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  3 (2004), Nr. 3: Inhalt
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Winfried Schulze

Gerichtsakten als Quelle. Möglichkeiten und Grenzen.

Interview mit Herrn Prof. Dr. Winfried Schulze (München)
 
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Obwohl sich bereits in Ihren Arbeiten zur Landesdefension und Territorialstaatsbildung in Innerösterreich ein Interesse für die Untertanen und ihre Möglichkeiten, Recht in der frühneuzeitlichen Gesellschaft zu suchen, zeigt, haben Sie meines Wissens zum ersten Mal in Ihrer Untersuchung über die Türkensteuern ein besonderes Augenmerk auf die Prozesstätigkeit von Bauern am Reichskammergericht gerichtet. Welche Rolle fiel den Historikern allgemein beim Aufschwung der Reichsgerichtsforschung in den 1970er Jahren zu? War das historische Interesse zunächst auf die Bauernkonfliktforschung begrenzt?
 
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Tatsächlich ist es so, dass ich in meiner Dissertation zum ersten Mal auf die Bedeutung von Untertanen in der territorialstaatlichen Politik gestoßen bin. Hinzu kamen dann sehr bald spezielle Interessen an den Folgen des Bauernkrieges und an den Bauernprozessen am Reichskammergericht, auf die ich auf dem Umweg über meine Habilitationsschrift gestoßen bin. Darin ging es ja unter anderem auch um die Reaktionen der Untertanen auf die steigenden Türkensteuern des späten 16. Jahrhunderts. Es lag also nahe, hier genauer nachzuschauen, welche spezifischen Verfahren im Reich entwickelt wurden, um diese Steuerforderungen durchzusetzen. Parallel interessierten mich die Prozesse, die am Reichskammergericht gegen protestantische Stände wegen der Nichterlegung von Reichssteuern gezahlt wurden. Aus beiden Richtungen her kam ich also auf den Quellenbestand der Reichskammergerichtsakten zu, und daher lag es nahe, mich diesem Gegenstand intensiver zu widmen. Natürlich spielte dabei auch eine Rolle, dass diese Quellen bislang so gut wie unerforschtes Material darstellten.
 
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Wie gestaltete sich das Zusammenwirken von juristischen Rechtshistorikern und Allgemeinhistorikern bei der Etablierung des Forschungszweiges Reichskammergericht bzw. Reichsgerichtsbarkeit?
 
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Wenn ich mich recht erinnere, dann gestaltete sich die Kooperation mit den damals auf dem Gebiet der Reichsgerichtsbarkeit arbeitenden Spezialisten sehr schnell sehr gut. Mit Herrn Diestelkamp und Herrn Sellert ergaben sich sehr schnell Arbeitskontakte, die dann im Laufe der Zeit weiter ausgebaut worden sind. Auch mit Herrn Schlaich hatte ich intensive Arbeitskontakte wegen der Majoritätsdebatte auf den Reichstagen, die ich in meiner Habilitationsschrift berührt hatte. Insgesamt spielte bei der Zusammenführung von Allgemeinhistorikern und Rechtshistorikern die Einrichtung der Wetzlarer Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung eine wesentliche Rolle. Da traf man sich und konnte über gemeinsame Schwerpunkte und Interessen diskutieren.
 
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Betrachten wir zunächst die Problematik der Untertanenprozesse etwas genauer: Sie haben zur Untersuchung der gerichtlichen Möglichkeiten und Perspektiven des "gemeinen Mannes" immer auch Verfahren einbezogen, in denen die Untertanen die beklagte Partei waren. Wie interpretiert man den Befund, dass sich nicht nur die Untertanen an das Reichskammergericht wandten, um Recht gegen ihre Herren zu erhalten, sondern auch gelegentlich Grundherren oder Landesherren die Reichsgerichtsbarkeit in Anspruch nahmen, etwa wenn es in ihrem Herrschaftsbereich zu Steuer- oder Dienstverweigerungen kam?
 
