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  3 (2004), Nr. 3: Inhalt
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Bernhard Diestelkamp ist emeritierter Ordinarius für Bürgerliches Recht und Deutsche Rechtsgeschichte an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt/M. und der Reichskammergerichtsforschung in mindestens drei Hinsichten verbunden. Als Universitätslehrer hat er selbst zur Thematik gearbeitet und Studien angeregt, als Mitglied der Kommission der Archivkonferenz der Länder und Vorsitzender des Archivunterausschusses des Bibliotheksausschusses der Deutschen Forschungsgemeinschaft hat er die von der Deutschen Forschungsgemeinschaft getragene Neuverzeichnung der Reichskammergerichtsakten auf den Weg gebracht und begleitet, als langjähriger Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirats der 'Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung e.V.' schließlich hat er wesentlich an der Institutionalisierung dieser Forschung und der Präsentation ihrer Ergebnisse in der Öffentlichkeit mitgewirkt.
 
Wolfgang Sellert ist emeritierter Professor für Deutsche Rechtsgeschichte und Bürgerliches Recht an der Georg-August-Universität in Göttingen. Er hat sich bereits in seiner Dissertation mit Reichshofrat und Reichskammergericht beschäftigt und in den Folgejahren vor allem den Reichshofrat in den Mittelpunkt seines Interesses gestellt, wie zahlreiche Arbeiten von ihm selbst und seinen Schülern belegen. Darüber hinaus leitet Herr Sellert die Neuverzeichnung der sog. Alten Prager Akten des Reichshofrats – eines der ersten Projekte zur systematischen Erschließung des Reichshofratsarchivs.
 
Leopold Auer ist Direktor des Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchivs, in dem das Archiv des Reichshofrats aufbewahrt wird. Vor seiner Ernennung hat er dieses Archiv mehr als 30 Jahre lang als zuständiger Referent betreut. In seiner Eigenschaft als Honorarprofessor für Historische Hilfswissenschaften an der Universität Wien bzw. am Institut für Österreichische Geschichtsforschung – dessen Mitglied er ist – hat er Arbeiten zum Reichshofrat angeregt und darüber hinaus die elektronische Erfassung der Findmittel zum Reichshofratsarchiv mit einem dem sog. Wolfschen Repertorium gewidmeten Projekt in Gang gesetzt.

Reichshofrat und Reichskammergericht –
Bedeutung, Überlieferung, Erforschung

Ein Gespräch mit Leopold Auer, Bernhard Diestelkamp und Wolfgang Sellert
 
Für ein Gespräch über Reichshofrat und Reichskammergericht – ihre Bedeutung, ihre Überlieferung, ihre Erforschung – gibt es keine kompetenteren Gesprächspartner als die hier zusammengekommenen.
 
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Wenn sich jemand so lange und so intensiv mit einer Thematik beschäftigt hat wie Sie alle mit dem Reichshofrat bzw. dem Reichskammergericht, möchte man gerne wissen, was Sie dazu bewogen hat. Erinnern Sie sich noch, in welchem Zusammenhang Sie zum erstenmal mit Reichshofrat und Reichskammergericht in Berührung kamen?

 
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Diestelkamp: Mein Einstieg in die Geschichte des Reichskammergerichts war ganz banal. Als ich 1967 nach Frankfurt berufen wurde, suchte ich nach einem Thema für meine Antrittsvorlesung, und da ich meinte, man solle quellennah arbeiten, kam mir der sog. Untrennbare Bestand des Reichskammergerichts ins Auge. Und dann bin ich bei dem Thema geblieben. Der Anlass war banal – die Ursache meiner weiteren Beschäftigung mit dem Reichskammergericht aber war, dass mir klar wurde, dass das damals vorherrschende Urteil nicht richtig sein konnte. Wenn so viele Zeitgenossen – mit viel Geld und Zeitaufwand – dieses Gericht bemüht haben – weshalb sind wir dann berechtigt zu sagen, dieses Gerichts sei wirkungslos gewesen? Es war faszinierend zu verfolgen, welche Bedeutung die Zeitgenossen diesem Reichskammergericht gaben. Dazu musste man allerdings die Fragestellung ändern.
 
