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4 (2005), Nr. 1: Inhalt
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Hans Ulrich Gumbrecht (geb. 1948 in Würzburg) ist der Albert Guérard Professor in Literature an der Stanford University (Kalifornien, USA).
Nach der Dissertation (1971) und der Habilitation (1974) war er Ordentlicher Professor in Bochum und Siegen, bevor er 1989 nach Stanford ging. Gastprofessuren führten ihn u.a. nach Rio de Janeiro, Berkeley, Princeton, Montreal, Barcelona, Riga, Lissabon, Kapstadt, Kyoto und Paris. Gumbrecht hat zahlreiche Kolloquien durchgeführt und ist Mitglied in vielen Fachgremien und wissenschaftlichen Organisationen. Für sein Engagement in Forschung und Lehre wurde er mit zahlreichen akademischen Ehrungen ausgezeichnet, darunter Ehrendoktoraten der Universitäten Montevideo und Montréal.
Sein Hauptarbeitsgebiet ist die französische, die spanische und italienische Literatur vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert. Weitere Interessengebiete umfassen die Geschichte der Geisteswissenschaften und die Geistesgeschichte der westlichen Kulturen. Seine Forschungen sind in über 900 Publikationen dokumentiert, mit Übersetzungen in 19 Sprachen.
Monographien u.a.: Funktionen parlamentarischer Rhetorik in der Französischen Revolution. Vorstudien zur Entwicklung einer historischen Textpragmatik, München 1978; Eine Geschichte der spanischen Literatur, Frankfurt a.M.1990; 1926 – Ein Jahr am Rand der Zeit, Frankfurt a.M., 2.Aufl. 2003; Vom Leben und Sterben der großen Romanisten. Carl Vossler, Ernst Robert Curtius, Leo Spitzer, Erich Auerbach, Werner Krauss, München 2002; Die Macht der Philologie. Über einen verborgenen Impuls im wissenschaftlichen Umgang mit Texten, Frankfurt a.M., 2. Aufl. 2004; Diesseits der Hermeneutik, Frankfurt a.M. 2004; Lob des Sports, Frankfurt a.M. 2005.
Gumbrecht schreibt regelmäßig für die Feuilletons der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der Neuen Zürcher Zeitung und anderer internationaler Tageszeitungen.

"Stanford is a monastic place"

Interview mit Hans Ulrich Gumbrecht
 

<1>
Sie kommen viel in der Welt herum, sehen viele Universitäten und Wissenschaftszentren. Was fällt Ihnen auf, wenn Sie an eine deutsche Universität kommen?

Zunächst einmal ist das die Größe, wie sie gerade hier in Köln ins Auge springt. Amerikanische Universitäten sind eher klein, nicht nur, aber gerade auch die prominenten. Wir in Stanford haben um die 13.000 Studierenden. Das ist schon relativ viel im Vergleich zu Harvard mit 8.000 oder Princeton mit, glaube ich, 6.000.
Eine weitere Besonderheit ist die spezielle Campus-Atmosphäre in Amerika, die es in Deutschland so nicht gibt. Sie rührt sicherlich daher, dass die Universitäten nicht so sehr mit einer Stadt verwoben sind, in dieser Stadt sozusagen aufgehen.

 
<2>
So etwas gibt es doch auch in deutschen Universitätsneugründungen, etwa der 1970er-Jahre, die ebenfalls außerhalb der Stadt "auf freiem Feld" angesiedelt wurden.

Sicher, gleichwohl scheint es mir etwas anderes zu sein, wenn bei uns die jungen Leute zur Uni kommen. Sie bleiben wirklich rund um die Uhr auf dem Campus. Es gibt auch die Möglichkeit für andere Aktivitäten, aber vor allem sehe ich, wie intensiv die Studierenden dort mit ihrer Arbeit beschäftigt sind. Und so läuft das dann vier Jahre lang für einen Studenten.
Dieses Bild steht dahinter, wenn ich sage: Stanford is a monastic place – und ich meine dies als absolut bewundernde Beschreibung!