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Es ist meines Erachtens ein Hinweis auf die relative Stärke des Reichsverbandes und sein etabliertes Rechtssystem schon seit dem frühen 16. Jahrhunderts dass sich sowohl Untertanen wie Herrschaften an die Reichsgerichte wandten. Was die klagenden Landesherren betrifft, so muss man dabei bedenken, dass sich unter den vielen Reichsständen, die gegen ihre Untertanen klagten, eine große Zahl von Ständen befand, die man als mindermächtig bezeichnen muss, die also auf den Schutz mächtiger Nachbarn oder auch den Schutz eben der Institutionen des Reiches angewiesen waren. Gerade bei den oberdeutschen Bauernrevolten des späten 16. und frühen 17. Jahrhunderts spielte dieses Argument eine wichtige Rolle.
 
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Ab dem 16. Jahrhundert lässt sich beobachten, dass dem Hinweis auf die Lage der Bauern etwa in den Reichsversammlungen eine wichtige politische Bedeutung zukam. Kann man abwägen, in welchem Verhältnis Diskurse dieser Art und die vor den Reichsgerichten erprobte Argumentation zur Gewährung von Bauernrechten zueinander standen?
 
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Natürlich tauchte auf den Reichstagen immer wieder das Argument der nicht mehr stärker belastbaren Bauern auf, um eine bestimmte Höhe der Steuern abzuwehren. Das ist zunächst einmal eine strategisch nachvollziehbare Position der betroffenen – meist kleineren - Landesherren, die sich in der Tat an der Grenze ihrer Leistungsfähigkeit sahen. Man wird aber kaum sagen können, dass solche politischen Argumentationen die Reichsgerichte wesentlich beeinflusst haben. Bei den Reichsgerichten stand meines Erachtens im Vordergrund die seit dem Ende des Bauernkrieges etablierte Beschwerdemöglichkeit der Untertanen, die sowohl praktisch wie auch rechtstheoretisch untermauert wurde. Die hier entwickelten Verfahren zum Schutz der Untertanen vor der "saevitia" der Herren machte ein ganz wesentliches Moment dieser Entwicklung aus. Dazu muss man bedenken, dass die Grundlagen des römischen Rechtes in seiner rezipierten Form einige Verfahrensmöglichkeiten bereitstellten, um den bäuerlichen Untertanen zu helfen.
 
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Wie schätzen Sie die Erfolge der Prozesstätigkeit von Untertanen am Reichskammergericht ein? Auf welchen Ebenen lassen sich die kurzfristigen und langfristigen Auswirkungen des Prozessierens bzw. generell der Verrechtlichung sozialer Konflikte festmachen?
 
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Insgesamt ist es natürlich faszinierend zu beobachten, in welcher Intensität die Untertanen die Prozessmöglichkeiten am Reichskammergericht genutzt haben. Für mich war es damals erstaunlich und auch zunächst kaum erklärbar, dass die Bauern, deren Juristenkritik mir bekannt war, sich nach dem Bauernkrieg Hilfe suchend an das Reichskammergericht wandten. Man kann dies ja schon unmittelbar nach dem Bauernkrieg feststellen, wenn etwa in den frühen 1530er Jahren Gemeinden auf die Herausgabe ihrer Glocken klagen, die ihnen im Laufe des Bauernkrieges abgenommen worden waren. Kurzfristig standen natürlich für die jeweils klagenden Gemeinden konkrete Ziele im Vordergrund, d.h. die Begrenzung bestimmter Abgaben und Leistungen, für ihre langfristigen Zielvorstellungen geben uns die Quellen weniger Auskunft, was natürlich nicht erstaunt. Man wird aber in der genauen Deutung ihrer Beschwerden davon ausgehen müssen, dass sich schon im Laufe des 16. Jahrhunderts ein eindeutiger Trend zu einer Verrechtlichung sozialer Konflikte ergab. Anders wären die inzwischen vielfach belegten eindeutigen Quoten der Frequentierung der Reichsgerichte nicht nachvollziehbar. Man wird natürlich den Prozessen keine unmittelbar System verändernden Wirkungen zubilligen können, langfristig aber ergab sich ein rechtlich geordnetes Verhältnis von Landesherren und bäuerlichen Untertanen, dessen Wirkungen en détail noch zu erforschen wären.
 