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Es durfte nicht mehr darum gehen, ob dies ein Gericht in einem zentral organisierten Staat mit festem Exekutionsapparat und all dem, was wir für ein modernes Gericht für wichtig halten, war, sondern ob ein Gericht auch andere Wirkungen entfalten kann. Und da kam – nicht nur bei mir, sondern auch bei einigen Historikern, die gleichzeitig anfingen, sich mit der Thematik zu beschäftigen – die Idee auf, ob nicht das Alte Reich ein Friedens- und Rechtsverband gewesen sei. Das war die mich – auch aus der Nachkriegsgeschichte heraus – faszinierende Fragestellung, unter der ich mich dann dem Reichskammergericht genähert habe. Ein Gericht muss nicht unbedingt mit Exekutionsgewalt ausgestattet sein, um wirken zu können.
 
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Sellert: Der Anfang meiner Beschäftigung mit Reichshofrat und Reichskammergericht war ein Seminar über die höchste Gerichtsbarkeit im Alten Reich, das mein Lehrer Adalbert Erler 1958 oder 1959 an der Universität Frankfurt a.M. veranstaltete. Die Anregung zu diesem Thema verdankte er Emilio Bussi, der 1957 ein zweibändiges Werk über das Alte Reich veröffentlicht und darin auch den Reichshofrat behandelt hatte. [1] Die Tatsache, dass Bussi den Begriff 'Reich' in einem durchaus positiven Sinne verwendet hatte – das war in Deutschland nach dem Untergang des 'Dritten Reiches' ja nicht ganz unproblematisch – hatte Erler ermutigt. In diesem Seminar habe ich meiner Erinnerung nach ein Referat über die Zuständigkeit von Reichshofrat und Reichskammergericht gehalten.
 
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Schon in diesem frühen Stadium habe ich bemerkt, dass der Reichshofrat eine viel größere Bedeutung haben müsse als gemeinhin angenommen – vor allem im Verhältnis zum Reichskammergericht. Ich habe aber auch wahrgenommen, dass man den Reichshofrat nicht ohne das Reichskammergericht und das Reichskammergericht nicht ohne den Reichshofrat erörtern kann, wenn man zuverlässige Einsichten über die höchste Gerichtsbarkeit im Alten Reich gewinnen möchte. Was mich dann besonders fasziniert hat – und deswegen ist der Reichshofrat für mich dann auch zu einer Aufgabe, ja fast zu einer Lebensaufgabe geworden – war – und ich erinnere mich noch sehr genau daran –, dass ich in der Arbeit mit den Akten des Reichshofrats zum ersten Mal Rechtsgeschichte sozusagen auf der Haut gespürt habe. Denn hier hatte man es mit Prozessen zu tun, die wirklich stattgefunden hatten und noch immer einen Hauch von Aktualität ausstrahlten, hier erfuhr man etwas über Parteien, die um ihr Recht gekämpft hatten – wie sich überhaupt in den Akten das Rechts- und Verfassungsleben des Alten Reiches in einer lebensnahen Weise widerspiegelten. Insgesamt begegnete man hier unmittelbar einer realen Welt und musste sich nicht mit Informationen aus zweiter Hand begnügen. Es waren daher die Prozessakten, die mich ganz besonders beeindruckt haben.
 
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Auer
: Der Anlass, mich mit dem Reichshofrat zu beschäftigen, war relativ banal. Als ich ins Haus-, Hof- und Staatsarchiv eingetreten bin, war das Archiv des Reichshofrats einer der Bestände, die mir zur Bearbeitung und Betreuung zugewiesen wurden. Der Reichshofrat war mir natürlich von meiner Ausbildung am Institut für Österreichische Geschichtsforschung her bekannt, wo die deutsche Verfassungsgeschichte zu den Prüfungsfächern gehörte. Was mich dann aber vor allem fasziniert hat und bis heute fasziniert, ist die ungeheure Quellenmasse, die im Archiv des Reichshofrats erhalten ist, und die Vielfalt der Informationen, die darin steckt – nicht nur für die Rechtsgeschichte, sondern für alle möglichen Teilgebiete der Geschichte, von der Alltags- zur politischen Geschichte, von der Kultur- zur Sozialgeschichte. Dazu kommt, dass die Erschließung der Akten nicht sehr weit gediehen war, was zu einem Ungleichgewicht in der Erforschung von Reichshofrat und Reichskammergericht geführt hatte. Das Archiv musste und muss ein Interesse daran haben, hier etwas zu tun.
 
