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Nicole Marrenbach
Memoiren Münchner Juden als Quelle für die 'Arisierungs'-Forschung
Abstract
Der Beitrag befasst sich mit der Bedeutung von Memoiren für die Forschung zur wirtschaftlichen Verfolgung der Juden in der NS-Zeit. Subjektive Erinnerungszeugnisse sind eine wichtige Ergänzung zu den klassischen Quellen, wobei sich bei ihrer Analyse auch Probleme ergeben und gewisse Hindernisse zu bewältigen sind. Der Aufsatz erläutert unterschiedliche Kategorien von Memoiren: Auf der einen Seite soll deutlich gemacht werden, wie sich vor und nach 1945 verfasste Memoiren unterscheiden. Im ersten Falle erscheinen die Aufzeichnungen häufig emotionaler und lebendiger, da die Autoren sich noch mitten im 'Geschehen' befanden. Die später aufgezeichneten Erinnerungen sind dagegen stärker durch - teilweise nachträglich erworbenes - Faktenwissen ergänzt und häufig durch das kollektive Gedächtnis überformt. Auf der anderen Seiten spielt auch das Alter der Autoren im Nationalsozialismus eine entscheidende Rolle. Im Gegensatz zu damals bereits erwachsenen Opfern der 'Arisierung' stellen Personen, die die NS-Zeit als Kinder erlebt haben, ihre Erlebnisse subjektiver und emotionaler dar.
Erinnerungszeugnisse als historische Quelle
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"Ich kenne keine Mitteilungsart, die uns die Wirklichkeit der NS-Diktatur fassbarer machen kann, als es die Prosa Klemperers tut." Diese Worte schrieb Martin Walser über die Tagebücher des Dresdner Universitätsprofessors Victor Klemperer. [1] Man muss Walser zustimmen: Tagebücher und Memoiren faszinieren durch ihre Authentizität. Hier scheint die 'Wirklichkeit' der Vergangenheit unmittelbar auf das Papier gebannt zu sein. Erinnerungszeugnisse sind populär, weil sie scheinbar einen Einblick in die Lebenswirklichkeit einzelner Menschen gewähren: Große Geschichte wird mit dem konkreten Schicksal einer Person verbunden, auf die Welt des kleinen Mannes herunter gebrochen und dadurch eindrücklich und nachvollziehbar. Dies trägt sicher erheblich dazu bei, dass Memoiren einen besonderen Platz in der Erinnerungskultur einnehmen und zu den meistgelesenen Geschichtsquellen gehören.
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Die Interpretation von Erinnerungszeugnissen birgt allerdings große Schwierigkeiten: Bei allen Erinnerungsaufzeichnungen - selbst im Falle der zeitnahen Tagebucheintragung - bringt die Darstellungsform einen narrativen Gestaltungszwang mit sich. Erlebnisse müssen in eine zeitliche und logische Reihenfolge gebracht, eine Geschichte möglichst lückenlos erzählt werden. Bewusst und unbewusst konstruieren die Verfasser hier Erklärungen für fehlende Informationen und Brücken über Lücken der Erinnerung.
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Die Aufzeichnungen sind auch geprägt durch persönliche Faktoren: Scham, Aggression, aber auch Euphorie und Sympathie können die Darstellung erheblich beeinflussen. Es gibt vor allem im Zusammenhang mit traumatisierenden Erfahrungen vielfach Schilderungen von Zeitzeugen, die - nicht selten durch die widersprüchliche Darstellung der Zeitzeugen selbst - widerlegt werden. Dies ist teilweise auf die individuelle emotionale Verfassung, teilweise auf spätere Überformung der Erinnerung durch andere Informationsquellen zurückzuführen. [2] Memoiren und Erinnerungsquellen geben zudem nur Zeugnis über die Wahrnehmung und Einschätzung aus der Perspektive des Verfassers ab und können nur das verarbeiten, was der Verfasser selbst erlebt und erfahren hat oder was ihm zur Kenntnis kam.
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Ein besonderes Augenmerk muss man bei der Interpretation von Erinnerungszeugnissen daher auf den Zeitpunkt und Verfahren bei der Abfassung bzw. der Überarbeitung haben. Je größer der zeitliche Abstand zwischen Ereignis und Aufzeichnung ist, umso mehr verblasst der unmittelbare persönliche Eindruck und umso stärker werden die persönlichen Erinnerungen durch die Inhalte des kollektiven Gedächtnisses - bewusst und unbewusst - überformt. Ziehen die Verfasser dabei noch die Hilfe von Familienmitgliedern, Koautoren oder Forschungsliteratur heran, dann sinkt der authentische Anteil des Endproduktes zunehmend.
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Die Grenzlinie zwischen individuellem Eindruck und Fremdwissen ist nicht leicht zu ziehen. Anders gewendet ist dieses Problem aber gleichzeitig eine Chance für neue Erkenntnisse: Erinnerungszeugnisse sind an einem Schnittpunkt zwischen individuellem, familiärem, kommunikativem und kulturellem Gedächtnis angesiedelt. Liest man diese Quellen kritisch mit dem angemessenen methodischen Instrumentarium, dann können sie über die Frage nach der geschilderten historischen Erfahrung des Verfassers hinaus auch und vor allem Einblick in die gegenseitigen Überformungsprozesse der verschiedenen gesellschaftlichen Gedächtnisformen geben. [3]
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Unter dem Begriff der Erinnerungszeugnisse wird eine Vielfalt von unterschiedlichen Quellen zusammengefasst. So gibt es auf der einen Seite schriftliche Zeugnisse, die bereits zum Zeitpunkt der berichteten Ereignisse aufgezeichnet wurden (zum Beispiel Briefe, Tagebücher, persönliche Notizen). Manche dieser Aufzeichnungen sind in der ursprünglichen Fassung erhalten, andere wurden (mit unterschiedlich großem zeitlichen Abstand) noch einmal überarbeitet.
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Auf der anderen Seite machten sich viele Zeitzeugen erst einige Jahre oder Jahrzehnte später daran, ihre Erinnerungen nieder zu schreiben. Im Gegensatz zu einzelnen Notizen auf Papier sollen die schriftlichen Memoiren die komplette, erlebte Geschichte einer bestimmten Zeit aufzeigen. Sie bestehen idealer Weise nicht nur aus zeitlich begrenzten Erinnerungsstücken oder -blöcken, sondern aus einer zusammenhängenden Geschichte. Die Selbstzeugnisse weisen dabei unterschiedliche Grade der schriftstellerischen Überarbeitung auf, weshalb man auch von der so genannten Memoiren-Literatur spricht.
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Diese Memoiren dienen als Traditionsquellen vorwiegend der Unterrichtung von Personen, welche aufgrund von zeitlichen und räumlichen Gründen die beschriebenen Vorkommnisse nicht miterleben konnten. Adressat können die eigenen Nachkommen oder nachfolgende Generationen allgemein sein. [4] Es gibt aber auch eine besondere Untergruppe dieser Erinnerungszeugnisse, die auf Befragung der Zeitzeugen durch Journalisten und Historiker zurückgehen. Darüber hinaus geht es manchen Autoren dagegen um die Meinungsführung im Bezug auf historische Ereignisse, die sie selbst erlebt haben. Auch die Möglichkeit zur persönlichen Aufarbeitung und Verarbeitung der eigenen Vergangenheit veranlasste Zeitzeugen zum Verfassen persönlicher Erinnerungen. Schließlich können finanzielle Gründe ebenfalls eine Rolle spielen. [5]
