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  3 (2004), Nr. 2: Inhalt
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Marlis Buchholz, Claus Füllberg-Stolberg, Hans-Dieter Schmid

Antisemitische Fiskalpolitik und Verwaltungspraxis im nationalsozialistischen Deutschland
Finanzverwaltung und Judenverfolgung am Beispiel des Oberfinanzpräsidenten Hannover

 
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Das Projekt wurde von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert. Grundlage des Projekts ist ein Aktenbestand von etwa 7.000 Einzelfallakten . Sie wurden angelegt von zwei dem hannoverschen Oberfinanzpräsidenten (OFP) untergeordneten Dienststellen: der bereits 1931 eingerichteten Devisenstelle und der im Dezember 1941 neu gebildeten Dienststelle für die Einziehung von Vermögenswerten (ab Juli 1942 Vermögensverwertungsstelle). Nach dem Ende der Aufbewahrungsfrist am 31.12.1999 sind deren Akten dem Niedersächsischen Hauptstaatsarchiv Hannover von der Oberfinanzdirektion Magdeburg, Außenstelle Hannover zur Übernahme angeboten worden. Die Überlieferung umfasst die Jahre von 1935 bis 1945. Sie wird ergänzt durch die Abgaben einzelner Finanzämter im OFP-Zuständigkeitsbereich (d.h. damalige Provinz Hannover ohne die Regierungsbezirke Aurich und Stade sowie die Länder Braunschweig und Schaumburg-Lippe). Anhand dieser Akten kann dezidiert belegt werden, dass die Aktionen der Oberfinanzpräsidenten im Vorfeld wie auch im Nachgang der 11. Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 25.11.1941 als Vorstufe des arbeitsteilig organisierten Massenmords an der jüdischen Bevölkerung zu bewerten sind.
 
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Abb. 1
 
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Ziel des Projekts ist die Verbindung von archivischer Erfassung und wissenschaftlicher Auswertung des Aktenbestandes durch eine enge Kooperation zwischen dem Niedersächsischen Hauptstaatsarchiv und dem Historischen Seminar der Universität Hannover. Das parallele Herangehen aus Archivars- und Historikersicht soll die Zeitspanne zwischen archivischer Erfassung und historischer Auswertung verkürzen, um den Inhalt der Akten der Öffentlichkeit so bald als möglich bekannt und zugänglich zu machen.
 
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Die Erschließung soll einerseits dem bisher erst ansatzweise erschlossenen Forschungsgebiet der 'Arisierung', Enteignung und Verwertung jüdischen Vermögens einen Impuls geben, andererseits aber auch rechtssichernden Charakter haben und betroffenen Personen und deren Nachkommen die Möglichkeit eröffnen, schnell und effizient Auskünfte und Unterlagen für ihre Ansprüche aus dem Untersuchungsraum zu erhalten.
 
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Inhaltlich ist das Projekt als Beitrag zur Erforschung des konkreten Prozesses der Entrechtung und Vernichtung der Juden in Deutschland konzipiert. Es basiert auf einem Grundverständnis der nationalsozialistischen Judenpolitik als Prozess der "kumulativen Radikalisierung" (Hans Mommsen). Vor diesem Hintergrund ist unserer Meinung nach die Tätigkeit der Vermögensverwertungsstelle des OFP Hannover als eine letzte Stufe der Radikalisierung der staatlichen Bürokratie zu interpretieren, die die Fraenkelsche Unterscheidung zwischen "Normenstaat" und "Maßnahmenstaat" endgültig obsolet erscheinen lässt. Sie geht damit noch über die von Frank Bajohr als "Radikalisierung des Normenstaats" beschriebene Tätigkeit der Devisenstelle des OFP Hamburg hinaus. Die Ausplünderung der jüdischen Bevölkerung Deutschlands durch die Vermögensverwertungsstellen der Oberfinanzpräsidenten zielte nach der wirtschaftlichen Ausschaltung nun auf ihre "soziale Vernichtung" als unmittelbare Vorstufe der physischen Vernichtung.
 
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In diesem Rahmen zielt das Projekt auf eine Verknüpfung von Täter-, Nutznießer- und Opferforschung, also von Fragestellungen, die bisher meist getrennt behandelt worden sind. Bei den Tätern wird dabei unter anderem zu fragen sein, ob die Umsetzung der 11. Verordnung zum Reichsbürgergesetz durch die involvierten staatlichen Behörden "zügig und korrekt" oder eher zögerlich vor sich ging, oder ob vorauseilender Gehorsam und Eigendynamik der Verwaltungsbehörden, aber auch der beteiligten Polizei- und Parteistellen in der Praxis zentrale Anordnungen bereits teilweise vorwegnahmen, wie dies in Hannover zum Beispiel bei der "Aktion Lauterbacher", der Ghettoisierung der hannoverschen Juden, geschah. Soweit die Akten dies zulassen, wird insbesondere nach der Motivationsstruktur, der Mentalität und dem Habitus der Täter gefragt werden, auch danach, welchen Stellenwert antisemitische Einstellungen – gleich welcher Art und Intensität – bei ihnen haben.
 