 
Abb.1 - Hans Ulrich Gumbrecht im Gespräch mit Michael Kaiser
 

<3>
Würden Sie die eben angesprochene Kleinheit eines amerikanischen Campus in Relation zu seiner Qualität setzen, also: "kleine Uni = leistungsstarke Uni"?

Nein, zumindest ist dies kein Automatismus. Ich würde allerdings zwei, drei Aspekte damit verbinden, die ich positiv sehe.
Das ist zum einen das, was wir tutorial oder mentorship nennen. Jeder, der bei uns ein Studium aufnimmt, bekommt einen Professor als Betreuer. Das muss keineswegs jemand aus dem studierten Fach sein, ich selbst betreue auch Studierende aus technischen Fächern. Aber dieses System, das sehr wichtig für die Einbindung der Studenten an die Uni ist, funktioniert natürlich nur bei einer gewissen quantitativen Dozenten-Studierenden-Relation. Für eine Massenuniversität ist dies sicher kaum praktikabel.
Zum zweiten kann eine kleine Uni einen individuellen Stil ausprägen. Dies wiederum schafft auch eine gewisse Geschlossenheit und ein Wir-Gefühl unter den Leuten, was sicher positiv zu bewerten ist.
Drittens – aber das ist mit dem Punkt davor verbunden – gibt es das Gefühl, zu einer Elite zu gehören. Ich habe immer noch den Eindruck, dass man dieses Wort in Deutschland nicht so gerne hört.

 

<4>
An einer Elite-Universität zu studieren, hat aber seinen Preis. Studenten in Stanford zahlen keine geringen Studiengebühren. Der Gegenwert für solche Gebühren müsste sich doch auch in der Qualität der Lehre niederschlagen.

Absolut. Der Stellenwert der Leistung eines Dozenten in der Lehre ist immens und mit der Situation an deutschen Universitäten überhaupt nicht zu vergleichen. Dies schlägt sich gerade bei einem Assistant Professor nieder, der sich um tenure, also eine entfristete Anstellung bemüht. Für ihn ist eine positive Evaluierung seiner Lehrleistungen in jedem Fall wichtiger als die Publikationsliste. Ein junger Wissenschaftler muss ein Buch schreiben, aber dann zählen vor allem exzellente Lehrerfolge!

 

<5>
Wie sind denn überhaupt die Perspektiven für angehende Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen?

In Stanford bekommen nur rund 30 % aller Assistant Professors tenure. Die Quote ist nicht festgelegt, sie hat sich aber auf diesen Wert eingependelt. Der Hintergrund dieser Bemühungen und auch Ablehnungen ist ein immerwährender Kampf um die Qualität, selbst in den Geisteswissenschaften. Wenn es um die Beurteilung dieser jungen Kollegen geht, spielen sich daher in den Gremien durchaus harte Konflikte ab.
Allerdings muss ich dazu sagen, dass jeder, der nicht in Stanford bleiben kann, beste Chancen hat, anderswo einen Job zu bekommen – und das heißt: auch eine feste Anstellung eben an einer anderen, etwas weniger berühmten Universität.

 

<6>
Womit wir wieder beim Thema Elite und Elite-Universität sind.

Ja, Stanford wird seit den späten 1940er- und 1950er-Jahren in einer Gruppe mit Harvard, Yale und Princeton genannt. Hinzu kommt, dass Stanford die Uni ist, die (zusammen mit Harvard) die höchsten Gehälter zahlt. Auf der anderen Seite muss man sehen, dass die Ausstattung an unseren Universitäten gar nicht so üppig ist, wie oftmals in Europa vermutet oder unterstellt wird.

 
<7>
Diese Einschätzung überrascht nun doch. Gerade in dem Bereich gelten amerikanische Unis als überlegen.