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Die Auseinandersetzung mit Erinnerungszeugnissen erfordert also ein elaboriertes methodisches Instrumentarium. Auf diese Weise kritisch hinterfragt, bilden die Tagebücher und Memoiren eine einzigartige historische Quelle, die vor allem im Hinblick auf die Alltagsgeschichte des 'Dritten Reiches' zunehmend an Bedeutung gewinnt. Sie bietet Einblick in die Erfahrungswelt, die andere Quellenarten nicht vermitteln können. Die geschilderten persönlichen Eindrücke, informellen Verhaltensweisen und Beziehungen zwischen Personen sind von unschätzbarem Wert, weil sich hierfür in amtlichen Quellen in der Regel kaum Informationen finden. Die Bedeutung von Erinnerungsliteratur nimmt nicht zuletzt aus dem Grund zu, weil die Generation der Zeitzeugen, die noch aus eigener Erfahrung über ihre Erlebnisse im 'Dritten Reich' berichten können, verscheidet. [6]
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In diesem Beitrag sollen Lebenserinnerungen analysiert werden, welche sich mit dem Thema der 'Arisierung' in München beschäftigen. Dabei wurde eine zweifache Einschränkung vorgenommen: Zum einen wurden nur Erinnerungszeugnisse von Seiten der Verfolgten einbezogen, nicht hingegen Aufzeichnungen von 'Ariseuren' oder Profiteuren. Außerdem stehen vor allem Memoiren im Mittelpunkt der Recherche, da sie sowohl die individuelle Geschichte der Autoren als auch die allgemeine Geschichte ihrer Zeit in ein breites Blickfeld nehmen.
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Je nachdem, wann, aufgrund welcher Informationsquellen und mit welchem Ziel die Zeugnisse verfasst wurden, ist es möglich, unterschiedliche Fragen an die Erinnerungszeugnisse zu richten: In erster Linie sind die Erinnerungszeugnisse Quellen für die Perspektive der Verfasser zu dem Zeitpunkt, als die Texte schriftlich niedergelegt wurden. Das kann, wie erwähnt, lange Zeit nach dem eigentlich beschriebenen historischen Ereignis sein. Nur in begrenztem Maße und oft indirekt sind Rückschlüsse auf die individuelle Erfahrung im unmittelbaren Kontext der historischen Ereignisse möglich, an denen die Forschung besonders interessiert ist. Je nach Entstehungskontext können mit Hilfe der Erinnerungszeugnisse aber wichtige Informationen über das Leben der Menschen zur Verfolgungszeit gewonnen werden. So ist es für die Erfahrungsgeschichte beispielsweise interessant zu erfragen, wie sich die von der 'Arisierung' betroffenen Menschen in bestimmten Situationen (Abgabe von geliebten Gegenständen, Verlust des Berufes oder Unternehmens etc.) gefühlt haben, welche Einstellung sie zu bestimmten Personen ('arische' Nachbarn, 'Ariseure' etc.) oder auch politischen oder wirtschaftlichen Veränderungen und Gesetzgebungen (Boykotte, Gesetze zur 'Arisierung', Pogromnacht etc.) hatten und wie sie über ihre Zukunft dachten.
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Auch personenbezogene Erkenntnisse wie Hintergründe, Motivation und Umgang mit dem persönlichen Schicksal können herausgearbeitet werden. Diese persönlichen Eindrücke, für die es in den amtlichen Quellen zur NS-Zeit kaum Informationen gibt, müssen allerdings kritisch hinterfragt werden. In diesem Zusammenhang ist stets der zeitliche Abstand zwischen Ereignis und Niederschrift zu beachten. Für diesen Artikel wurden daher auch Erinnerungszeugnisse gesucht, die relativ zeitnah verfasst wurden.
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Fragen nach Zahlen (Verkaufspreis des Unternehmens etc.) oder absolutem Faktenwissen (Datum des Verkaufs etc.) sollten an Memoiren hingegen nicht gestellt werden. Diese Fragen können durch einen Memoiren-Text nur schwerlich beantwortet werden, da beispielsweise die erinnerten Zahlen im Laufe der Jahre durch die kollektive Erinnerung oder auch Gedächtnislücken verfälscht worden sein könnten. Es ist folglich entscheidend, für eine erkenntnisreiche Analyse der Memoiren zuvor den Wissenshorizont des Autors zu berücksichtigen, die richtigen Fragestellungen zu finden und bei Forschungen zu 'objektiver Realgeschichte' anhand von subjektiven Erinnerungszeugnissen genaueste Quellenkritik anzuwenden. [7] In vielen Fällen weisen die Autoren sogar persönlich darauf hin, dass die Zeit des NS-Regimes bereits viele Jahre zurückliegt und ihre Erinnerungen durch verschiedene Faktoren beeinträchtigt sein könnten. [8]
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Eine stichprobenhafte Untersuchung von rund 100 Memoiren jüdischer Verfolgter über das Leben in München zur Zeit des Nationalsozialismus zeigte, dass nur dreizehn Darstellungen die 'Arisierung' in mindestens einem zusammenhängenden Absatz thematisieren. Obwohl einige der 3.574 Juden, die zwischen dem 1. März 1933 und dem 16. März 1938 aus München emigrierten, ihre Erinnerungen niederschrieben und ein Großteil dieser Emigranten den Boykott gegen jüdische Geschäfte am 1. April 1933 und die folgenden Entwicklungen der 'Arisierung' erlebt hat, ist der Anteil an Memoiren mit Thematisierung der 'Arisierung' in München verhältnismäßig gering. [9] Dies bestätigte einen allgemeinen Befund: Nach Ende des Zweiten Weltkriegs wurde von jüdischen Verfolgten eine große Anzahl an Memoiren verfasst, die sich mit den persönlichen Erfahrungen aus dieser Zeit auseinandersetzen. Der Großteil dieser Memoiren hat allerdings nicht die wirtschaftliche Verfolgung, sondern physische Unterdrückung vor Beginn des Holocausts und die Holocaust-Erfahrungen selbst zum Inhalt.
Erinnerungszeugnisse aus der Kriegszeit
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Unter den dreizehn 'Arisierungs'-Autoren befinden sich nur zwei, die ihre Erfahrungen in den Jahren 1933 bis 1945, also noch während der Zeit des Nationalsozialismus, schriftlich festhielten. Dazu gehört der ehemalige Kantor der Münchner Hauptsynagoge Emanuel Kirschner, der seine Lebenserfahrungen zwischen 1933 und 1938 verfasste. [10] Es handelt sich nicht um ein Tagebuch, sondern um Notizen, die mit einigen Monaten zeitlichen Abstands geschrieben wurden. Zum Zeitpunkt seiner Niederschrift befand er sich in München. Da er bereits 76 Jahre alt war und damit rechnete, nicht mehr lange zu leben, sah er sich veranlasst, seine Erinnerungen zur Information an die Nachwelt noch während der NS-Zeit schriftlich festzuhalten. Als jüdischer Kantor ist Kirschner eine Person, deren Memoiren von sehr großem Wert sind, da er mit der 'Arisierung' der religiösen Institutionen in München direkt konfrontiert wurde. Aufgrund des frühen Zeitpunktes der Abfassung kann davon ausgegangen werden, dass seine Erinnerung kaum durch spätere Erfahrungen und Erkenntnisse ex post überformt worden sein dürften. Allerdings ist auf der anderen Seite sein Wissenshorizont begrenzt. Seine Schilderungen reichen bis September 1938, als er aufgrund schwerer Krankheit verstarb. Von ihm erfahren wir, was die Nachricht über den geplanten Abriss der Münchener Hauptsynagoge und die Zerstörung an sich für den Münchner bedeuteten:
"Zwei Tage nach dem Schowuosfeste, den 8. Juni 1938, sollte die Hauptgemeinde München urplötzlich in namenlosen Schrecken versetzt werden durch die Kunde, es sei am 9. ! Juni der Abbruch der großen Synagoge, einer anerkannten Zierde der Stadt, in Angriff zu nehmen, um an deren Stelle für den Erweiterungsbau des gegenüberliegenden Künstlerhauses einen Parkplatz zu schaffen. Dieser monumentale Bau, dessen 50-jähriges Jubiläum seines Bestehens ein Jahr zuvor feierlich begangen wurde, musste nun, als Schandfleck bezeichnet, dem genannten Zweck weichen, mit der Auflage, dass nach einigen Wochen das Gemeindehaus Nr. 7, in dem wir 45 Jahre wohnten, und die der Gemeinde gehörigen Häuser Nr. 5 und 3 der Herzog Maxstr. geräumt sein müssen. (...) Schon am Donnerstag, 9. Juni, 6 Uhr morgens begannen die abkommandierten Arbeiter ihr Zerstörungswerk; wozu die Hacken sich als unzulänglich erwiesen, mussten Sprengungen durchgeführt werden, die das Gemeindehaus bis auf den Grund erbeben ließen. Blutenden Herzens sahen wir von unseren Fenstern die fortschreitende Verheerung, sahen die Menschenmassen, die kopfschüttelnd, mit tiefernsten Mienen stundenlang den Fortgang der Arbeiten beobachteten, während die härteste Belastungsprobe an unsren Nerven zerrte und sie zu zermürben drohte." [11]
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Recht deutlich wird in diesem Text, wie Kirschner den Abriss der Münchner Synagoge empfand. Dabei hinterließen vor allem zwei Aspekte beim Verfasser einen Eindruck: zum einen die Unvorhersehbarkeit des Ereignisses. Kirschner bringt hier zum Ausdruck, dass es kein geregeltes Verfahren gab, sondern der Abriss ein Akt der Willkür war, der keine aktive Rolle für ihn und andere Betroffene vorsah. "Urplötzlich", von einem Tag auf den anderen, sei die Nachricht gekommen und zwar durch die "Kunde", also ein Gerücht. Kirschners Text enthält zudem zahlreiche Begriffe, die die große emotionale Wirkung auf die Betroffenen und Beobachter einfangen. Mit Beschreibungen wie "namenlose[r] Schrecken", "blutenden Herzens", "an unseren Nerven zerrte und sie zu zermürben drohte" zeichnet Kirschner seinen Eindruck davon, wie die Zeugen das Ereignis aufnahmen. Interessanter Weise findet sich hier kein Hinweis auf das Verhalten der Beteiligten - weder der Entscheidungsträger noch der durchführenden Bauarbeiter - oder der beobachtenden Bevölkerung.
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Emanuel Kirschner hatte sich für eine Veröffentlichung der Memoiren nach seinem Tod entschieden. [12] Möglicherweise wollte er seine Zeitgenossen nicht durch persönliche Aussagen belasten oder fürchtete, zu seinen Erinnerungen in der Öffentlichkeit persönlich Stellung nehmen zu müssen. Seine Memoiren schrieb Emanuel Kirschner bis zu seinem Tod im September 1938. Im Jahr 1947 wurden die Aufzeichnungen nochmals von seinem Sohn Max überarbeitet und durch Stellungnahmen ergänzt. Dank der rein handschriftlichen Anmerkungen des Sohnes (auf dem mit Schreibmaschine verfassten Original-Text) und der durch einen einleitenden Absatz hervorgehobenen Stellungnahme handelt es sich hier um eines der ganz seltenen Zeugnisse von zeitnahen Notizen, die später nicht so stark überarbeitet wurden, dass Original und überarbeitete Fassung nicht mehr voneinander zu trennen waren. Trotz der Überarbeitung kam es jedoch nicht zu einer Veröffentlichung der Memoiren Emanuel Kirschners.
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Das zweite Beispiel für zeitnahe Aufzeichnungen ist Alfred Neumeyer, Präsident der jüdischen Gemeinde und des Verbands Bayerischer Israelitischer Gemeinden, der in den Jahren von 1941 bis1944 seine Erinnerungen über die Zeit von der Kindheit bis zum Tod seiner Frau - also noch zu Kriegszeiten - schriftlich festhielt. [13] Im Gegensatz zu Kirschner befand er sich jedoch nicht mehr am Ort des Geschehens, sondern im Exil in Avigdor. Der ehemalige Richter erinnert sich an seine 'indirekte Entlassung' im Mai 1933:
"Im April 1933 eroeffnete mir der Praesident des Obersten Landesgerichts, dass nach Anordnung der Regierung juedische Richter in Strafsachen nicht mehr beschaeftigt sein duerfen und wies mich ausschliesslich einem Zivilsenat zu. (...) Im Mai 1933, wenige Tage, nachdem der spaetere Minister Kerl, damals Vertrauensmann fuer Justizangelegenheiten bei der Partei, eine Besprechung mit Frank in Muenchen gehabt hatte, brachte mir der Praesident schriftlich eine Entschliessung der bayerischen Regierung zur Kenntnis, dass ich aus organisatorischen Gruenden mit Beibehaltung meiner Amtsbezeichnung und des bisherigen Gehalts als Rat an ein auswaertiges Landgericht versetzt werde, sofern ich nicht um Pensionierung eingeben wolle. Ich ersuchte darauf gleich meinen Kollegen Ansbacher um Versetzung in den Ruhestand. Das Gesuch wurde umgehend ohne uebliche Anerkennung der Dienstleistung unter Festsetzung des ordnungsmaessigen Ruhegehalts mit Wirkung vom 1. Juni 1933 bewilligt, ohne dass der Unterschiedsbetrag zwischen Gehalt und Ruhegehalt, was bisher rechtens war, noch weitere 2 Monate ausgezahlt wurde." [14]
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Alfred Neumeyers Aufzeichnungen unterscheiden sich insofern von Memoiren, die in der Nachkriegszeit im Exil geschrieben wurden, als sie zwar in räumlicher, nicht aber in zeitlicher Distanz zum Geschehen verfasst wurden. Aus diesem Grund konnte er zum Zeitpunkt seiner Niederschrift die wirtschaftlichen und persönlichen Folgen der 'Arisierung', welche die Juden später zu erleiden hatten, noch nicht absehen. Zwar war auch er nahezu mittellos und seines Eigentums beraubt, mit dem immensen Ausmaß der 'Arisierung' und den folgenden Versuchen der 'Wiedergutmachung' hatte er sich während seiner Aufzeichnungen jedoch noch nicht auseinander zu setzen. Seine Darstellung ist daher weniger ein Zeugnis der persönlichen Betroffenheit als ein Ausdruck seines Wissens über die allgemeine Entwicklung der wirtschaftlichen Verfolgung.