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Der in Reichskammergerichtsakten häufiger auftretende Begriff der "tyrannischen" Obrigkeit bzw. "tyrannischen" Herrschaft lässt sich nicht nur im Bereich des Bauernwiderstands ausmachen. Offensichtlich nutzten Untertanen rechtliche Möglichkeiten in ganz unterschiedlichen Kontexten (Justizverweigerung; Hexenprozesse etc.), um ihre Chancen in einer herrschaftlich und ständisch geprägten Gesellschaft zu erhöhen. Obwohl in Rechtssetzung und Rechtssprechung immer wieder ständische Auffassungen einflossen, scheint Recht doch als eine höchst wichtige, allgemein verbindliche Grundlage des Zusammenlebens in der Gesellschaft betrachtet worden zu sein, das unter Umständen die Spielräume von Herrschaften und Obrigkeiten erheblich beschnitt bzw. eingrenzte. Sehen Sie für die Frühe Neuzeit einen Gegensatz zwischen herrschaftlicher, und damit personal geprägter Ordnungsauffassung und dem Recht als einem eher "abstrakten Leitbild"?
 
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Ihre Frage thematisiert den Kern meines eigentlichen Interesses an der Beschäftigung mit der Prozesstätigkeit von Untertanen im 16. und 17. Jahrhundert, später dann auch im 18. Jahrhundert. In der Gesamtentwicklung dieser Epoche lässt sich ein wichtiger Gegensatz beobachten: zum einen eine der ständischen Gesellschaftsordnung inhärente Neigung, dem Untertanen eine mindere Position zuzuweisen, von ihm Leistungen und Arbeit zu verlangen, und ihn allgemein gering zu schätzen. Auf der anderen Seite entwickelt sich das Rechtssystem, zunächst sicherlich nicht in der Absicht, die Bauern zu schützen, sondern erst einmal als ein allgemein notwendiges Verfahren zur Regelung der Streitfragen innerhalb einer komplizierter werdenden Gesellschaft, um latente und offene Konflikte verfahrensmäßig zu kontrollieren. Hierin besteht die wesentliche Funktion eines komplizierter werdenden Rechtssystems. Die eigentlich interessante Dynamik liegt nun darin, dass ein einmal gewährtes basales Rechtssystem unter den Voraussetzungen des christlichen Abendlandes, d.h. der Anerkennung des Eigenwertes der Person, eine Dynamik entfaltete, die jetzt auch denen zugute kam, die aufgrund der ständischen Ideologie sozusagen den Bodensatz der Gesellschaft darstellten, also die bäuerlichen Untertanen. Die Einführung eines frühmodernen Rechtssystems geschah gewiss nicht in der Absicht, diesen Untertanen einen besseren Rechtsstatus zu verleihen, de facto aber kam es in der Entwicklung der rechtlichen Institutionen und prozessualen Möglichkeiten genau dazu. Das heisst natürlich nicht, dass es nicht weiterhin einen Gegensatz zwischen einer herrschaftlich geprägten Ordnungsauffassung alter Provenienz und einem neuen auf den Möglichkeiten des Rechtes aufbauenden Verfahrenssystem bestanden hätte. Dieser Gegensatz bleibt im Wesentlichen in der gesamten Frühen Neuzeit bestehen, ja er reicht sogar noch weit bis ins 19. Jahrhundert hinein.
 
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Darauf, dass Verrechtlichung kein spezifisches Phänomen des Alten Reiches war, sondern sich für verschiedene Länder Europas nachweisen lässt, deuten Begriffe wie "judicialisation" oder "acculturation juridique" bzw. "legal acculturation" hin, die in der internationalen Historischen Justizforschung verwendet werden. Es besteht aber noch Bedarf an einer genaueren begrifflichen Auseinandersetzung mit solchen Termini. So lässt sich darunter zum einen die strukturelle Ausbildung von Möglichkeiten des rechtlichen Konfliktaustrags, etwa über Gesetzgebung oder auch den Ausbau von Justizapparaten verstehen. Zum anderen kann man einen Prozess damit beschreiben, der auf eine langfristig zunehmende Justiznutzung innerhalb der frühneuzeitlichen Gesellschaft hinausläuft. So hat etwa Filippo Ranieri einen solchen Trend für das "lange 16. Jahrhundert" ausgemacht. Wie würden Sie den Begriff der Verrechtlichung akzentuieren?
 