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Anlass für konkretere Projekte war darüber hinaus die Begegnung mit Wolfgang Sellert, den ich seit etwa 1970 kenne. Die Faszination, die das Thema auf ihn ausübte, hat bis zu einem gewissen Grad ansteckend gewirkt. Aus den Arbeiten seiner Schüler und anderer habe ich gelernt, was man alles aus diesen Akten machen kann – aber auch, wo die Probleme liegen. Das alles war ein wesentlicher Antrieb mitzuhelfen, vor allem die Erschließung der Reichshofratsakten zu verbessern.
 
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Sie alle haben die Bedeutung der Überlieferung von Reichshofrat und Reichskammergericht hervorgehoben. Schon allein die Masse des erhaltenen Materials ist beeindruckend: Für das Reichskammergericht geht man von 75.000 Prozessakten aus, für den Reichshofrat dürften es allein an Prozessakten rund 70.000 sein. Dazu kommt im Fall des Reichshofrats – der nicht nur Reichsgericht war – die Überlieferung der sog. Gratialregistratur, also Akten, die vor allem das Lehens- und Privilegienwesen betreffen. Was macht die besondere Reichhaltigkeit dieser Überlieferung aus? Was wird in diesen Akten gesucht – und gefunden?
 
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Auer: Auf der einen Seite kommen natürlich sehr viele Anfragen zu rechtshistorischen Themen – Prozessverlauf, Prozessverfahren, Rechtsfragen etc. Auf der anderen Seite fällt die Bedeutung der Akten für die Territorialgeschichte des Reichs auf. Es gibt kein Territorium, keinen Reichsstand, der nicht irgendwann einmal – und meist relativ oft – ein Verfahren vor dem Reichshofrat geführt hat. Die Reichshofratsakten enthalten viel Material zur Geschichte einzelner Territorien, einzelner Reichsstände, einzelner Reichsstädte – was vor allem deswegen bedeutsam ist, weil deren eigene Archive ganz unterschiedlich erhalten sind. Es gibt ehemalige Reichsstädte, die zur Rekonstruktion ihrer Geschichte wahrscheinlich auf das Archiv des Reichshofrats angewiesen sind – ich denke an Beispiele wie Biberach oder Buchau. Auch zu Einzelpersonen gibt es eine Fülle von Informationen. Und in den Akten – gerade in den Beilagen der Prozessparteien – findet sich wirklich das unterschiedlichste Material, bis hin zu recht interessanten Kartenbeilagen, Zeichnungen, ganz selten auch Realien – etwa bei Prozessen um Münzfälschungen, wo es gelegentlich vorkommt, dass ein solches Stück den Akten beiliegt.
 