Abb. 1
Abb. 2
Abb. 3

   
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Die beiden Quellen aus der Kriegszeit greifen ganz verschiedene Aspekte der 'Arisierung' auf und lassen sich daher kaum vergleichend auswerten. Auffällig ist allerdings, dass beide Verfasser der eigenen Person keinen aktiven Anteil im Geschehen zuordnen. Die Darstellungen der wirtschaftlichen Verfolgung sind in beiden Fällen aus einer relativ distanzierten Beobachterperspektive geschrieben.
Memoiren aus der Nachkriegszeit
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Nach Ende des Zweiten Weltkriegs kann man beim Zeitpunkt des Verfassens von Memoiren zwei unterschiedliche Konjunkturen erkennen. Die erste Konjunktur gab es bereits in den 1940er-Jahren. In dieser Zeit handelte es sich in der Regel um 'wehrhafte' Literatur, die auf eine Verteidigung der Rolle der eigenen Person im 'Dritten Reich' zielte.
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Zehn der dreizehn hier recherchierten Zeugnisse stammen dann aus den 1960er Jahren. [15] Aus Verlegenheit wagten es viele Verfolgte zuvor nicht, ihre persönlichen, erniedrigenden Erfahrungen aufzuschreiben. Auch die Verdrängung der Erinnerungen als eine Art Schutzmechanismus trug stark dazu bei, erst spät mit der Aufzeichnung zu beginnen, wie beispielsweise Agnes M. Weiler Wolf schreibt:
”We simply did not want to talk about that period in our lives when we were declared to be non-persons, deprived of all human rights, only because we were born as German Jews. Many of us who had been fortunate enough to leave Germany in time, refused to speak the German language, or to identify with any part of the German culture, and tried to forget the entire past. I felt this way for many years, but now the time has come to remember. " [16]
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Besonders die Autoren, die ihre Memoiren in München und Umgebung veröffentlichten, taten dies sehr spät. Ein möglicher Grund ist die Tatsache, dass München die 'Hauptstadt der Bewegung' und somit ein wichtiges Zentrum des Nationalsozialismus war. Die jüdischen Zeitzeugen aus München befürchteten unter Umständen, dass auch nach Ende des Zweiten Weltkriegs viele ehemalige Nationalsozialisten in ihrer Nähe wohnten, vor denen sie sich aus Angst vor späten Feindseligkeiten nicht öffentlich als Juden zu erkennen geben wollten. Erst mit gewissem zeitlichen Abstand trat diese Furcht in den Hintergrund.
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Ein weiterer wichtiger Grund ist, dass sich Menschen oft veranlasst sehen, ihre Memoiren zu verfassen, wenn sie etwas 'Sensationelles' oder Außergewöhnliches erlebt haben. Vergleichen 'Arisierungs'-Opfer, welche noch vor Beginn der Deportationen aus Deutschland emigrieren konnten, ihre Erlebnisse jedoch mit jenen der Opfer der Konzentrationslager, so erscheint ihnen ihr Leben in vielen Fällen keineswegs als 'sensationell'. Sie haben das Gefühl 'Glück' gehabt zu haben, da sie nach ihrer Auswanderung ein relativ angenehmes Leben führen konnten. Es handelt sich folglich auch bei ihnen häufig um eine Art Schamgefühl, überlebt zu haben - je nach Ansicht sogar unverdient dem Tod entkommen zu sein.
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Hiergegen versucht Charlotte Stein-Pick, durch die Veröffentlichung ihrer Erinnerungen ein Zeichen zu setzen. Ihr Ziel war es zu zeigen, dass auch emigrierte Opfer der 'Arisierung' während des NS-Regimes und in der Nachkriegszeit schlimme psychische Qualen zu erleiden hatten:
"Doch diese Erinnerungen wurden mit einer gewissen Absicht geschrieben. Sie sollen beweisen, daß sogar diejenigen, die sich retten und ein neues Leben aufbauen konnten, schwer gelitten haben. Das Land, das uns aufnahm, war gut zu uns, wir haben es lieben und achten gelernt, wir sind ergebene Bürger geworden. Aber die alte Heimat kann nicht ersetzt werden, und der Schmerz über ihren gewaltsamen Verlust hinterließ eine tiefe Wunde." [17]

