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  3 (2004), Nr. 3: Inhalt
Ralf-Peter Fuchs
Reichskammergerichtsakten als Quellen für die lokale Strafrechtspraxis und daraus resultierende Konflikte zwischen Untertanen und Obrigkeiten
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Reichskammergerichtsakten dokumentieren nicht nur das Wirken des Reichsgerichts selbst, sondern häufig auch sehr umfassend die Verfahren der territorialen und lokalen Gerichtsbarkeit. Zur genaueren Information über die anhängigen Rechtsstreitigkeiten besaß das Reichskammergericht nämlich die Möglichkeit, den vorinstanzlichen Gerichten die Herausgabe der von diesen produzierten Akten zu befehlen (compulsoriales). Dies galt für zivilrechtliche Angelegenheiten, grundsätzlich aber auch im Falle von Nichtigkeitsverfahren, in denen die Strafprozesspraxis vor Ort überprüft werden musste.
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Bei den Schriftstücken, die dem Reichskammergericht zugesandt wurden, handelt es sich zum einen um fallbezogene Abschriften aus den örtlichen oder territorialen Gerichtsbüchern. In ihnen wird das Vorgehen der Gerichte vom Beginn des Verfahrens über die Beweiserhebung bis zum Urteil dokumentiert. Über sie lässt sich aber auch immer wieder das Einwirken externer Institutionen nachvollziehen: So sind etwa Korrespondenzen mit juristischen Fakultäten wie auch deren Urteile im Rahmen der Aktenversendung überliefert. Ebenso kann man in einigen Fällen ersehen, welchen Einfluss territoriale Regierungsorgane auf die örtliche Strafjustiz nahmen. Nicht selten enthalten Reichskammergerichtsakten auch die Protokolle kommissarischer Untersuchungsverfahren, die auf territorialer Ebene durchgeführt wurden, um aus der Bevölkerung erhobenen Vorwürfen gegen lokale Richter und Beamte nachzugehen.
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Oftmals ergeben sich über einen Vergleich der verschiedenen Überlieferungselemente in einer Reichskammergerichtsakte sehr widersprüchliche Eindrücke. Die gegensätzliche Darstellung der Prozessparteien wirft oftmals kaum noch zu beantwortende Fragen nach dem Wahrheitsgehalt einzelner Details auf. Andererseits können etwa die Akten der lokalen und territorialen Gerichte wie auch kommissarischer Untersuchungsverfahren bis zu einem gewissen Grad als Kontrollquellen gegenüber den direkt am Reichskammergericht produzierten Akten benutzt werden. So lassen sich etwa Protokollen von Zeugenverhören, die in den Vorinstanzen durchgeführt wurden, nicht nur mehrere unterschiedliche Schilderungen von Tathergängen entnehmen, sondern zuweilen auch Hinweise auf verwandtschaftliche, freundschaftliche oder auch feindschaftliche Beziehungen unter verschiedenen Akteuren. Umgekehrt enthalten die beim Reichskammergericht eingereichten Klaglibelle wie ihre Gegenschriften (responsiones) viele direkte Hinweise auf Konflikte zwischen lokaler obrigkeitlicher Justiz und Teilen der Bevölkerung. Insbesondere zeigen sie, dass die örtliche Strafpraxis in der Bevölkerung nicht selten skeptisch betrachtet und der Vorwurf des Rechtsmissbrauchs durchaus häufiger erhoben wurde.
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Ein markantes Beispiel hierfür bietet der Reichskammergerichtsprozess, der nach dem Tod der Dorstener Bürgermeistersfrau Margareta Burich (www.hexenforschung.historicum.net/etexte/burich.html) während der Folterung in einem Zaubereiverfahren (1588) geführt wurde. Die Familie Burich warf dem Richter vor, den Hexenprozess übereilt und auf der Grundlage unzulässiger Indizien, u.a. nach Vollzug der Wasserprobe, durchgeführt zu haben und letztlich auch für den Tod der Frau unter der Folter verantwortlich zu sein.