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Diestelkamp: Die Reichskammergerichtsakten sind eindeutig Prozessakten, so dass der Vorrang der Rechtsgeschichte herausgestellt werden muss – ursprünglich wurden sie ja auch vornehmlich für die Rezeptionsgeschichte ausgewertet. Diese Diskussion war ziemlich unfruchtbar, weil man meist mit der Kameralliteratur argumentierte statt mit Akten und Urteilen. Das hat sich seit der Neuverzeichnung der Akten geändert – die alten Diskussionen müssten nun wieder aufgenommen werden. Aber das ist nicht alles. Herr Auer hat schon darauf hingewiesen: Die deutsche Territorialgeschichte insgesamt kann nur verstanden werden, wenn man die Auseinandersetzungen, die vor dem Reichskammergericht stattfanden, analysiert und berücksichtigt – in der Arbeit von Frau Westphal haben wir ein hervorragendes Beispiel dafür. [2] Das ist die Politikgeschichte. Man muss nicht dabei stehen bleiben. Alle Fragestellungen sind denkbar. Man kann sich – etwa auf der Grundlage der Monopolprozesse – mit der Handelsgeschichte beschäftigen, mit Familiengeschichte – nicht umsonst waren die Genealogen fast die einzigen, die vor der Erschließung der Reichskammergerichtsakten mit dem Material arbeiteten –, aber auch mit den 'kleinen Leuten'. Die Untertanenprozesse, die – mit Recht – in der Nachkriegszeit eine ganz besondere Rolle gespielt haben, haben gezeigt, dass auch einfache Bauern ihr Recht vor dem Reichskammergericht suchten und auch fanden. Die Vorstellung, dass die hohen Herren sich sofort mit den adeligen Gegnern der Bauern identifiziert hätten, ist völlig verfehlt – sie haben wirklich Recht gesprochen und damit zur Entstehung einer deutschen Rechtskultur beigetragen.
 
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Sellert: Ich kann das, was Herr Diestelkamp gesagt hat, nur voll unterstreichen; es gilt im Großen und Ganzen ebenso für den Reichshofrat. Aber es gibt noch eine Besonderheit. Mich hat schon als Student immer das Verfahrensrecht interessiert. Bisher bestand die Auffassung, dass es vor allem der Reichskammergerichtsprozess war, der Vorbild für den deutschen Zivilprozess gewesen ist. Wenn man sich jedoch genauer mit den Reichshofratsakten, aber auch mit Entwicklungen in den Territorien beschäftigt, sieht man, dass ebenso der Reichshofratsprozess die deutsche Prozessrechtsentwicklung beeinflusst hat. Dass das so war, hat u.a. mein Schüler Peter Jessen für das Oberappellationsgericht Celle nachgewiesen. [3] Der Reichshofratsprozess war zwar wesentlich unstrukturierter als das Verfahrensrecht des Reichskammergerichts, funktionierte aber schneller – die schöne Geschichte, dass in Wetzlar die Akten auf dem Dachboden an Fäden aufgereiht hingen und die Akte bearbeitet wurde, die herunterfiel, weil der Faden morsch geworden war oder die Mäuse ihn abgebissen hatten – diese Geschichte wird eben vom Reichskammergericht erzählt und nicht vom Reichshofrat. Schließlich hat man in der Epoche des Gemeinen Rechts nicht mehr zwischen Reichskammergerichts- und Reichshofratsprozess unterschieden – beide fließen, etwa bei Danz, [4] zum 'Reichsgerichtsprozess' zusammen.
 
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Was mir außerdem wichtig erscheint: Wie in jeder Gesellschaft war auch das Zusammenleben im Alten Reich entscheidend durch rechtliche Beziehungen bestimmt. So waren jeder Friedensschluss, jede Vereinbarung, jede Grundstücksübertragung, jedes Darlehen, jedes Dienstverhältnis, jede kriminelle Tat, jede Heirat, jede Geburt eines Kindes, jeder Tod eines Menschen etc. zugleich auch immer mit rechtlichen Implikationen und Konsequenzen verbunden. Und viele dieser rechtlichen Beziehungen – sei es im politischen, verfassungsrechtlichen, strafrechtlichen oder privatrechtlichem Bereich – werden durch die Reichshofratsakten in einer besonders realen und sehr eindrucksvollen Weise dokumentiert. Wenn erst einmal die Reichshofratsakten erschlossen sind, wird man nicht nur mehr über das Rechtsleben im Alten Reich wissen, sondern auch besser beurteilen können, wie dieses Reich zusammengehalten hat.
 
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Trotzdem sind beide Gerichte lange Zeit negativ beurteilt worden. Das Reichskammergericht galt als ineffektiv, der Reichshofrat als parteilich. Beide Behörden lösten sich 1806 mit dem Alten Reich auf, und seither hat sich viel geändert. Wieso lohnt es, sich mit ihnen zu beschäftigen – für die Geschichte des Alten Reichs, aber auch für die Gegenwart? Was bedeutet der Reichshofrat in und für Österreich?
 