Abb. 4

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Obwohl alle jüdischen Bürger Münchens die 'Arisierung' miterleben mussten, rücken die Erfahrungen von Entrechtung und wirtschaftlicher Enteignung in den 1930er Jahren stark in den Hintergrund, sobald Opfer physischer Gewalt, besonders des Holocausts, ihre Memoiren schrieben. Der Horror der Vernichtung und die Erinnerungen daran überwiegen und drängen alles andere in den Hintergrund. Psychotherapeuten betonen sogar, dass in vielen Fällen die Todesangst frühere Probleme in der Erinnerung regelrecht ausgelöscht hat. Aufgrund dessen beschreibt der Großteil der Holocaust-Überlebenden in seinen Lebenserinnerungen die Zeit des Holocausts selbst, selten aber die Zeit davor.
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Bei vielen Emigranten und Holocaust-Überlebenden werden jedoch Erinnerungen an wirtschaftliche Unterdrückung und Vermögensentziehung wieder wach, sobald die Opfer mit Gesprächsthemen aus dieser Zeit oder daraus resultierenden Problemen wie Armut konfrontiert werden. Sie beginnen, sich mit dem Verlust von materiellem Eigentum, zum Beispiel Häusern, persönlichen Gegenständen oder Geld auseinander zu setzen. Besonders häufig werden in Gesprächen mit Nachfahren bzw. der nächsten Generationen Fragen nach persönlichen Besitztümern (Foto von der Oma, ein Bild aus der Kindheit, der Ehering etc.) gestellt, die nicht mehr vorhanden sind und somit nicht präsentiert werden können. Derartige Situationen lassen den Zeitzeugen gedanklich in seine Vergangenheit zurückkehren und ihn oft über Gefühle der Verletzung des Selbstwerts und der Bedrohung der eigenen Identität nachsinnen, da er sich möglicherweise ohne gegenständliche Erinnerungen seiner Vergangenheit beraubt fühlt. [18]
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Gefühle einer Existenzberaubung werden auch in den hier ausgewerteten Memoiren deutlich. So erwähnt Werner J. Cahnmann die erzwungene Einschränkung seines Lebensraumes in München, wodurch ein Gefühl der Unterdrückung deutlich wird:
"Aber die eminent symptomatische Geschichte von der Beschränkung des Wohnraums - 'vom Palast ins enge Haus' - muß ich erzählen. Von unserem schönen baumumstandenen vierzehnräumigen Haus an der Sophie-Stehle-Straße in Neuwittelsbach, in der einmal eine große Familie glücklich war, zogen wir 1938 in eine Dreizimmerwohnung an der Tengstraße. Nach 1939 betrachtete die Arisierungsstelle die Trennung des jüdischen Wohnraums vom deutschen Wohnraum als eine vordringliche Aufgabe. Ein Gesetz über 'Mietverhältnisse mit Juden' von April 1939 bot die Handhabe, Juden in rücksichtsloser Weise mit sofortiger Wirkung aus ihren Wohnungen zu entfernen. Meine Eltern und meine Schwester fanden sich in der Tengstraße im Winter 1939 ohne Heizung und elektrisches Licht. Diese Maßnahmen dienten dazu, die Räumung zu erzwingen. Ein Freund meines Vaters machte einen Raum mit Wohnküche, aber ohne Bad, im Dachgeschoß des Hinterhauses seines Anwesens an der Paul-Heyse-Straße frei (...)." [19] Schalom Ben-Chorin, ein jugendlicher Dichter aus München, schreibt "von den kleinen Versuchen (...), die wir unternahmen, um Terrassen in den Erdrutsch unsrer Existenz zu bauen". [20]
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Auch der Münchener Unternehmer Julius Wallach beschreibt detailliert, wie er fast mittellos mit seiner Frau Johanna im Jahr 1939 aus dem Deutschen Reich emigrierte:
"Nach dem Tod meiner Mutter erst wollte ich eine Auswanderung einleiten. Unter sehr schwierigen Verhältnissen, nach Raub des Vermögens und Wegnahme des Staatsbürgerrechtes, bekamen wir schließlich ein Visum für Siam (...). Unsere Barmittel bestanden zusammen aus 20 Mark! Mehr hatte uns die 'edle Gilde' nicht bewilligt. (...) Ein mitleidiger Kellner besorgte uns ein Nachtquartier und Nächstentags ging ein Telegramm an unsre lieben Freunde Wielers in Kreuzlingen in der Schweiz, ebenso umgehend kamen ein paar hundert Franken, deren Sendung sich jeden Monat wiederholte." [21]
Thematisierung der 'Arisierung' durch Erwachsene und Kinder
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Während der Recherche wurde deutlich, dass man bei einer Analyse der Memoiren zum Thema 'Arisierung' neben der Unterscheidung zwischen Emigranten und Holocaust-Opfern eine weitere Kategorisierung vornehmen muss: eine Differenzierung zwischen Autoren, die zum Zeitpunkt des Nationalsozialismus bereits erwachsen oder noch Kinder waren. Teilt man folglich die Memoiren-Literatur in die beiden Alterskategorien ein, so ergeben sich bei einer Analyse Unterschiede in der 'Arisierungs'-Thematisierung bei jung und alt.
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Acht Zeitzeugen dieser Auswertung waren zum Zeitpunkt der 'Arisierung' und Entrechtung der Juden im München der 1930er-Jahre erwachsen oder zumindest junge Erwachsene, weshalb sie die 'Arisierung' an Berufsgruppen wie Rechtsanwälten, Ärzten, Unternehmern oder auch Geschäftsleuten in ihrem eigenen Berufsleben erfahren mussten. Aus diesem Grund erwähnen sie in ihren Memoiren häufig Zahlen und Fakten über den konkreten Ablauf der 'Arisierung'.
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So nennt der Unternehmer Moritz Wallach, der mit seinem Bruder Julius Wallach in den 1930er-Jahren in München ein berühmtes Volkskunsthaus führte, beispielsweise jene Beträge und Summen, welche er für den erzwungenen Verkauf seines Volkskunsthauses und seiner Fabrik hätte erhalten sollen, und jene Beträge, welche er nach der 'Arisierung' seines Unternehmens vom Käufer tatsächlich erhielt. Hier wird - nicht zuletzt durch den betont objektiv-sachlichen Tonfall - besonders deutlich, dass Wallach sich ausgebeutet fühlte und diesen Vorgang sehr bewusst wahrnahm:
"Wir hatten inzwischen mit Witte und dem Personal das Warenlager aufgenommen. Es ergab ohne Entwürfe, Blocks und Einrichtung circa 220.000.- RM. Die Fabrik wurde von einem beglaubigten Schätzer, auf den wir beide uns geeinigt hatten, auf 175.000.- RM veranschlagt. Einrichtung und alles andere auf etwa 25.000.- RM. Es kamen also mehr als 400.000.- RM heraus. Witte wollte diese Summe nicht bezahlen. (...) Von Herrn Feldmeier, der in der Vorstadt ein Weiß- und Wollwarengeschäft unterhielt und von den Nazis als Vorstand des Einzelhandels eingesetzt war, ließ Witte eine neue Bilanz aufstellen. Das Ergebnis war aber Witte immer noch zu hoch. Er ließ die Fabrik noch einmal schätzen und kam auf 125.000 RM. (...) Es kam eine aufregende Zeit, Besuche bei der Regierung, dem Devisenamt und anderen Stellen wechselten ab mit negativem Resultat. Endlich am 1. März 1938 wurden 110.000.- RM bezahlt, die restlos darauf gingen, Steuern, entsprechend der wirklichen Bestandsaufnahme, Juden- und Reichsfluchtsteuerabgabe." [22]

Abb. 5

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Wie im Fall Wallach werden in vielen Memoiren der ehemaligen erwachsenen Opfer auch die 'Ariseure' selbst und die entscheidenden verantwortlichen Verwaltungsstellen benannt. So erwähnt unter anderem Else Behrend-Rosenfeld, die ehemalige Wirtschaftsleiterin des Ghettos Berg am Laim im Osten von München, das 'Arisierungsamt' und seinen Standort in München:
"Wie gut, daß seit dem Frühjahr das Wohnungsreferat bestand. Es war auf Veranlassung des von der SA gegründeten Arisierungsamtes in der Widenmayerstraße eingerichtet worden, das schon damals begann, jüdische Familien aus Häusern und Wohnungen, die ihnen für andere Zwecke brauchbar erschienen, zu entfernen." [23] Das Beispiel von Behrend-Rosenfeld zeigt auch, dass die während der NS-Zeit erwachsenen Zeitzeugen teilweise selbst Schlüsselfunktionen einnahmen. Oft findet sich hier ein Mischungsverhältnis zwischen persönlichem Schicksal und der Rolle bei der Erfüllung einer Verwaltungsaufgabe.

