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  3 (2004), Nr. 3: Inhalt
Christian Wieland
Reichskammergericht und Adel
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Die gerichtliche Austragung gehört nicht unbedingt zum traditionellen Instrumentarium eines auf körperliche Gewaltfähigkeit ausgerichteten 'Wehrstandes'. Insofern kann die rege Inanspruchnahme des Reichskammergerichts durch Adlige auf den ersten Blick überraschen. Von den ersten Jahren des neuen Reichstribunals ist bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts ein kontinuierlicher Anstieg von Prozessen mit Adelsbeteiligung zu beobachten, der sich ab den 1550er-Jahren auf deutlich höherem Niveau bis in die Zeit des Dreißigjährigen Krieges stabilisierte. Ab dann wurde der Reichshofrat die zunehmend wichtigere Instanz, dies vor allem für den süddeutschen und katholisch geprägten Raum, wenn auch die konfessionelle Zuordnung der Reichsgerichte und ihrer Prozessparteien keineswegs eindeutig war.

Abb. 1

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Während sich der Adel in quantitativer und geographischer Hinsicht in allgemeine Trends zum Prozessaufkommen am Reichskammergericht einpasst, fällt eine im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung sehr hohe Quote an 'Adelsprozessen' ins Auge (1-1,5% der Bevölkerung und ca. 10-20% aller Prozesse!), was sowohl die aristokratische Verfasstheit des Reichs in der Frühneuzeit als auch die aktive Justiznutzung durch den Adel widerspiegelt. Dabei müssen die internen Differenzen innerhalb der Aristokratie berücksichtigt werden: Der reichsunmittelbare Adel - vom Territorialfürsten über den Reichsgrafen bis zum Reichsritter - hatte das Recht, seine Angelegenheiten in erster Instanz vor den Reichsgerichten verhandeln zu lassen, während für den landsässigen Adel im Prinzip die gleichen Bedingungen galten wie für den Rest der Bevölkerung; zudem verhinderten die "privilegia de non appellando" der deutschen Fürsten die Anrufung von Reichskammergericht und Reichshofrat zwar nicht völlig, aber doch im Laufe der Frühen Neuzeit in zunehmendem Maße. Insofern konnte der Appell an Reichsgerichte durchaus den Charakter der Manifestation adliger Unabhängigkeit und adligen Standesbewusstseins besitzen; die große ständische Homogenität der beteiligten Prozessparteien legt diesen Schluss ebenfalls nahe.
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Zu den verhandelten Gegenständen zählten Fragen nach Ehre und Ehrverlust, innerfamiliären und nachbarschaftlichen Prärogativen, auch Konflikte um den adligen Rang und die ständische Qualität in der Auseinandersetzung mit territorialstaatlichen Ansprüchen. Gerade in solchen Fällen muss - neben und anstelle der gelehrten Justiz - die Praxis der innerständischen Konfliktlösung in Form von 'Austrägen' berücksichtigt werden. Die große Mehrheit aller Prozesse war jedoch durch Besitzstreitigkeiten generiert - das Reichskammergericht wurde zur Definition von territorialen und Besitzgrenzen angerufen, zur Durchsetzung und Abgrenzung von adliger Herrschaft im lokalen Bereich. Streitigkeiten diesen Typs implizierten häufig die Anwendung physischer Gewalt, die sich bis zum Landfriedensbruch steigern konnte. Daran wird ersichtlich, in welch hohem Maße die gewalttätige und die juristische Auseinandersetzung für den Adel nicht als einander ausschließende Alternativen, sondern als wechselseitige Ergänzungen fungierten.
Literatur
Ronald G. Asch: Nobilities in Transition 1550-1700. Courtiers and Rebels in Britain and Europe (Reconstructions in Early Modern History), London 2003.
Anette Baumann: Die Gesellschaft der frühen Neuzeit im Spiegel der Reichskammergerichtsprozesse. Eine sozialgeschichtliche Untersuchung zum 17. und 18. Jahrhundert (= Quellen und Forschungen zur Höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich 36), Köln / Weimar / Wien 2001.
Rudolf Endres: Adel in der frühen Neuzeit (= Enzyklopädie deutscher Geschichte 18), München 1993.
Filippo Ranieri: Recht und Gesellschaft im Zeitalter der Rezeption. Eine rechts- und sozialgeschichtliche Analyse der Tätigkeit des Reichskammergerichts im 16. Jahrhundert, 2 Bde. (= Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich 17/I u. II), Köln / Wien 1985.

Autor:
Dr. Christian Wieland
Wiss. Assistent
Albert-Ludwigs-Universität Freiburg
Historisches Seminar
KG IV - Werthmannplatz
79085 Freibur
christian.wieland@geschichte.uni-freiburg.de

Empfohlene Zitierweise:

Christian Wieland: Reichskammergericht und Adel, in: zeitenblicke 3 (2004), Nr. 3, [13.12.2004], URL: <Bitte fügen Sie hier aus der Adresszeile des Browsers die aktuelle URL ein.>

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