An der Stelle muss ich etwas gegen die Jammerei sagen, wie sie in Deutschland gang und gebe ist. Selbst bei uns in Stanford ist es beispielsweise absolut unüblich, dass ein Professor eine Sekretärin hat. Und ich spreche hier nicht nur von einem Assistant Professors, sondern meine auch einen Nobelpreisträger.
Wir haben keine DFG, wo wir Gelder beantragen könnten. Fund raising ist mitunter recht schwierig und aufwendig. Hier zahlt sich dann vor allem Prestige aus, das man am Ort selbst erworben hat und dort wieder einsetzen kann.

 

<8>
Einige Professoren sind aber sicher erfolgreicher als andere, was etwa das Einwerben von Geldern angeht. Schafft dies nicht eine Atmosphäre der Konkurrenz und des Neides?

Überhaupt nicht. Ich habe kaum je erlebt, dass über Kollegen schlecht geredet wurde. Auf dem Campus herrscht die Überzeugung, dass alle gut sein sollen und gut sein wollen. Es ist eine intellektuelle Intensität, die von allen geteilt wird und die Atmosphäre maßgeblich prägt.
Wenn jemand bestimmte Privilegien hat, dann gelten sie als "merit based". Neid findet hier kaum einen Nährboden.

 
Abb.2 - Hans Ulrich Gumbrecht
 

<9>
Gibt es denn eine gewisse Konkurrenzsituation zwischen den verschiedenen Fakultäten?

Zweifellos genießen die Geisteswissenschaften bei uns ein höheres Prestige als dies an deutschen Universitäten der Fall ist. Das schlägt sich selbst in den völlig frei ausgehandelten Gehältern nieder, die für Lehrende in den Geistes- und Naturwissenschaften gezahlt werden. Unterschiede gibt es hier praktisch nicht – abgesehen davon, dass natürlich Mediziner und Juristen zusätzlich ihre Nebeneinkünfte haben. Aber die regulären Gehälter sind gleich.

 

<10>
Und wie schätzen Sie da den allgemeinen Stellenwert der Geisteswissenschaften in den USA ein?

Die Wertschätzung der Geisteswissenschaften ist immens. Das gilt gerade auch für Eltern, die ihre Kinder zu uns schicken, selbst aber keinen besonderen Bezug zu diesen Disziplinen haben. Allgemein gilt, dass man vom College Bildung erwartet.

 

<11>
Der Begriff der Bildung an sich kommt jetzt etwas überraschend. In der deutschen Debatte spielt er auch nicht unbedingt eine große Rolle, hier schaut man vor allem auf berufqualifizierende Fähigkeiten.

Das ist bei uns ganz anders. Ich möchte sogar behaupten, dass es wieder einen wachsenden Wunsch nach einem Bildungskanon gibt. Die Frage nach der Berufsrelevanz der Bildung – gerade auch in den Geisteswissenschaften – stellt sich in Stanford überhaupt nicht.

 

<12>
Aber was wird denn aus diesen Geisteswissenschaftlern, die bei Ihnen ausgebildet werden?

Vor allem führt das College zu einer Schwerpunktbildung, die Berufsausbildung beginnt erst in den professional schools. Wir beobachten, dass das Silicon Valley durchaus gerne College-Studenten mit geisteswissenschaftlichen Schwerpunkten einstellt, die sich in absolut arkanen Nischen spezialisiert haben. Es interessiert hier die Fähigkeit, intensiv mit einer Materie zu arbeiten, ja sich darin zu verbeißen. Die entsprechende Fachausbildung erfolgt dann per training on the job – das traut man diesen Absolventen dann durchaus zu.

 

<13>
Ich möchte noch einmal nachhaken: Für Elemente einer Berufsausbildung innerhalb des Studiums ist also im College kein Platz?