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Sellert: Das ist eine ganz schwierige Frage, weil man als Historiker und Rechtshistoriker natürlich zunächst einmal gerne wissen möchte, wie die Rechtsverhältnisse im Alten Reich gewesen sind. Was den Prozess betrifft, so meine ich, dass man die Grundlagen des gegenwärtigen Prozesses besser verstehen kann, wenn man seine Entwicklung genau kennt. Darüber hinaus könnte uns das Aktenmaterial die Einsicht verschaffen, dass viele der Konflikte, die uns dort begegnen, nicht viel anders gewesen sind als die Probleme jüngerer Generationen, und dass die Lösungen, die damals gefunden wurden, keineswegs so meilenweit von den Lösungen gegenwärtiger Rechtsprobleme entfernt sind. Mit dieser Gewissheit wird man sich selbst als Teil einer historischen Vergangenheit begreifen und – so idealistisch das auch klingen mag – die Gegenwart besser beurteilen und verstehen können.
 
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Diestelkamp
: Die Frage nach der Nützlichkeit historischer Erkenntnis für die Gegenwart ist eine sehr problematische. Der Rechtshistoriker wird von den Kollegen vom geltenden Recht immer wieder gefragt, was er denn Nützliches für die Gegenwart bringe. Ich habe mich dem immer verweigert. Ich habe mich stets als Historiker definiert. Natürlich kommt es vor, dass sich der Bundesfinanzhof oder das Bundesverfassungsgericht auf das Reichskammergericht als Vorgängerinstitution berufen. Davon halte ich gar nichts. Diese Gerichte arbeiten aus eigenem Recht. Der historische Hiatus zwischen 1806 und heute ist so groß, dass ich nicht meine, man müsse nach irgendwelchen Wurzeln suchen. Man muss also nur fragen, welchen historischen Erkenntniswert der Umgang mit den Akten und mit dem Sujet bietet.
 
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Das Reichskammergericht war – neben Reichshofrat und Reichstag – eine der drei Behörden, die das Alte Reich ausgebildet hat. Wenn man das Alte Reich verstehen will, muss man sich mit den Dingen, die diese Behörden beschäftigt haben, befassen. Unter historischen Gesichtspunkten darf die Überlieferung der beiden Reichsgerichte nicht übersehen werden, wenn man nicht wichtige Aspekte der Entwicklung des Alten Reichs übersehen will. Das ist für mich der Hauptgesichtspunkt. Die Verknüpfung mit dem geltenden Recht halte ich für in der Regel krampfhaft und wenig nutzbringend. Politikberatung durch Geschichte geht meistens daneben – das gilt auch für die Rechtspolitik.
 
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Auer: Ich finde auch, dass der Reichshofrat ein wichtiges Element der Verfassungsstruktur, der politischen und rechtlichen Wirklichkeit des Reichs ist und man sich daher mit ihm befassen muss, will man nicht ein verzerrtes Bild des Reichs entwerfen. Wieso man sich überhaupt mit dem Alten Reich – und damit mit dem Reichshofrat – beschäftigen soll, berührt die von Herrn Diestelkamp angesprochene Frage nach dem Wert historischer Erkenntnis.
 
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Für mich ist die Beschäftigung mit Geschichte sinnvoll und notwendig, weil Geschichtlichkeit meiner Ansicht nach ein Wesenselement des Menschen darstellt. Die Beschäftigung mit Geschichte weitet den Erfahrungshorizont des Menschen in Dimensionen aus, die er im Verlauf seines eigenen Lebens nicht haben kann – ohne dass man daraus einen kurzschlüssigen Nutzen ziehen muss. Burckhardt hat einmal gesagt, Geschichte soll uns nicht klug machen für ein anderes Mal, sondern weise für immer. Darüber hinaus gibt es Konstellationen und Entwicklungen, die sich nicht kurzfristig, sondern nur über einen langen Zeitraum hinweg verfolgen und beurteilen lassen – das, was Braudel und die Annalisten die 'longue durée' genannt haben. Es kann notwendig sein, sehr weit in die Vergangenheit zurückzugehen.
 