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Natürlich bezeichnet der Begriff der Verrechtlichung nur einen sehr allgemeinen Prozess im Zeitraum zwischen der Rezeption des Römischen Rechts und den großen Rechtskodifikationen am Ende des 18. Jahrhunderts. Hier muss dieses Konzept meines Erachtens jeweils spezifisch auf die besonderen Problemlagen der untersuchten Epoche zugeschnitten, d.h. operationalisiert werden. Nur so kann die Anwendung dieses sehr weiträumigen Begriffes konkrete Ergebnisse erzielen. In meinen eigenen Forschungen hatte ich den Begriff ja zunächst nur für die Politik der rechtlichen Verfahren angewandt, die in der Epoche nach dem Bauernkrieg neu zu beobachten waren. Man muss noch einmal darauf hinweisen, dass dieses in einem Beitrag über die rechtlichen Folgen des Bauernkrieges von 1525 zum ersten Mal formuliert worden ist. Der Begriff selbst ist übrigens zunächst nicht von mir direkt verwandt worden. Er wurde, wenn ich mich recht erinnere, in der Diskussion meines Habilitationsvortrages am Friedrich-Meinecke-Institut in Berlin auf, wo ihn Ernst Nolte in die Diskussion einführte. Ich fand ihn sofort verwendbar für meine argumentativen Zwecke.
 
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Welche Rolle kam dem Recht, insbesondere der Reichsgerichtsbarkeit, im Hinblick auf Religionskonflikte zu? Inwieweit trug Verrechtlichung zur Akzeptanz verschiedener Konfessionen im Reich bei? Wie aufschlussreich sind im Kontext dieser Fragestellungen etwa die Akten von Reichskammergerichtsprozessen?
 
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Welche Rolle kam dem Recht, insbesondere der Reichsgerichtsbarkeit, im Hinblick auf Religionskonflikte zu? Inwieweit trug Verrechtlichung zur Akzeptanz verschiedener Konfessionen im Reich bei? Wie aufschlussreich sind im Kontext dieser Fragestellungen etwa die Akten von Reichskammergerichtsprozessen?Heute kann wohl kaum mehr ein Zweifel daran bestehen, dass die besondere Lösung der Religionskonflikte im Reich über ihre Verrechtlichung geschehen ist. Die Arbeiten von Martin Heckel haben hier vor allen Dingen zu einem neuen Verständnis beigetragen, dem ich in der Tendenz nur zustimmen kann. Seine Deutung trifft sich weitgehend mit meiner eigenen Sicht und wer immer sich mit der Auseinandersetzung der verschiedenen Konfessionen im Reich vor allen Dingen nach 1555 beschäftigt hat, wird dieser Interpretation zustimmen müssen. Gerade darin liegt ja auch wiederum die besondere Dynamik dieses Prozesses, denn es gelang durch die Formulierung von dissimulierenden Begriffen, bestimmte weiterhin bestehende Differenzen zu überdecken und damit eine verfahrensrechtliche Lösung zu erreichen, die partiell jedenfalls zukunftsfähig war. Gleichwohl bleibt bestehen, dass im Rahmen der Reichskammergerichtsprozesse an diesem Grundsatz der Verrechtlichung der Konflikte festgehalten worden ist und damit eine Rechtskultur entstand, in der der konfessionelle Konflikt nicht mehr seine tödliche Wirkung entfalten konnte, sondern – im Prinzip jedenfalls – rechtlich beigelegt werden konnte. Die Tatsache des Dreißigjährigen Krieges spricht meines Erachtens nicht gegen diese These, denn die 1648 in Münster und Osnabrück gefundenen Lösungsmöglichkeiten entsprechen ja in ihrem Kerngehalt den Überlegungen, die bereits vor dem Krieg entwickelt worden waren, also all dem, was man die Paritätisierung der Reichsverfassung nennt.
 