Nein, und das entspricht auch durchaus den Erwartungen der Wirtschaft, die gar nicht will, dass wir uns daran versuchen. Das liegt vor allem daran, dass sich die Anforderungen, die die Wirtschaft an ihre Mitarbeiter hat, sehr rasch weiterentwickeln. Die Unis können gar nicht mithalten und laufen Gefahr, ihren Studenten veraltete Fähigkeiten beizubringen. "We have to unteach them", heißt es dann, wenn die Unis Studenten mit derartigem berufsqualifizierendem Wissen ausstatten wollen. Die Wirtschaft macht dies lieber selbst.

 

<14>
Um noch einmal ganz allgemein nachzufragen: Was halten Sie denn am amerikanischen System für wirklich positiv?

Ich sehe große Vorteile in dem studium generale, das Studierende aller Fachrichtungen im College bei uns absolvieren müssen. Hier zeigt sich dann doch, wer wo welche Interessen und auch Fähigkeiten hat, die er an der professional school weiterentwickeln möchte.
Um ein prominentes Beispiel zu nennen: Chelsea Clinton, die Tochter des ehemaligen US-Präsidenten, war zu uns nach Stanford gekommen, um vorklinische Medizin zu studieren. Über das studium generale stellte sich für sie heraus, dass sie besonderes Interesse an philosophischen und historischen Themen hat und dafür ganz offensichtlich auch entsprechendes Talent mitbringt. Mittlerweile schreibt Chelsea in Oxford eine Dissertation zu einem historischen Thema.

 

<15>
Wir haben jetzt viel über die Situation der Universitäten in den USA geredet. Jetzt sollten wir einmal die Situation in Europa und vor allem in Deutschland in den Blick nehmen.
Wie schätzen Sie die Lage der deutschen Universitäten ein?

Mir fällt auf, in welch negativem Licht die Universitäten erscheinen. Die Kritik am Hochschulwesen ist immens, ja man hat mitunter den Eindruck, die Unis seien so etwas wie die Prügelknaben der Nation geworden.
Das war übrigens ganz anders, als ich Ende der 1980er-Jahre von Europa in den USA ging. Damals gab es durchaus ein Selbstbewusstsein an den Universitäten in Deutschland.

 
Abb.3 - Hans Ulrich Gumbrecht im Gespräch mit Michael Kaiser
 

<16>
Sie beurteilen die deutsche Universitätslandschaft also gar nicht als so schlecht?

Fraglos gibt es einen Reformbedarf, den gibt es immer und überall. Aber ich sehe die Situation bei weitem nicht so dramatisch, wie es vielfach dargestellt wird. Wenn man auf Europa schaut, würde ich die deutschen Universitäten zusammen mit den britischen und schweizerischen zu den drei besten Uni-Systemen zählen. Bitte verlangen Sie jetzt nicht, dass ich ein Ranking unter den drei genannten Ländern vornehme – jedes der drei Hochschulsysteme hat seine spezifischen Stärken, aber jedes erscheint mir doch den Universitäten anderer europäischer Staaten überlegen.

 

<17>
Gleichwohl ist man hierzulande unzufrieden mit den Universitäten. Man vermisst vor allem die internationale Ausrichtung und beklagt stattdessen eine gewisse Provinzialität.

Dies halte ich für ein hausgemachtes Problem. Nehmen Sie beispielsweise nur die Medienforschung. Alle Welt in Deutschland meint, dass die führenden Vertreter dieser Disziplin irgendwo in den USA oder sonstwo sitzen. Aber nein, genau in diesem Sektor kommen die entscheidenden Impulse von der deutschen Forschung – nur will dies niemand wahrhaben! Lassen Sie es mich also sagen: Die Sorge um Provinzialität, das ist provinziell.

 

<18>
Aber die Erweiterung der Perspektive, der Blicke für europäische und globale Zusammenhänge kann doch nicht so falsch sein – übrigens gerade für die Geschichtswissenschaften.