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Ich bin auch nach der Bedeutung des Reichshofrats für Österreich gefragt worden. Für die Geschichte Österreichs ist die Geschichte des Reichshofrats ein noch weitgehend unbeschriebenes Blatt, was mit dem Verhältnis zwischen österreichischer und deutscher Geschichte bzw. Geschichtsschreibung überhaupt zusammenhängt. Meiner Ansicht nach war der Reichshofrat durchaus wichtig für die Stellung der Kaiser. Die Stellung des Kaisers aber war auch für die Entwicklung der Habsburgermonarchie von großer Bedeutung, weil sie ein integrierendes Element in diesem Konglomerat von Erbkönigreichen und Ländern bedeutet hat. Insofern gibt es natürlich eine Verbindung zwischen österreichischer Geschichte – oder besser der Geschichte der Habsburgermonarchie – und dem Reichshofrat. Darüber hinaus war der Reichshofrat insbesondere in seinen Anfängen auch vielfach mit Fällen aus dem Bereich der Habsburgermonarchie beschäftigt, so dass das Archiv des Reichshofrats manche sehr interessante Quelle für die österreichische Geschichte enthält.
 
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Wenn Sie an die Anfänge Ihrer Beschäftigung mit Reichshofrat und Reichskammergericht zurückdenken: Was hat sich seither geändert? Wie sehen Sie die Zukunft der Reichsgerichtsforschung?
 
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Diestelkamp: Wenn ich mich an die Zeit erinnere, in der ich anfing, mich mit dem Reichskammergericht zu beschäftigen, und die ganze negative Literatur vor mir sehe, dann muss ich sagen: Es hat sich ein radikaler Wandel vollzogen. Heute würde niemand mehr so über das Reichskammergericht urteilen – und ich hoffe, dass Ähnliches auch bald beim Reichshofrat der Fall sein wird.
 
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Sicher ist, dass die Neubeschäftigung mit dem Reichskammergericht parallel lief mit der Neuverzeichnung der Reichskammergerichtsakten, denn ohne Quellen sind wir Historiker nichts. Die Anregungen, die von den gedruckten Findbüchern ausgingen, waren unermesslich. Ob man die Untertanenprozesse oder die Hexenprozesse betrachtet oder die statistische Bearbeitung der Gesamtmasse der Akten – wir haben gesehen, wie unterschiedlich die Faszination des Gerichts beim rechtssuchenden Publikum in verschiedenen Zeiten war –: All dies war erst möglich durch die Neuverzeichnung. Der enorme Fortschritt in der Forschung ist durch zwei Dinge erreicht worden: dadurch, dass man neue Fragestellungen hatte, und dadurch, dass man das Material zur Verfügung gestellt bekam. Die Forschungsperspektiven der nächsten und übernächsten Generation vorauszusagen, fühle ich mich überfordert – ich bin kein Prophet. Ich weiß nur, dass jede Generation große Themen neu behandelt. Und das nicht nur, weil und wenn Quellen neu erschlossen werden, sondern auch, weil sich neue Fragen ergeben.
 
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Sellert: Der Fortschritt, den die Erforschung des Reichshofrats seit etwa 1957 gemacht hat, ist enorm, denn damals gab es außer der zeitgenössischen Literatur und dem Werk von Oswald von Gschließer [5] fast nichts über das kaiserliche Gericht in Wien. Ich vermute, dass meine Arbeit über die Zuständigkeitsabgrenzung zwischen Reichshofrat und Reichskammergericht [6] eine der ersten war, die nach 1945 überhaupt auf diesem Gebiet geschrieben worden sind. Der Fortschritt zeigt sich natürlich nicht nur in meinen eigenen Arbeiten – etwa meiner Habilitationsschrift [7] oder der kritischen Edition der Reichshofratsordnungen [8] –, sondern auch in den Arbeiten der Schüler. Und er zeigt sich ferner dort, wo es um das Reichskammergericht geht.
 
