frankfurt a.M. 1998 (3. Aufl. 2002).
 
(Hg. zusammen mit Christoph Danelzik-Brüggemann): Das internationale Bildgedächtnis eines welthistorischen Ereignisses. Die Tableaux historiques de la Révolution française, Göttingen 2001.
 

Gesprächspartner

Prof. Rolf Reichardt
Universitätsbibliothek
Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Saarstraße 21
55099 Mainz
rolf.reichardt@t-online.de

 
Prof. Dr. Gudrun Gersmann
Universität zu Köln,
Historisches Seminar - Geschichte der Frühen Neuzeit
Albertus-Magnus-Platz (Philosophicum)
50923 Köln
gudrun.gersmann@uni-koeln.de
 

Anmerkung der Redaktion:

Empfohlene Zitierweise:

Ein kulturhistorisches Experimentierfeld par excellence: Rolf Reichardt über Revolutionsforschung, Totenkult und Erinnerungskultur, in: zeitenblicke 3 (2004), Nr. 1 [09.06.2003], URL: <http://www.zeitenblicke.historicum.net/2004/01/interview/index.html>

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ZEITENBLICKE ISSN: 1619-0459