Sicherlich ist dies nicht falsch, und ein bisschen weniger Eurozentrik dürfte dem europäischen Hochschulwesen auch gut bekommen. Aber solche Umorientierungen sollten ohne Hysterie erfolgen. Auch hier mag als Korrektiv das amerikanische Beispiel nützlich sein: An den wirklichen guten Unis dominiert auch jetzt noch die europäische Geschichte, selbst wenn es dort mehr Lehrstühle für asiatische und afrikanische Geschichte als in Europa gibt.

 

<19>
In der deutschen Reformdiskussion wird als Gegenargument oftmals die Verschulung des Studiums ins Feld geführt. Die neuen Studiengänge würden auf Kosten der Freiheit des Studiums gehen, ein Opfer, das die Gegner für zu groß halten.

Diesen Punkt halte ich für überaus problematisch. Mit dem Stichwort der Verschulung tue ich mich schwer. Denn ich persönlich bin ein großer Befürworter der Freiheit des Studiums. Ich sage dies in vollem Bewusstsein der Tatsache, dass gerade das amerikanische College stärker verschult ist als die deutsche Universität. Gleichwohl ist die Freiheit im Studium in meinen Augen ein hohes Gut.

 

<20>
Sie plädieren also dafür, dieses Gut für unangetastet zu lassen?

So einfach ist das nicht, zumal mit Händen zu greifen ist, dass diese Freiheit viele Studierende überfordert. Es wäre durchaus gut, wenn das Lehrangebot eine größere Kohärenz hätte. Das muss noch keine Verschulung sein. Auch mehr Pflichtveranstaltungen im Rahmen des Studiums halte ich für tragbar – Pflichtveranstaltungen müssen ja nicht per se langweilig sein. Hier kommt es auf das Talent des Hochschullehrers an!

 

<21>
Über die Dozenten wäre später noch einmal gesondert zu diskutieren.

Aber lassen Sie uns noch einmal zum Thema der Freiheit des Studiums zurückkehren, weil mir dieser Aspekt wirklich wichtig ist. Gerade die Generation, die jetzt in Deutschland studiert, scheint mir sehr hedonistisch zu sein. Sie legt sehr großen Wert auf Lebensqualität. Und so spielt die Freiheit, die das Studium noch bietet, einer individualistischen Bequemlichkeit im Studium in die Hände. Das halte ich für einen echten Missstand.

 
Abb.4 - Hans Ulrich Gumbrecht
 
<22>
Von ferne scheint das Ideal des Monastischen durch, wie wir oben schon einmal angesprochen haben.

Ja, natürlich, und in den USA ist die Situation eine andere. Wenn Sie den Lebensstandard zum Maßstab nehmen, dann haben die amerikanischen Studierenden ein härteres Leben als es in Europa der Fall ist.
Ich will hier gar nicht so genussfeindlich daherkommen; Spass gehört zum Leben, das meint selbst ein alternder Mann wie ich. Aber es ist auch eine Frage der grundsätzlichen Einstellung. Und hier fällt mir das uneingeschränkt positive Verhältnis der amerikanischen Studierenden zu ihrer Arbeit an der Uni auf. Auf einem amerikanischen Campus spürt man diese volle Konzentration auf das Intellektuelle – mir gefällt dies sehr, und wenn die Studienreform eine Verbesserung in diese Richtung erzielen könnte, wäre dies zu begrüßen.

 
<23>
Nun soll das Studium ja nicht nur kohärenter werden, sondern insgesamt auch kürzer. An der Stelle tauchen die Mahner auf, die einen Substanzverlust befürchten und damit einen Qualitätseinbruch.

Das ist Unsinn. Kürzere Studienzeiten müssen keineswegs dazu führen, dass das Studium weniger intensiv wird. Dies gilt gerade für die Geisteswissenschaften. Die Inhalte unserer Fächer sind doch wie Gas: wir können sie ausdehnen, aber auch komprimieren. Dies fordert wiederum die Hochschullehrer heraus.
Übrigens will ich auch nicht die nationalökonomischen und biographischen Vorteile einer kürzeren Studienzeit unterschlagen. Selbst wenn dies nicht alle gerne hören: eine geringere Semesterzahl verlängert die Jahre der Berufstätigkeit, die jeder Absolvent vor sich hat.