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So hat die Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung in Wetzlar, die wesentlich der Initiative Bernhard Diestelkamps zu verdanken ist, ihre Türen von Anfang an auch dem Reichshofrat geöffnet. In der 'Grünen Reihe', die eigens für die höchste Gerichtsbarkeit im Alten Reich kreiert worden ist [9]– Anfang der 1970er-Jahre war das –, sind zahlreiche Bände erschienen, die auch den Reichshofrat zum Gegenstand haben. Man hat inzwischen erkannt, dass Reichskammergericht und Reichshofrat auf das engste zusammengehören und dass bei der Erforschung der höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich der Reichshofrat nicht fehlen darf.
 
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Ein weiterer bedeutender Fortschritt ist darin zu sehen, dass sich inzwischen auch die österreichische Forschung für die Reichshofratsakten interessiert. Werner Ogris, emeritierter Ordinarius für Österreichische und Europäische Rechtsgeschichte an der Wiener Universität und Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, engagiert sich für ein Projekt, das die Frühgeschichte des Reichshofrats zum Thema hat. Darüber hinaus wird es zunächst einmal darauf ankommen, die Aktenbestände des Reichshofrats weiter zu erschließen, so dass sie von der Wissenschaft besser genutzt werden können. Ein Anfang ist mit den 'Alten Prager Akten' gemacht worden, aber das ist – angesichts der Masse der noch nicht erschlossenen Akten – wirklich nur eine Art 'Versuchsgrabung'.
 
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Schön wäre es, wenn der Plan einer von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und der Göttinger Akademie der Wissenschaften sowie dem Haus-, Hof- und Staatsarchiv gemeinsam getragenen Erschließung sämtlicher Reichshofratsakten durch ein Langzeitunternehmen realisiert werden könnte. Welche neuen Fragen dann an dieses Aktenmaterial gestellt werden, lässt sich heute noch nicht sagen.
 
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Auer: In den letzten 30 Jahren hat sich durchaus einiges verändert, sowohl was die Forschung zum Reichshofrat als auch was die Erschließung der Akten betrifft. Es hat wichtige Arbeiten gegeben, die die Forschungssituation positiv beeinflusst haben, und die zum Teil von der Schule Wolfgang Sellert gekommen sind – ich denke etwa an die Arbeit von Manfred Uhlhorn über den Mandatsprozess [10] –, zum Teil von der Schule Winfried Schulze – etwa Werner Troßbachs Untersuchungen zu den Untertanenkonflikten –, zum Teil von Volker Press oder Karl Otmar Freiherr von Aretin. Welche Möglichkeiten für neue Fragestellungen und neue Erkenntnisse vorhanden sind, sieht man an der Auswertung der Reichskammergerichtsakten in den letzten Jahren. Hier wurde, wie Herr Diestelkamp gesagt hat, wirklich viel durch die Neuverzeichnung angeregt.
 
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Man hat gesehen, wie das neu verzeichnete Material dann auch von der Forschung rezipiert worden ist. Dasselbe muss für den Reichshofrat zum Großteil erst geleistet werden. Deshalb erscheint es mir enorm wichtig, dass bei der Erschließung der immensen Quellenmasse im Reichshofratsarchiv weitere Fortschritte gemacht werden können. Die Ansätze, die sich z.B. durch die Digitalisierung des Wolfschen Repertoriums oder die Neuverzeichnung der 'Alten Prager Akten' ergeben haben, sollten unbedingt weiterverfolgt werden. Dazu sind natürlich auch entsprechende Finanzmittel notwendig. Wir wissen, dass die Zeit dem im Augenblick nicht günstig ist, weil Erschließungsprojekte aus unerfindlichen Gründen nicht in Mode sind und häufig gering geschätzt werden. Aber wie soll man Fortschritte in der Forschung machen, wenn man nicht auch die Quellenbasis erweitert? Deswegen halte ich es für ein ermutigendes Signal, dass am Institut für Österreichische Geschichtsforschung, wo in den letzten Jahren die eine oder andere Arbeit zum Reichshofrat angeregt wurde, im Augenblick durchaus eine Aussicht besteht – die Bewilligung entsprechender Mittel vorausgesetzt –, dass in Zukunft vielleicht mehr an Erforschung und Erschließung im Zusammenhang mit dem Reichshofrat gefördert werden wird.
 