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Ihr Interesse für mentalitätsgeschichtliche Fragestellungen, insbesondere für autobiographische Texte, hat Sie schließlich zur Quellengattung der Zeugenverhöre geführt. Wie wichtig ist die Frage nach gesellschaftlichen Wissensbeständen, insbesondere bäuerlichen Wissensbeständen? Können neue Erkenntnisse auf diesem Gebiet noch einmal für die Forschungen zum Bauernwiderstand nutzbar gemacht werden?
 
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In der Tat ist es so, dass meine Beschäftigung mit den bäuerlichen Prozessen und die Suche nach den Motivationen der Bauern in den unterschiedlichen Konflikten mich zur Quellengattung der Zeugenverhöre geführt haben. Immer wieder spielten in der prozessualen Aufarbeitung der Konflikte Fragen von beteiligten Untertanen eine wesentliche Rolle und ich war immer wieder überrascht über die Fülle der möglichen Erkenntnisse aus solchen Prozessen. Ich bin dadurch im Grunde erst auf die Kategorie der Zeugenverhöre in den Reichskammergerichtsprozessen gestoßen, von denen wir inzwischen sehr viele Belege gefunden haben, zum Teil mit sehr hohen Zahlen von Zeugen. Insofern liegt hier meines Erachtens ein noch immer weitgehend unausgeschöpftes Quellenmaterial, das für eine Bewusstseinsgeschichte der Frühen Neuzeit benutzt werden könnte. Ich bin überzeugt, dass die dort zu gewinnenden Ergebnisse nicht nur für die Bauernwiderstandsforschung genutzt werden können, sondern für eine ganze Reihe von Gebieten der frühneuzeitlichen Wahrnehmungsgeschichte, wo es bekanntlich noch viele Fragen gibt, auf die wir noch keine Antwort gefunden haben. Das Problem solcher Quellenbestände besteht freilich darin, dass sie für solche Fragen keine unmittelbar verwertbaren Aussagen geben. Sie müssen erst in großen Mengen ausgewertet werden und können erst dann vorsichtig genutzt werden, um die erwünschten Antworten auf große Fragen zu geben.
 
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Gegenüber der Interpretation von Verhörprotokollen als Ego-Dokumente sind verschiedentlich Einwände formuliert worden. Inwieweit können Zeugenbefragungen, bei denen sich die Verhörten nicht selten unter Druck gesetzt sahen, über Dinge auszusagen, über die sie eigentlich lieber schweigen wollten, als mentalitätsgeschichtliche Quellen verwendet werden?
 
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Meine Präferenz des Begriffes Ego-Dokumente, den ich ja aus den Arbeiten von Dekker übernommen habe, liegt eben darin, dass meines Erachtens "Ego-Dokument" einen Begriff mit "größerer" Reichweite darstellt als dies bei dem üblicherweise genutzten Begriff der "Selbstzeugnisse" der Fall ist. Man muss einfach bedenken, dass in der frühneuzeitlichen Gesellschaft Selbstzeugnisse relativ seltene Dokumente sind, die nur in Ausnahmefällen zu finden sind. Von daher galt meine Überlegung vor allem den Quellen, die gewissermaßen als unfreiwillige Selbstzeugnisse zu bezeichnen sind – also Befragungen von Untertanen in juristischen und administrativen Kontexten. Allein dies war für mich der Grund, diesen Begriff nutzbar zu machen, einfach deshalb, weil wir erst auf diese Art und Weise jene Schicht von Menschen zum Reden bringen können, die selbst keine Spuren hinterlassen haben. Die Tatsache, dass dies in administrativen oder rechtlichen Kontexten geschah - diese Untertanen also nicht selber von sich heraus ihre Überzeugungen und Wissensbestände formuliert haben, schreckt mich dabei überhaupt nicht ab. Die Geschichtswissenschaft verfügt inzwischen über hinreichend raffinierte Interpretationsverfahren, mit denen diese Faktoren herausgerechnet werden können.
 