 
<24>
Womit wir am Ende des Studiums angelangt wären. Welche Qualitäten sollen denn die Studienabsolventen besitzen, wenn sie die Universitäten verlassen? Oben haben Sie den Bildungsbegriff sehr stark gemacht; ich vermute, dass er auch hier wiederum eine Rolle spielen wird.

Ganz richtig, am Wert der Bildung ist nicht zu rütteln. Als Ausbildungsziel für einen Absolventen, zumal der geisteswissenschaftlichen Fakultät, sehe ich so etwas wie eine "intellektuelle Gymnastik“. Dabei ist mir klar, dass in Europa und besonders in Deutschland der Druck nach der Praxisrelevanz der universitären Ausbildung immer stärker wird. Ich dagegen wünsche mir schon, auch wenn sich das altertümlich anhört, den "gebildeten Menschen".

 
<25>
Vielleicht finden Sie Ihre Vorstellungen von Bildung zumindest ansatzweise in der Forderung verortet, die mehr methodisches Bewusstsein und methodisches Können von den Studierenden erwartet.

Eigentlich nicht. Der Aspekt der Methodik wird meiner Meinung nach überschätzt, zumal es doch für uns Geisteswissenschaftler kaum wirkliche "Methoden" gibt.
Um es einmal anders zu formulieren: Letztlich ist mir der Prozess des Studiums wichtiger als das Endprodukt des Studiums, das Studium muss als Lebensform begriffen werden, in der das intellektuelle Vermögen trainiert werden soll. Nur wenn Sie intellektuelle Wendigkeit als Methodik begreifen wollen, scheint mir dies akzeptabel.

 
<26>
Wir kommen so langsam zur Frage nach dem Charakter und der Qualität der universitären Lehre.

Was die intellektuelle Kernkompetenz angeht, die ich vom Absolventen erwarte, so kann er sie nur bei einem Dozenten erwerben, der in der Lehre selbst intellektuell bewegt ist – das ist gar keine Frage!

 
<27>
Wie beurteilen Sie denn die Bedeutung der universitären Forschung in Bezug auf die universitäre Lehre?

Die Lehre soll an der Front der Forschung stehen. Es ist ein ganz profunder pädagogischer Grundsatz, dass sich die Lehre vor allem mit nicht gelösten und unklaren Fragen beschäftigen soll. Es dürfen eben nicht nur fertige Erkenntnisse präsentiert werden. Das gilt sowohl für das Seminar, aber auch für die Vorlesung.

 
<28>
Damit propagieren Sie eine wissenschaftliche Ausbildung der Studierenden.

Nicht jeder Student muss Wissenschaftler werden, so strikt meine ich dies nicht. Mir kommt es auf die intellektuell offene Situation in der Lehre an. Dies muss deutlich werden, und gerade dies macht meiner Überzeugung nach den pädagogischen Sinn der Wissenschaftlichkeit aus.

 
<29>
Ich möchte jetzt ein Thema ansprechen, das in der deutschen Debatte sehr emotional behandelt wird: die Studiengebühren. Eine gute universitäre Ausbildung hat sicher ihren Preis, aber rechtfertigt dies Ihrer Meinung nach auch Studiengebühren?

Man kann nicht so ohne weiteres die Traditionen in einem Land ignorieren. In Amerika sind die Familien auf Studiengebühren vorbereitet; schon wenn die Kinder klein sind, legen ihre Eltern Geld für das College beiseite – man weiß eben, welche Belastungen in späteren Jahren auf die Familie zukommen werden. In Deutschland würde eine solche Regelung viele Familien sicher unvorbereitet treffen. Aber es kann kein Zweifel bestehen, dass es in der besten aller Welten keine Studiengebühren gäbe!