Abb. 6

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Außerdem geben die Memoiren 'erwachsener' Autoren Aufschluss darüber, welch prägendes Ereignis die Pogromnacht mit ihren Folgen für arbeitstätige jüdische Bürger war. In vielen Fällen werden, wie bei Else Behrend-Rosenfeld, die Nacht, ihre Folgen und besonders die Reaktionen der Bevölkerung detailliert beschrieben:
"Wir gingen durch die Münchner Straßen, in denen sich die Menge drängte. Immer wieder trafen wir auf Menschenansammlungen vor jüdischen Läden, wo man sich das Zerstörungswerk ansehen wollte, oder vor anfangs vergessenen, deren Scheiben man jetzt zertrümmerte. Die Menge verhielt sich ruhig, auch den Gesichtern war ganz selten einmal anzumerken, was ihre Besitzer dachten." [24]
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Neben diesen detaillierten Aufzählungen spielen Emotionen ebenfalls eine große Rolle, welche die erfahrungsgeschichtliche Forschung, auch in Zusammenhang mit dem eher wirtschaftlichen Thema der 'Arisierung', sehr interessant macht. Besonders für die Forscher der so genannten Emotionsgeschichte sind Aufzeichnungen wie die folgenden von sehr großem Wert. Wenn der Autor beschreibt, wie er sich von geliebtem Eigentum und persönlichen Gegenständen mit einem hohen ideellen Wert trennen musste, zeigt sich diese emotionale Ebene. Dies ist der Fall bei Alfred Heller, als er beschreibt, wie er bei seiner Auswanderung persönliche Gegenstände zurücklassen musste, da persönliches Eigentum nur in begrenztem Maße ausgeführt werden durfte:
"Die Trennung von liebgewordenen Gegenständen führte geradezu zu Gewissenskonflikten. Da waren zum Beispiel jene Familienbilder, von denen jede jüdische Wohnung so voll zu sein pflegte. (...) Aber da waren doch ein paar gute Portraits von den Eltern, Ölbilder von Großeltern und Urgroßeltern, auch interessante ältere Stücke von jüdischen Familienmalern. (...) Unmöglich sich damit zu belasten. Von Tag zu Tag vergrößerte sich die Zahl der von der Mitnahme ausgeschlossenen Dinge, und schließlich zerschnitt und verbrannte Dr. Seligmann die einst so angesehenen Bilder, um sie nicht in unwürdige Behandlung fallen zu lassen. Am schlimmsten war es mit der schweren Marmorbüste der Mutter, eine gute Arbeit eines modernen Künstlers." [25]
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Bei den Autoren, die zur Zeit des Nationalsozialismus selbst noch Kinder waren [26], tritt die Beschreibung vom logischen Ereignisablauf deutlich in den Hintergrund. Für sie zählte in ihrem Kindesleben, was in ihrem direkten Umfeld stattfand und unter welchen psychischen Qualen sie zu leiden hatten. Sie hatten keine aktive Einflussmöglichkeit auf die Entwicklung. Die durch Angst und Terror geprägten Emotionen und Eindrücke kommen klar zum Ausdruck. Am Fall des damals 11-jährigen Ernest Hofeller wird deutlich, dass Ereignisse und Folgen des Boykott-Tages beispielsweise unter dem Eindruck verblassen konnten, welcher durch eine große Anzahl an gefährlich wirkenden Soldaten hervorgerufen wurde. So beginnt Hofeller zwar mit der Schilderung des Boykott-Tages an sich, weicht dabei jedoch schnell auf die Beschreibung der SA-Männer ab:
"The first recollection that something was wrong came on Saturday, April 1, 1933, 'Boycott Day'. The boycott, as all other Nazi activities, was organised by the 'S.A.', the abbreviation of 'Sturmabteilung'. These were the brown-shirted, paramilitary Nazis who had put Hitler into power. At all of the party meetings in Nuremberg, you could see every year thousands upon thousands of S.A. men and all of the top Nazis always wore brown uniforms. (...)" [27]
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Auch Beobachtungen von Eltern und anderen Erwachsenen aus den Augen der Kinder sind ein seltener, aber sehr aufschlussreicher Blickwinkel für die Forschung. Da das Leben der Kinder stark durch die Eltern geprägt wurde, spielt die Beschreibung der elterlichen Gefühle eine große Rolle. Gert van Laak machte sich beispielsweise Gedanken, warum seine Mutter bedrückt und traurig erschien:
"Mutter war nach dem Filmvorführkurs sehr bedrückt. Sie aß kaum, war schweigsam und telefonierte hinter verschlossener Tür. Dorle und ich konnten uns das nicht erklären." [28]
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Gert van Laaks Mutter hatte nach dem Tod ihres Mannes die Leitung von sechzehn Münchner Kinos übernommen, bis ihr an besagtem Abend im Jahr 1935 nach einem Filmvorführungskurs die Konzession dazu entzogen wurde. Warum dies geschah, konnten die beiden Geschwister ebenfalls nicht begreifen. Was Gert van Laak und seine Schwester zu diesem Zeitpunkt nicht wussten war, dass ihre Mutter Jüdin war und sie selbst somit jüdischer Abstammung. Ihre Mutter war vor der Hochzeit zum Katholizismus konvertiert, weshalb die Kinder stets christlich erzogen worden waren. Gert erfuhr diese Tatsache erst im Jahr 1938, als seine Mutter ihm erklären musste, warum er voraussichtlich nicht zum Studium zugelassen werden würde.
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Zwar nahmen die Kinder die 'Arisierung' und ihre Konsequenzen auf eine gewisse Weise wahr, konnten ihnen jedoch keine große Bedeutung beimessen. So schildern sie in ihren Lebenserinnerungen häufig die Situation der Eltern (in der Regel des Vaters), als jene ihren Beruf aufgeben mussten. Ihnen selbst ist es jedoch nicht möglich, die Gründe oder die möglichen finanziellen Folgen detailliert darzustellen, da sie diese als Kinder nicht interessiert, verstanden oder gar realisiert hatten. Aus diesem Grund beschreiben sie meist allein, wie traurig und entsetzt oder auch tapfer die Eltern über die erzwungene Aufgabe ihres Berufs waren, nicht aber, was der konkrete Anlass für diese Veränderung war. Ein derartiger Fall wird am Beispiel der Erinnerungen von Inge Sadan deutlich: "Wir sind schnell zurückgegangen ins Geschäft. Dann haben wir gesehen, diese zwei Nazis stehen im Geschäft und meine Eltern, und wir haben gesagt: 'Die Schule brennt.' Die Nazis haben so furchtbar groß ausgeschaut, aber einer war mehr sympathisch. Und der hat den anderen geschickt, der soll weitergehen, und er kann das schon allein fertig machen. Er war nicht sehr schlimm; hat gesagt, meine Eltern sollen das Geschäft zumachen und am Sonntag dürfen sie die Wäsche liefern und dann die Schlüssel abgeben. Und das haben sie gemacht. Die Wäscherei Kress war ein sehr großer Betrieb; die haben einfach unsere Einrichtung genommen, die Maschinen, und ein bißchen gezahlt, glaube ich. Er war ein sehr netter Mensch, aber sie war ein großer Nazi, die Frau Kress. Nach dem haben wir kein Geschäft mehr gehabt. Plötzlich hatte alles aufgehört. Und wir haben nicht gewusst, was wir tun sollten. Das war so ein furchtbares Gefühl. Man weiß nicht, wohin man sich wenden soll. Sogar die Kinder haben das gefühlt. Meine Eltern waren sehr entsetzt, aber meine Eltern waren auch sehr, sehr tapfer. Sie haben nie etwas gezeigt, was sie störte. Aber das Geschäft hat aufgehört, und ich erinnere mich, wir haben damals einfach unseren Samstag gefeiert. Es war ein sehr trauriger Samstag. Es war wie das Ende der Welt. Von unserer Welt." [29]