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Nachdem die archivische Erschließung der Reichskammergerichtsakten schon sehr weit fortgeschritten ist - wo würden Sie die Forschungsperspektiven der künftigen Reichsgerichtsforschungen sehen?
 
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In der Tat ist die archivalische Erschließung der Reichskammergerichtsakten inzwischen weit fortgeschritten, ihr Ende ist sogar absehbar. Was jetzt noch konkret anstünde, wäre eine vernünftige Erfassung dieses gesamten Quellenbestandes in einer leicht zugänglichen Datenbank, in der nach den verschiedensten Kategorien die Prozesse durchforstet werden könnten. Dieses wird, wenn ich es richtig sehe, zur Zeit in einem Bochumer Forschungsprojekt vorbereitet. Das wird sicher eine große Hilfe bei der zukünftigen Benutzung von Reichskammergerichtsakten sein. Daneben steht die erst jetzt begonnene Erforschung der Reichshofratsakten an, die meines Erachtens den Reichskammergerichtsbeständen an die Seite gestellt werden muss. Hier sind wir freilich erst am Anfang. Natürlich muss man bedenken, dass der Charakter der Reichshofratsakten ein ganz anderer ist als der der Reichskammergerichtsakten. Gleichwohl aber ergeben sich in manchen Hinsichten durchaus parallele Nutzungsmöglichkeiten, über die wir auch noch genauer sprechen müssen. Insgesamt sollte man darauf achten, dass man bei der zukünftigen Erforschung der Reichsgerichtsbarkeit nicht nur auf zusammenfassende oder datenbankmäßige Erfassung der Forschungsmöglichkeiten sieht, sondern kreative neue Möglichkeiten entwickelt, sich diesen Bestand unter interessanten, zukunftsweisenden Fragestellungen zunutze zu machen. Hier sollte man vor allen Dingen Fragen der rechtlichen Verfahrensgeschichte, der Wahrnehmungs- und Wissensgeschichte bedenken, aber auch die Analyse der sich verändernden theoretischen Annahmen der Richter müsste noch weiter vorangetrieben werden. Es liegt meines Erachtens ein interessanter Weg zwischen den Speyerer Assessoren des späten 16. Jahrhunderts, die die "saevitia" der Herren beklagen und jenen Wetzlarer "Intellektuellen", die sich am Ende des 18. Jahrhunderts zu aufklärerischen Ideen hingezogen fühlten. Diesen Weg müssten wir meines Erachtens noch genauer im Einzelnen beschreiben. Man kann hier nur weiter kommen, indem man versucht, sowohl die Biographien der Reichskammerrichter genauer zu verfolgen, wie das ja auch zum Teil schon getan worden ist – ich erinnere an die wichtige Arbeit von Sigrid Jahns – , zum anderen aber auch zu versuchen, genauer in die Analyse ihrer Entscheidungsfindung einzusteigen. Dies könnte ein interessantes Forschungsthema für die nächste Zeit werden.
 
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Das Interview fand im Dezember 2003 statt. Die Fragen für 'zeitenblicke' stellte Ralf-Peter Fuchs.
 
 

Gesprächspartner

Prof. Dr. Winfried Schulze
Historisches Seminar
Geschwister-Scholl-Platz 1
80539 München
Winfried.Schulze@lrz.uni-muenchen.de
 
Dr. Ralf-Peter Fuchs
Ludwig-Maximilians-Universität
Historisches Institut
Abteilung Frühe Neuzeit
Geschwister-Scholl-Platz 1
80539 München
Ralfpeter.Fuchs@lrz.uni-muenchen.de
 

Anmerkung der Redaktion:

Empfohlene Zitierweise:

Ein kulturhistorisches Experimentierfeld par excellence: Gerichtsakten als Quelle. Möglichkeiten und Grenzen : Interview mit Prof. Dr. Winfried Schulze, in: zeitenblicke 3 (2004), Nr. 3 [13.12.2004], URL: <Bitte fügen Sie hier aus der Adresszeile des Browsers die aktuelle URL ein.>

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ZEITENBLICKE ISSN: 1619-0459