 
Abb.5 - Hans Ulrich Gumbrecht
 
<30>
Also ein eindeutiges Votum gegen ein gebührenfinanziertes Studium?

Ich sehe durchaus heilsame Effekte, die Studiengebühren mit sich bringen können. Sie befördern sicherlich die Einstellung der Studierenden, die ihr Studium dann sehr viel ernster nehmen werden. Man muss gar nicht den alten Spruch bemühen, dass nichts wert ist, was nichts kostet. Auch wenn die Gebühren eine gewisse Selbstdisziplinierung der Studierenden auslösten, wäre durchaus etwas gewonnen.

 
<31>
Ist es richtig, wenn ich wiederum den Vorwurf des Hedonismus dahinter entdecke?

Das ist nicht ganz falsch. Ich muss aber noch einmal darauf bestehen, dass mein zentrales Anliegen ist, die Studenten wirklich studieren zu sehen. Stattdessen haben sie Jobs in den Semesterferien und auch während des Semesters. Hier plädiere ich für eine Konzentration auf das Wesentliche, eben die intellektuelle Arbeit an der Universität.
Wenn ich noch einmal auf das amerikanische Beispiel hinweisen darf: Die Ausbildung an der Universität ist eine zentrale Phase im Leben eines Amerikaners. Die college graduation ist der größte Festtag in jeder amerikanischen Familie. Entsprechend engagiert gehen die Studenten am College zur Sache; sie spüren eben auch den familiären Druck und die Erwartung. Und so entsteht eine Ernsthaftigkeit beim Studium, die ich in den USA schätze und in Deutschland vermisse.

 
<32>
Da nun doch viele Studierende aus Geldmangel jobben müssen, stellt sich die Frage nach der Stipendienkultur – übrigens auch im Kontext mit den Studiengebühren. Wie schätzen Sie hier die Situation in Deutschland ein?

Offen gestanden kenne ich an dem Punkt die deutschen Verhältnisse zu wenig. Die amerikanische Situation ist mir sehr viel besser vertraut.
Für das College gibt es statt Stipendien erheblich reduzierte Studiengebühren für Studierende aus einkommensschwachen Familien. Eine wichtige Voraussetzung für sein Funktionieren ist aber auch die extrem hohe Steuermoral. Diese Ehrlichkeit bildet die Basis für das, was Sie Stipendienkultur nennen – und ich fürchte, in Deutschland ist es damit nicht so weit her.

 
<33>
Wir haben bislang ausführlich über die Studierenden gesprochen, aber kaum über die Lehrenden an den Universitäten. Was für Dozenten wünschen Sie sich an den Unis?

Da gibt es kein starres Idealbild. Es soll viele verschiedene Typen von Hochschullehrern geben. Wichtig ist, dass die volle Bandbreite der verschiedenen Dozententypen vertreten ist.

 
<34>
Wie bewerten Sie denn die didaktischen Fähigkeiten eines Hochschullehrers?

Die Qualität der Lehre ist von immenser Bedeutung. Ein charismatischer Lehrer muss es sein!

 
<35>
Wäre damit für den alten Typ des klassischen Gelehrten heute kein Platz mehr?

Nicht unbedingt. Ich möchte nach wie vor, dass es auch noch Gelehrte des klassischen Stils gibt.
Vor allem darf man nicht zu sehr zwischen der Forschung und der Lehre polarisieren. Es gab und gibt in den USA weithin geachtete Gelehrte, die ausgesprochen wenig geschrieben haben. Sie haben aber durch ihre Lehre eine große Wirkung erzielt.

 
<36>
Ich möchte noch einmal nach dem Charisma nachfragen: Wie verstehen Sie diesen Begriff?