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Vorwürfe persönlicher Voreingenommenheit und der Durchführung unrechtmäßiger Prozeduren wurden den lokalen Justizorganen auch im Fall Lackum (www.historisches-centrum.de/einblicke/02/200209.shtml) gemacht: Es ging dabei um die Hinrichtung des Kramers Georg Lackum in Wetter (Grafschaft Mark) im Jahre 1591 wegen Mordes. Die Hinterbliebenen des Hingerichteten beschuldigten den örtlichen Richter und den Amtmann, die Mitglieder der Familie als Katholiken im vornehmlich lutherischen Ort benachteiligt und die Ermittlungen zu früh auf Georg Lackum und dessen Sohn konzentriert zu haben. Kritisiert wurde darüber hinaus das Verfahren einer Bahrprobe, [1] das zur Ermittlung des Täters durchgeführt worden war. Zentral wurde jedoch auch hier die übereilte Anordnung der Folter, über die das Geständnis erwirkt worden war, beanstandet. Ähnlich wie im Fall Burich wird in diesem Fall deutlich, dass sich Bevölkerung und Justizorgane über die Gefahren der Tortur im Klaren waren und grundsätzlich von der Möglichkeit ausgingen, dass die Befragten unter den ihnen zugefügten Schmerzen falsche Geständnisse ablegten.
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Reichskammergerichtsakten zeigen damit oftmals deutlicher als andere Quellen, dass das Agieren der Justizorgane bereits während der örtlichen Verfahren massive Kritik hervorrufen konnte. Diese Kritik ging von verschiedenen Ebenen aus: Formuliert wurde sie von betroffenen Personen, eingeschlossen Verwandten, darüber hinaus, im Rahmen des juristischen Diskurses, von deren Anwälten, die etwa ihre Skepsis gegenüber Ordalen wie der Wasser- und Bahrprobe über rechtliche Argumente zum Ausdruck brachten. Zuweilen lassen sich auch über Zeugenverhöre Einschätzungen durch unbeteiligte Personen nachvollziehen: In einem Verhör, das nach der Hinrichtung des Georg Lackum durchgeführt wurde, [2] gaben acht von 23 Zeugen an, an die Unschuld des Hingerichteten zu glauben, während nur sieben Zeugen aussagten, von dessen Schuld überzeugt zu sein. Die restlichen Zeugen legten sich nicht fest. Die Reichskammergerichtsüberlieferung kann somit auch für Forschungen zur Akzeptanz der frühneuzeitlichen Strafjustizpraxis nutzbar gemacht werden. Darüber hinaus bietet sie in vielen Fällen Einblicksmöglichkeiten in die sozialen Geflechte, die dieser Praxis zugrunde lagen. Die Akten können daher auch wichtige Quellen zur Beantwortung von sozial- und kulturgeschichtlichen Fragestellungen im Rahmen der historischen Kriminalitätsforschung darstellen.
Anmerkungen
[1] Bei einer Bahrprobe wurde eine des Mordes verdächtige Person zur Leiche des Getöteten geführt. Erwartet wurden Zeichen, die den Täter überführten, insbesondere das erneute Bluten der Wunden des Opfers. Anwesendes Gerichtspersonal beobachtete und begutachtete das Geschehen.
[2] StA Ms (Nordrhein-Westfälisches Staatsarchiv Münster), RKG L 24, Bd. 2, fol. 317ff.

Autor:
Dr. Ralf-Peter Fuchs
Ludwig-Maximilians-Universität
Historisches Institut
Abteilung Frühe Neuzeit
Geschwister-Scholl-Platz 1
80539 München
Ralfpeter.Fuchs@lrz.uni-muenchen.de

Empfohlene Zitierweise:

Ralf-Peter Fuchs: Reichskammergerichtsakten als Quellen für die lokale Strafrechtspraxis und daraus resultierende Konflikte zwischen Untertanen und Obrigkeiten, in: zeitenblicke 3 (2004), Nr. 3, [13.12.2004], URL: <Bitte fügen Sie hier aus der Adresszeile des Browsers die aktuelle URL ein.>

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