Abb. 7

Zusammenfassung
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Die Auswertung von Memoiren und anderen Selbstzeugnissen ist ein wichtiger Beitrag zur Erforschung der Erfahrungsgeschichte. Im Gegensatz zu den Informationen anderer Quellen, wie amtlichen Dokumenten bzw. zeitgenössischem Verwaltungsschriftgut, stehen hier vor allem Emotionen und persönliche Erfahrungen im Vordergrund. Sie bilden eine unverzichtbare Erweiterung der historischen Quellengrundlage, da sie Einblick in das Privatleben geben, in dem die persönliche, individuelle Verfassung und zwischenmenschliche Beziehungen eine große Rolle spielen.
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Je nach Fragestellungen können durch die Memoiren aus der Zeit des Nationalsozialismus Informationen über das Leben der Menschen aus der Verfolgungszeit, aber vor allem Erkenntnisse zu den Personen selbst gewonnen werden. Dabei muss jedoch beachtet werden, dass die persönlichen Erinnerungen durch das kollektive Gedächtnis überformt sein könnten. Weiterhin darf nicht vergessen werden, dass auch das Erleben selbst und die Eindrücke bestimmter geschichtlicher Ereignisse und Veränderungen für jeden einzelnen unterschiedlich waren und somit jeder Mensch die Geschehnisse für sich persönlich ein wenig anders erlebt, aufgenommen und schließlich schriftlich festgehalten haben dürfte. Eine Interpretation muss daher immer andere Quellenarten zur Einordnung der Informationen aus den Erinnerungszeugnissen mit einbeziehen.
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Von den jüdischen Memoiren, die über das Leben zur Zeit des Nationalsozialismus in München berichten, bezieht sich nur ein sehr geringer Teil auf die Thematik der 'Arisierung'. Der wohl entscheidende Grund hierfür ist die Ansicht der 'Arisierungs'-Opfer, dass ihre Erinnerungen und Erfahrungen nicht derart 'sensationell' sind wie jene der Holocaust-Opfer. Ausreichende 'Sensation' wird von ihnen jedoch in vielen Fällen als notwendige Voraussetzung für das Verfassen von Memoiren gesehen. Dass es ebenso wichtig ist, über die 'Arisierung' und ihre langfristigen Folgen zu berichten, versuchen nur einzelne Autoren durch die Beschreibung ihrer Erfahrungen zu zeigen.
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Die Aussagen über das individuelle Leben der Verfasser variieren stark, sobald es sich um unterschiedliche Zeitpunkte der Aufzeichnung handelt. Wurden die Memoiren bereits vor der Zäsur 1945 geschrieben, zeichnen sie sich häufig durch starke Emotionalität und einen lebendigeren Schreibstil aus. Die Autoren befanden sich während ihrer Niederschrift entweder noch am Ort des Geschehens selbst oder aber im Exil, in beiden Fällen war jedoch eine objektive Beschreibung der Ereignisse, u.a. mit Blick auf die langfristigen Folgen der 'Arisierung', nicht möglich. Die Autoren nach 1945 wurden dagegen häufig durch das Wissen über ihr späteres Schicksal oder auch durch das kollektive Wissen beeinflusst.
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Auf der anderen Seite spielt bei der Memoiren-Analyse auch die Altersprägung eine wichtige Rolle. Autoren, welche zum Zeitpunkt ihrer dargestellten Erfahrungen - in unserem Fall die 'Arisierung' im NS-Regime - bereits erwachsen und je nach Situation berufstätig waren, versuchen in der Regel, möglichst detailgetreu und umfassend ihre Vergangenheit in ihren Lebenserinnerungen widerzuspiegeln. Denjenigen, die die Zeit der Verfolgung als Kinder erlebten, ist es dagegen in ihrer Berichterstattung wichtig, Aussagen über Ereignisse und Erfahrungen zu treffen, die ihr direktes Umfeld und somit ihre Familie und Freunde betreffen. Dieses direkte Umfeld prägte ihr damaliges Leben für ihre Zukunft, auch wenn die Zeitzeugen sich in der heutigen Zeit nur noch an Gefühle in bestimmten Situationen erinnern können. Jene Emotionen können dagegen oft mehr über das Leben der Menschen an sich aussagen als detailgetreue Situationsbeschreibungen.
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Die Auswertung der Münchner Memoiren-Literatur zum Thema 'Arisierung' macht deutlich, welche interessanten und häufig neuen Aspekte sich durch diese Quellengattung der Forschung öffnen. Dazu zählen zum Beispiel Erfahrungen von Kindern mit dem Wirtschaftsleben im Nationalsozialismus, die bei anderen Quellentypen meist keine Rolle spielen. Trotz der geringen Anzahl der Memoiren-Literatur zu Entrechtung und Enteignung bleibt es aus diesem Grund eine wichtige Aufgabe der historischen Forschung, durch eine gut durchdachte Fragestellung diese Quellen richtig zu deuten und auf diese Weise einen weiteren erkenntnisreichen Teil zur Erforschung der 'Arisierung' im Deutschen Reich bzw. in München beizutragen.
Anmerkungen
[1] Martin Walser in seiner Ladautio auf Victor Klemperer anlässlich der Verleihung des Geschwister-Scholl-Preises 1995. Die Archivrecherchen für diesen Beitrag wurden im Rahmen des Projektes "München 'arisiert'" des Kulturreferates der Stadt München und des Stadtarchivs München durchgeführt und finanziell durch diese unterstützt. Vgl. auch die Projektvorstellung in dieser Ausgabe der zeitenblicke.
[2] Vgl. dazu Mark Roseman: In einem unbewachten Augenblick. Eine Frau überlebt im Untergrund, Berlin 2002, 200f., 314, 494-512.
[3] Harald Welzer: Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung, München 2002.
[4] Mit dieser Absicht schreibt beispielsweise Agnes M. Weiler Wolf. Vgl. dazu Agnes M. Weiler Wolf: Notes from an extinct species, New York o.D., S. i, LBIJMB MM II 17, Archiv des Leo Baeck Instituts am Jüdischen Museum in Berlin (masch. Manuskript, nicht veröffentlicht).
