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  3 (2004), Nr. 3: Inhalt
Edith Koller
Die Rolle des Normaljahrs in Konfessionsprozessen des späten 17. Jahrhunderts vor dem Reichskammergericht
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Im Jahr 1676 erteilte das Reichskammergericht ein Pönalmandat [1] zugunsten der fränkischen Ritterschaft Orts zu Baunach gegen die ritterschaftliche Familie von Rotenhan sowie den Bischof von Würzburg. [2] Hintergrund für die Klage war der Versuch der Beklagten, in der seit langem rein evangelisch versorgten Gemeinde Untermerzbach zusätzlich das katholische Religionsexerzitium (ein Simultaneum) zu installieren. Die Kläger beriefen sich auf die Normaljahrsregelung des Westfälischen Friedens [3] und argumentierten, allein der Konfessionsstand des Jahres 1624 sei für Gegenwart und Zukunft maßgeblich. Sie sahen in der zusätzlichen Einführung des katholischen Gottesdiensts eine Verletzung des Westfälischen Friedens, der als Reichsgrundgesetz galt. Die Beklagten hingegen sahen sich zu Unrecht beschuldigt: gemäß des im Westfälischen Frieden bestätigten 'ius reformandi' stehe ihnen die Einführung des eigenen Konfessionsexerzitiums zu, wenn die 1624 in Übung gewesene Konfession dadurch nicht abgeschafft werde.
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In den Prozessakten findet sich kein Produkt, das sich dezidiert mit der juristischen Auslegung des Westfälischen Friedenstextes durch das Reichskammergericht befasst. Auffällig ist jedoch, dass in vier untersuchten Normaljahrsprozessen zugunsten der protestantischen (ritterschaftlichen) Kläger entschieden wurde. Ausschlaggebend für die Erkennung der verschärften Mandate war aber wohl auch die Tatsache, dass die Einführung des katholischen Exerzitiums nur mit Gewalt zu erreichen gewesen war und somit eine Störung des öffentlichen Friedens bedeutete. [4]
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Bei den Repertorisierungsarbeiten im Hauptstaatsarchiv München wurden bislang etwa zehn solcher 'Normaljahrsprozesse' verzeichnet, die im späten 17. und der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts am Reichskammergericht anhängig waren. [5] Klagegrund, Konstellation der Prozessparteien, Argumentationsstruktur sowie Gerichtsentscheidung sind in ihnen auffallend ähnlich. Die Streitfälle erwuchsen in gemischtkonfessionellen Gebieten aus unklaren Herrschaftsverhältnissen, die beteiligten Obrigkeiten rangen um Ausweitung bzw. Bewahrung ihrer herrschaftlichen Rechte. Katholischerseits berief man sich auf das 'ius reformandi', das als das Hauptgesetz bezüglich der Konfessionsverteilung betrachtet wurde, evangelischerseits sah man jeweils das 'ius reformandi' klar durch die Normaljahrsbestimmung eingeschränkt und vertrat ein Stillstandsmodell, das jede Veränderung zum Konfessionsstand von 1624 ablehnte. Diese klare Verteilung und das stereotype Muster der Argumentation bestätigt die unter anderem von Gabriele Haug-Moritz festgestellte konfessionsspezifische Interpretation der Bestimmungen des Westfälischen Friedens. [6] Die Akten des Reichskammergerichts zeigen jedoch, dass die Genese dieser konfessionsspezifischen Argumentation und die Entwicklung des protestantischen Normaljahrverständnisses nicht erst zu Beginn des 18. Jahrhunderts, [7] sondern bereits für die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts anzusetzen ist.
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Die durch den Westfälischen Frieden geschaffene Rechtslage bedingte somit das teilweise Fortbestehen der nach dem Augsburger Religionsfrieden entstandenen konfessionellen Spaltung der Rechtsauslegung. Die Setzung des Normaljahrs löste keineswegs sämtliche Konfessionskonflikte im Reich. Andererseits zeigen die Prozesse, dass hiermit eine neue Form der Verrechtlichung von Religionskonflikten ermöglicht worden war.