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Abb. 2
 
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Bei der Gruppe der Nutznießer, die nur teilweise mit der der Täter identisch ist, erscheint es bemerkenswert, mit welcher Selbstverständlichkeit und Endgültigkeit alle Beteiligten, insbesondere auch die deutsche Bevölkerung, sich der persönlichen Habe ihrer jüdischen Nachbarn bemächtigten. Direkte Täter und Profiteure gingen ganz offensichtlich davon aus, dass die bis auf die letzten Küchenhandtücher und Kinderwäsche, Eheringe und Uhren ausgeplünderten Juden nicht wieder in das deutsche Reichsgebiet zurückkehren würden. Auch wenn die Akteure sich keine Gedanken über das weitere Schicksal der Vertriebenen gemacht haben sollten, müssen sie doch billigend in Kauf genommen haben, dass ein großer Teil von ihnen (Kinder, Alte, Schwache) mittellos in den Ghettos des Ostens nicht lange würde überleben können.
 
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Neben den Tätern und Nutznießern wird die Perspektive der Opfer ein zweiter, wesentlicher Bestandteil des Projekts sein. Zweifellos erlauben die Akten eine genaue Analyse der sozialen Lage der jüdischen Bevölkerung im Reich in der Phase unmittelbar vor ihrer Deportation. Es wird zu prüfen sein, welche Einblicke die Akten in Bewusstsein und Mentalität der Opfer erlauben, insbesondere inwieweit sie ihr weiteres Schicksal antizipieren konnten.
 
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Während es bereits gut dokumentierte Darstellungen der "Arisierungspolitik" vor Ort gibt, scheint uns die Bedeutung der darauf folgenden Phase der "sozialen Vernichtung" der Juden aus dem Reichsgebiet in all ihren Konsequenzen von der wissenschaftlichen Forschung noch nicht umfassend geklärt zu sein. Daher kommt der Auswertung des besonders gut erhaltenen Bestandes der Vermögensverwertungsstelle beim OFP in Hannover grundsätzliche Bedeutung zu, die weit über die regionalgeschichtliche Auswertung der Quellen hinausweist.
 

Anmerkungen:

[*]
Publikationen zu diesem Thema:
   
Claus Füllberg-Stolberg: "Wie mir bekannt geworden ist, beabsichtigen Sie auszuwandern..." Die Rolle der Oberfinanzdirektion Hannover bei der Vertreibung der Juden, in: Carl-Hans Hauptmeyer / Dariusz Adamczyk / Beate Eschment / Udo Obal (Hg.): Die Welt querdenken. Festschrift für Hans-Heinrich Nolte zum 65. Geburtstag, Frankfurt a.M. 2003, 219-234.
   
 
Hans-Dieter Schmid: "Finanztod". Die Zusammenarbeit von Gestapo und Finanzverwaltung bei der Ausplünderung der Juden in Deutschland, in: Gerhard Paul / Klaus-Michael Mallmann (Hg.): Die Gestapo im Zweiten Weltkrieg, Darmstadt 2000, 141-154.
   
 
Marlis Buchholz: Die Versteigerung des Besitzes deportierter Juden 1941/42, in: Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte 73 (2001), 409-418.
   
 
Marlies Buchholz: Die Akten der Oberfinanzdirektion Hannover als Quellen zur Geschichte niedersächsischer Juden im Nationalsozialismus, in: Archiv-Nachrichten Niedersachsen. Mitteilungen aus niedersächsischen Archiven 5 (2001), 56-63.
   
 
Hans-Dieter Schmid: '...treat them like Jewish objects'. The treatment of the Sinti and Roma at the hands of the fiscal administration, in: Romani Studies 5, Vol. 13 (2003)/ 2, 149-162.
 
 

Autoren

Dr. Marlis Buchholz
Bonifatiusplatz 3
30161 Hannover
MarlisBuchholz@gmx.de

 
Prof. Dr. Claus Füllberg-Stolberg
Universität Hannover
Historisches Seminar
Im Moore 21
30167 Hannover
claus.fuellberg-stolberg@hist-sem.uni-hannover.de
www.geschichte.uni-hannover.de/lehrende/person/cfuellbergstolberg/
index.html
 
Dr. Hans-Dieter Schmid
Universität Hannover
Historisches Seminar
Im Moore 21
30167 Hannover
hd.schmid@hist-sem.uni-hannover.de
www.geschichte.uni-hannover.de/lehrende/person/schmid/index.html
 

Zusätzlich beteiligte Wissenschaftler:

Historisches Seminar der Universität Hannover:

 
Christoph Franke, M.A.
Universität Hannover
Historisches Seminar
Im Moore 21
30167 Hannover
Christoph.Franke@hist-sem.uni-hannover.de
 

Niedersächsisches Hauptstaatsarchiv Hannover:

Ltd. Archivdirektor
Dr. Manfred von Boetticher
Niedersächsisches Hauptstaatsarchiv Hannover
Am Archiv 1
30169 Hannover

 
Dr. Sabine Graf
Niedersächsisches Hauptstaatsarchiv Hannover
Am Archiv 1
30169 Hannover
sabine.graf@staatsarchiv-h.niedersachsen.de
 

Erschließung der Akten:

Silke Petry
 
 

Empfohlene Zitierweise:

Marlis Buchholz, Claus Füllberg-Stolberg, Hans-Dieter Schmid: Antisemitische Fiskalpolitik und Verwaltungspraxis im nationalsozialistischen Deutschland:
Finanzverwaltung und Judenverfolgung am Beispiel des Oberfinanzpräsidenten Hannover, in: zeitenblicke 3 (2004), Nr. 2 [13.09.2004], URL: <http://www.zeitenblicke.historicum.net/2004/02/buchholz_fuellber-stolberg_schmid.html>

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