[5] Peter Stadler: Memoiren der Neuzeit. Betrachtungen zur erinnerten Geschichte, Zürich 1995, 20.
[6] Norbert Frei: Nationalsozialismus und Holocaust im Generationenwechsel, in: Das Magazin: Erbfall Zukunft. Hg. v. Wissenschaftszentrum Nordrhein-Westfalen (2000)/ 3, URL: http://www.wz.nrw.de/magazin/magazine.asp.
[7] Alexander v. Plato: Erfahrungsgeschichte - von der Etablierung der Oral History, in: Gerd Jüttemann / Hans Thomae (Hg.): Biographische Methoden in den Humanwissenschaften, Weinheim 1998, 60-72, 72.
[8] Dies ist unter anderem in der Einleitung des Kantors Emanuel Kirschner der Fall. Vgl. dazu Emanuel Kirschner: Erinnerungen aus meinem Leben, Streben und Wirken, Wörishofen u.a. 1933-1938, 2, LBIJMB MM 45, Archiv des Leo Baeck Instituts am Jüdischen Museum in Berlin (masch. Manuskript, nicht veröffentlicht).
[9] Kurt Preis: München unterm Hakenkreuz. Die Hauptstadt der Bewegung: Zwischen Pracht und Trümmern, München 1980, 131.
[10] Emanuel Kirschner, geboren am 15.2.1857 in Rokittnitz/Rokitnica (Polen), wirkte seit 1881 als 1. Kantor an der Münchner Hauptsynagoge. Daneben unterrichtete er Musik und Sologesang an der Akademie der Tonkunst München. Kirschner veröffentlichte zahlreiche synagogale Kompositionen. Er verstarb am 18.9.1938 in München. Vgl. dazu Andreas Heusler / Tobias Weger: 'Kristallnacht'. Gewalt gegen die Münchner Juden im November 1938, München 1998.
[11] Kirschner: Erinnerungen, 242f.
[12] Ebd. 2.
[13] Alfred Neumeyer, geboren am 17.2.1867 in München, studierte in München und wurde Rat am Obersten Landesgericht, wo er 1933 aufgrund seiner jüdischen Abstammung entlassen wurde. Auf ihn geht die Gründung des Verbandes 'Bayerischer und Israelitischer Gemeinden' (1920) zurück, den er, wie die Israelitische Kultusgemeinde München, als Vorsitzender bis zu seiner Auswanderung nach Avigdor (Argentinien) leitete. Dort starb er am 19.12.1944. Vgl. dazu Hans Lamm (Hg.): Vergangene Tage. Jüdische Kultur in München, München / Wien 1982.
[14] Alfred Neumeyer: Erinnerungen, Avigdor 1941-1944, 197, LBIJMB MM 59, Archiv des Leo Baeck Instituts am Jüdischen Museum in Berlin (masch. Manuskript; veröffentlicht unter: Alfred Neumeyer: Lichter und Schatten. Eine Jugend in Deutschland, München 1967).
[15] Bei den Memoiren von Ernest B. Hofeller ist kein Datum der Niederschrift angegeben, weshalb bei ihnen keine Einteilung in die Kategorien vorgenommen werden kann. Ernest B. Hofeller: Munich 1933-1938, o.O. o.D., LBIJMB MM II 18, Archiv des Leo Baeck Instituts am Jüdischen Museum in Berlin (masch. Manuskript, nicht veröffentlicht). Obwohl auch bei Agnes M. Weiler Wolf kein Datum der Veröffentlichung bzw. Niederschrift angegeben ist, wird in ihrer Einleitung deutlich, dass sie ihre Erinnerungen frühestens ab den 1960er Jahren aufgeschrieben haben kann, da sie den 75. Geburtstag ihres Ehemanns und ihre Enkelkinder erwähnt, von denen ein Kind zu diesem Zeitpunkt bereits 20 Jahre alt ist.
[16] Weiler Wolf: Notes from an extinct species, i.
[17] Charlotte Stein-Pick: Meine verlorene Heimat, Bamberg 1992, 118.
[18] Harald Welzer: Vorhanden/Nicht-Vorhanden. Über die Latenz der Dinge, in: Fritz Bauer Institut (Hg.): 'Arisierung' im Nationalsozialismus. Volksgemeinschaft, Raub und Gedächtnis, Darmstadt 2000, 287-308, 287.
[19] Werner J. Cahnmann: Die Juden in München 1918-1943, in: Hans Lamm (Hg.): Vergangene Tage, München 1982, 70.
[20] Schalom Ben-Chorin: Jugend an der Isar, Gütersloh 2001, 122.
[21] Julius Wallach: History of Wallach, Neubenau 1964, 38f., LBIJMB MM 79, Archiv des Leo Baeck Instituts am Jüdischen Museum in Berlin (masch. Manuskript, nicht veröffentlicht).
[22] Moritz Wallach: Das Volkskunsthaus Wallach in München, Lime Rock 1961, 23-25, LBIJMB MM 79, Archiv des Leo Baeck Instituts am Jüdischen Museum in Berlin (masch. Manuskript, nicht veröffentlicht).
[23] Else R. Behrend-Rosenfeld: Ich stand nicht allein. Leben einer Jüdin in Deutschland 1933-1944, München 1988, 72.
[24] Behrend-Rosenfeld: Ich stand nicht allein, 64.
[25] Alfred Heller beschreibt seine persönlichen Lebenserinnerungen unter dem Pseudonym Dr. Seligmann. Alfred Heller: Dr. Seligmanns Auswanderung. Der schwierige Weg nach Israel, München 1990, 21f.
[26] Ihre Kindheit verlebten in der Zeit des Nationalsozialismus: Schalom Ben-Chorin, Ernest B. Hofeller, Gert van Laak, Inge Sadan, Agnes M. Weiler Wolf.
[27] Ernest Hofeller war zum Zeitpunkt der aufgezeichneten Ereignisse 11 Jahre alt. Hofeller: Munich 1933-1938, 4.
[28] Gert van Laak war zum Zeitpunkt der aufgezeichneten Ereignisse 15 Jahre alt. Gert van Laak: Die Nazis nannten sie Sara. Wie ich das Leben meiner Mutter rettete, Augsburg 2001, 13.
[29] Inge Sadan war zum Zeitpunkt der aufgezeichneten Ereignisse acht Jahre alt. Inge Sadan: Erinnerungen von Inge Sadan, geb. Engelhard, in: Douglas Bokovoy / Stefan Meining (Hg.): Versagte Heimat, München 1994, 341-366; 354f.

Autorin:
Nicole Marrenbach
Historisches Seminar der LMU München
Abteilung Neueste Geschichte und Zeitgeschichte
Geschwister-Scholl-Platz 1
80539 München

nicole.marrenbach@campus.lmu.de

Empfohlene Zitierweise:

Nicole Marrenbach: Memoiren Münchner Juden als Quelle für die 'Arisierungs'-Forschung. , in: zeitenblicke 3 (2004), Nr. 2, [13.09.2004], URL: <http://www.zeitenblicke.historicum.net/2004/02/marrenbach/index.html>

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