Abb. 1

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Bedeutsam ist zudem, dass das Reichskammergericht auch nach 1648, trotz der fortgesetzten Spaltung in religionsrechtlicher Hinsicht, in konfessionell bedingten Konflikten hinzugezogen wurde. Auch für die Zeit nach dem Westfälischen Frieden kam dem Reichskammergericht eine nicht zu unterschätzende Rolle im Austrag von Konfessionskonflikten zu. Vor allem für die Reichsritterschaft stellte das Reichskammergericht nach dem Westfälischen Frieden offensichtlich weiterhin eine Institution dar, mit deren Hilfe man sich in Konflikten mit potenteren Obrigkeiten erfolgreich zur Wehr setzten konnte. [8]
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Die vor dem Reichskammergericht ausgetragenen Konflikte um die Gültigkeit von Simultaneen sind nicht isoliert zu betrachten. Sie sind vielmehr Teil einer, vor allem im 18. Jahrhundert, reichsweit geführten Debatte. Die Tatsache, dass das Corpus Evangelicorum im Zusammenhang mit dieser Diskussion auf einige der Normaljahrsprozesse und Reichskammergerichtsmandate verwies, [9] zeigt deutlich die überregionale Auswirkung der Prozesse und die Bedeutung dieser reichskammergerichtlichen Quellen für die Konfessiongeschichte des Alten Reiches.
Anmerkungen
[1] 'Mandatum de non contraveniendo Instrumento Pacis, nec amplius turbando, sed restituendo cuncta in pristinum statum & desuper idoneè cavendo sine Clausula': siehe Bayerisches Hauptstaatsarchiv RKG 10828 Quad.3.
[2] BayHStA RKG 10828.
[3] IPO V §1, §2, §31f.
[4] In den Prozessen wurde diesbezüglich ausdrücklich auf die Bestimmungen in Art. V §1 IPO ("In allen übrigen Dingen aber soll zwischen allen und jeden Kurfürsten, Fürsten und Ständen beider Religionen genaue und gegenseitige Gleichheit herrschen, soweit sie der Verfassung des Staatswesens, den Reichssatzungen und gegenwärtigem Vertrag gemäß ist, so dass, was für den einen Teil recht ist, auch für den anderen recht sein soll, wobei alle Gewalt und Tätlichkeit, wie im übrigen, so auch hier zwischen beiden Teilen auf alle Zeit verboten ist.") zitiert nach: Konrad Müller (Bearb.): Instrumenta Pacis Westphalicae. Die Westphälischen Friedensverträge. Vollständiger lateinischer Text mit Übersetzung der wichtigeren Teile und Regesten (= Quellen zur Neueren Geschichte 12/13), Bern 1949, 3. durchges. Aufl., Bern / Frankfurt a. M. 1975, 113; und in §193 Jüngster Reichsabschied ("Wir setzten und ordnen auch, dass kein Stand gegen dem andern oder dessen Land und Leut oder auch gegen seine eigene Untertanen und Bürger in Religionssachen wider den Friedensschluß mit Gewalt und eigenmächtiger Beginnung das Geringste nicht attentieren oder vornehmen, sondern ein jeder dasjenige, was er vermeint, das ihm gebühre, mit behörigem Weg Rechtens suchen und denen, so darwider beschwert würden, auf Begehren mandata inhibitoria gehöriger Orten erteilet und vollnzogen werden sollen.") zitiert nach: Adolf Laufs (Bearb.): Der Jüngste Reichsabschied von 1654. Abschied der Römisch Kaiserlichen Majestät und gemeiner Stände, welcher auf dem Reichstag zu Regensburg im Jahr Christi 1654 aufgerichtet ist (= Quellen zur Neueren Geschichte 32), Bern / Frankfurt a. M. 1975, 94, verwiesen.
[5] Verzeichnungsstand: November 2003. Ich danke Dr. Stefan Breit, Hauptsaatsarchiv München, für diese Information.
[6] Gabriele Haug-Moritz: Kaisertum und Parität. Reichspolitik und Konfessionen nach dem Westfälischen Frieden, in Zeitschrift für historische Forschung 19 (1992), 445-482.
[7] Haug-Moritz: Kaisertum und Parität (wie Anm. 6), 454f. und 473.
[8] Hier lässt sich an Ruthmann anknüpfen, der für das Ende des 16. und das beginnende 17. Jahrhundert die Chance der Reichsritter betonte, landesherrliche Bestrebungen benachbarter Obrigkeiten mit Hilfe des Reichskammergerichts abzuwehren. Vgl. Bernhard Ruthmann: Die Religionsprozesse am Reichskammergericht (1555-1648). Eine Analyse anhand ausgewählter Prozesse (= Quellen und Forschungen zur Höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich 28), Köln / weimar / Wien 1996, 373.
[9] Vgl. Eberhard Christian Wilhelm von Schauroth: Vollständige Sammlung Aller Conclusorum, Schreiben und anderer übrigen Verhandlungen des Hochpreißlichen Corporis Evangelicorum vom Jahr 1663, biß 1752 [...], Bd. 3, Regensburg 1752, 618-620 und 627-630.

Autorin:
Edith Koller M.A.
Ludwig-Maximilians-Universität
Historisches Seminar
Abteilung Frühe Neuzeit
Geschwister-Scholl-Platz 1
80539 München
edithkoller@gmx.de

Empfohlene Zitierweise:

Edith Koller: Die Rolle des Normaljahrs in Konfessionsprozessen des späten 17. Jahrhunderts vor dem Reichskammergericht, in: zeitenblicke 3 (2004), Nr. 3, [13.12.2004], URL: <Bitte fügen Sie hier aus der Adresszeile des Browsers die aktuelle URL ein.>

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