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  3 (2004), Nr. 3: Inhalt
Rita Sailer (†)
Untertanenprozesse
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Untertanenprozesse, d. h. Prozesse mittelbarer Reichsuntertanen gegen ihre reichsunmittelbare Landesobrigkeit, haben in den letzten beiden Jahrzehnten zunehmend Beachtung in der Forschung gefunden und die Bedeutung der beiden höchsten Reichsgerichte als Schutzinstanz gegen obrigkeitliche Despotie ins Licht treten lassen. Sozialgeschichtlich betrachtet zeigen die zahlreichen Untertanenprozesse seit dem Bauernkrieg die "Verrechtlichung sozialer und politischer Konflikte" (Winfried Schulze), rechtshistorisch gesehen gehören sie zur Vorgeschichte des verwaltungs- und verfassungsgerichtlichen Rechtsschutzes. Untertanenprozesse wurden schon im 16. Jahrhundert als eigenständige Prozesskategorie begriffen. Für sie galten besondere prozessuale Bestimmungen, insbesondere das Erfordernis des Schreibens um Bericht, wodurch der vorab zur Stellungnahme aufgeforderte Landesherr Zeit gewinnen konnte, die in nicht wenigen Fällen für Repressionen gegen die klagenden Untertanen genutzt wurde.
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Innerhalb der Kategorie der Untertanenprozesse lassen sich verschiedene Prozesstypen unterscheiden: Neben kommunalen Prozessen, in denen ganze Gemeinden sich gegen Eingriffe der Herrschaft zur Wehr setzten, stehen individuelle Prozesse von Einzelpersonen, die sich gegen ein rechtswidriges Verfahren oder Eingriffe in wohlerworbene Rechte von Seiten der Obrigkeit richteten. Bäuerliche Gemeinden prozessierten meist um die Grundlagen ihrer Existenz: Sie kämpften um die Nutzung der natürlichen Ressourcen, Wald und Weide, und wehrten sich gegen Frondienste, die den Einsatz ihrer Arbeitskraft zur Sicherung der eigenen Existenz behinderten. Stadtbürger stritten dagegen meist um politische Partizipationsrechte, wobei auffällt, dass in reichsstädtischen Verfassungskonflikten, die im Laufe des Verfahrens oft den Charakter einer Kommunalaufsichtsbeschwerde annahmen, der Reichshofrat gegenüber dem Reichskammergericht deutlich bevorzugt wurde. Befriedung wurde hier häufig nicht durch ein Gerichtsurteil, sondern erst durch einen Vergleich zwischen Rat und Bürgerschaft erreicht, der freilich ohne Vermittlung durch die Reichsgerichte und die von ihnen eingesetzten Kommissionen nicht geschlossen worden wäre. In Untertanenprozessen einzelner Personen ging es im 16. und 17. Jahrhundert häufig um unberechtigte Gefangennahmen, im 18. Jahrhundert traten Zunftprozesse und Prozesse um wohlerworbene Rechte in den Vordergrund, wobei es bei der Entscheidung immer um die Frage ging, ob die Obrigkeit die Grenzen ihrer Policeygewalt überschritten habe.
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Die Erfolgsaussichten lassen sich nicht für alle Prozesstypen einheitlich beurteilen. Soweit die Bauern ihre Nutzungsansprüche auf das Eigentum stützten, erscheinen sie fast immer als Verlierer des Prozesses. Dies bedeutet jedoch nicht, dass ihre hergebrachten Nutzungsansprüche keine Anerkennung fanden: Sie wurden in die gemeinrechtliche Begrifflichkeit übersetzt und fanden als Servituten rechtliche Anerkennung. Die Sensibilität der Reichsgerichte gegenüber der Ausdehnung obrigkeitlicher Befugnisse zeigt sich in Policeysachen, die vorwiegend Bürger betrafen, weitaus deutlicher als in Prozessen von Bauern um die Begrenzung der Frondienste: Während in Zunftprozessen und Privilegienstreitigkeiten über die Figur der salus publica freiheitsrechtliches Gedankengut in die Judikatur Eingang fand, blieb man bei der Fronpflicht bei der herkömmlichen Auffassung, wonach leibeigene Bauern im Zweifel zu ungemessenen Diensten verpflichtet seien, obwohl in der rechtswissenschaftlichen Literatur des späten 18. Jahrhunderts bereits liberalere Auffassungen vertreten wurden.
Literatur
Rita Sailer: Untertanenprozesse vor dem Reichskammergericht. Rechtsschutz gegen die Obrigkeit in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, Köln / Weimar / Wien 1999.
Rita Sailer: Verwissenschaftlichung des Rechts in der Rechtspraxis? Der rechtliche Austrag reichsstädtischer Verfassungskonflikte im 17. und 18. Jahrhundert, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung 119 (2002), 106-156.
Julia Maurer: Der "Lahrer Prozeß" 1773-1806. Ein Untertanenprozess vor dem Reichskammergericht, Köln / Weimar / Wien 1996.
Thomas Lau: Bürgerunruhen und Bürgerprozesse in den Reichsstädten Mühlhausen und Schwäbisch Hall in der Frühen Neuzeit, Bern / Berlin u.a. 1999.

Autorin:
Dr. Rita Sailer (†)
ehemals:
Institut für Rechtsgeschichte
Europaplatz
79085 Freiburg

Empfohlene Zitierweise:

Rita Sailer: Untertanenprozesse, in: zeitenblicke 3 (2004), Nr. 3, [13.12.2004], URL: <Bitte fügen Sie hier aus der Adresszeile des Browsers die aktuelle URL ein.>

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