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Das Gespräch wurde am 15. Oktober 2003 in Wien geführt. Die Fragen für 'zeitenblicke' stellte Eva Ortlieb.
 

Anmerkungen:

[1] Emilio Bussi: Il diritto pubblico del Sacro Romano Impero alla fine del XVIII secolo, 2 Bde., Mailand 1957-1959.
Siegrid Westphal: Kaiserliche Rechtsprechung und herrschaftliche Stabilisierung. Reichsgerichtsbarkeit in den thüringischen Territorialstaaten 1648-1806, Köln / Weimar / Wien 2002 (= Quellen und Forschungen zur Höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich 43).
[3] Jessen: Der Einfluß von Reichshofrat und Reichskammergericht auf die Entstehung und Entwicklung des Oberappellationsgerichts Celle, Aalen 1986 (= Untersuchungen zur deutschen Staats- und Rechtsgeschichte N.F. 27).
[4] Wilhelm August Friedrich Danz: Grundsäze des Reichsgerichts-Prozesses, Stuttgart 1795.
[5] Oswald von Gschließer: Der Reichshofrat. Bedeutung und Verfassung, Schicksal und Besetzung einer obersten Reichsbehörde von 1559 bis 1806, Wien 1942 (= Veröffentlichungen der Kommission für neuere Geschichte des ehemaligen Österreich 33).
[6] Wolfgang Sellert: Über die Zuständigkeitsabgrenzung von Reichshofrat und Reichskammergericht insbesondere in Strafsachen und in Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit, Aalen 1965 (Untersuchungen zur deutschen Staats- und Rechtsgeschichte N.F. 4).
[7] Wolfgang Sellert: Prozeßgrundsätze und Stilus Curiae am Reichshofrat im Vergleich mit den gesetzlichen Grundlagen des reichskammergerichtlichen Verfahrens, Aalen 1973 (= Untersuchungen zur deutschen Staats- und Rechtsgeschichte N.F. 18).
[8] Wolfgang Sellert (Hg.): Die Ordnungen des Reichshofrates 1550-1766, 2 Bde., Köln / Wien 1980-1990 (= Quellen und Forschungen zur Höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich 8).
[9] Quellen und Forschungen zur Höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich.
[10] Manfred Uhlhorn: Der Mandatsprozeß sine clausula des Reichshofrats, Köln / Wien 1990 (= Quellen und Forschungen zur Höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich 22).
 
 

Gesprächspartner

Hofrat Direktor Hon.-Prof. Dr. Leopold Auer
 
Prof. Dr. Wolfgang Sellert
 
Prof. Dr. Dr. Bernhard Diestelkamp
 
Dr. Eva Ortlieb
Österreichische Akademie der Wissenschaften
Kommission für Rechtsgeschichte Österreichs
Dr. Ignaz-Seipel-Platz 2
A-1010 Wien
eva.ortlieb@oeaw.ac.at
 

Anmerkung der Redaktion:

Empfohlene Zitierweise:

Ein kulturhistorisches Experimentierfeld par excellence: Reichshofrat und Reichskammergericht – Bedeutung, Überlieferung, Erforschung: Interview mit Hofrat Direktor Hon.-Prof. Dr. Leopold Auer, Prof. Dr. Wolfgang Sellert, Prof. Dr. Dr. Bernhard Diestelkamp, in: zeitenblicke 3 (2004), Nr. 3 [13.12.2004], URL: <Bitte fügen Sie hier aus der Adresszeile des Browsers die aktuelle URL ein.>

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ZEITENBLICKE ISSN: 1619-0459