Der Hochschullehrer muss in der Lehre Präsenz zeigen. Das bedeutet, dass er seine Rolle als Lehrender wirklich vorleben muss. Hier zeigt sich sein Charisma und dies macht den Mehrwert der Präsenz eines Dozenten aus.
Machen wir uns nichts vor: Dieser Aspekt wird in mittelfristiger Zukunft von steigender Bedeutung sein. Die Kostenexplosion im Bildungssektor wird dazu zwingen, Personalkosten zu senken und nach kostengünstigeren Modellen in der Lehre zu suchen. Das einzige Argument, das man einer rein medialen Vermittlung im Studium wird entgegen halten können, ist der Mehrwert, den die reale Präsenz des Lehrenden mit sich bringt. Deswegen wird dies ein Kriterium von immer größerer Relevanz sein.

 
<37>
Sie verlangen also nicht nur mehr Ernsthaftigkeit von den Studierenden, sondern auch von den Lehrenden.

Ich gehe sogar noch weiter und plädiere für einen Hochschullehrer, der eine Passion – im Wortsinn von Leiden und Leidenschaft – für seinen Stoff entwickelt, die an Obsession grenzt. Er muss von seinen Interessen selbst begeistert sein, sie müssen ihn bis in seine Träume verfolgen. Dann ist er ein leidenschaftlicher Lehrer, der diese Leidenschaft seinen Studenten vermitteln kann.

 
<38>
Ein solcher Hochschullehrer ist sicher auch der richtige, um sein Fach und seine Universität öffentlichkeitswirksam nach außen repräsentieren zu können.

Die Öffentlichkeitsarbeit, die die Universitäten vielerorts anstrengen, wird in meinen Augen überschätzt.

 
<39>
Meinen Sie denn nicht, dass sich die Unis öffnen müssen, dass sie ihre Außenwahrnehmung stärker berücksichtigen und etwas dafür tun müssen?

Ich möchte darauf eine paradoxe Antwort geben: Die beste Möglichkeit, erfolgreich nach außen zu wirken, besteht darin, gute Seminare zu "im Inneren" veranstalten.

 
<40>
Bitte lösen Sie dieses Paradoxon auf!

Meine Befürchtung ist, dass die eigentlichen Publicity-Kampagnen der Universitäten zu sehr auf die Erwartungshaltung einer wie auch immer definierten öffentlichen Erwartung abgestellt sind. Es gibt einfach zu viel Anpassung.
Die Chance der Universität liegt doch darin, dass sie anders ist, als man es ihr unterstellt. Von diesem Alteritätspotential geht ihre Faszination aus, hier liegt ihre größtes Kapital: wird dies verringert, schwindet auch ihre Attraktivität. Deswegen sollte die Universität sich auf ihr Kerngeschäft beschränken – und nicht so sehr auf gute publicity achten, sondern einfach auf gute Lehre und gute Forschung.

 
<41>
Fast am Ende angekommen, habe ich nur noch zwei Fragen.
Was raten Sie jungen Menschen, die studieren wollen?

Ich möchte ihnen empfehlen, dass sie sich voll und ganz auf ihr Studium konzentrieren. Und ich wünsche ihnen, dass sie in ihrem Studium die intellektuelle Intensität und Freude erfahren, um die es letztlich geht.

 
<42>
Und was raten Sie jungen Kolleginnen und Kollegen, die eine Karriere in der Wissenschaft anvisieren?

Ich fürchte, dass zu viel über Karrierestrategien nachgedacht wird. Dies geht letztlich auf Kosten einer produktiven Forschung. Man spekuliert zu viel über das, was möglicherweise im Trend liegt. Wichtiger ist, das zu tun, was einen wirklich fesselt.
Daher kann ich nur den einen Rat geben: Follow your passion!

 
<43>
Herr Gumbrecht, ganz herzlichen Dank für dieses Gespräch!
 

Gesprächspartner

Prof. Dr. Hans Ulrich Gumbrecht
Albert Guérard Professor in Literature
Department of Comparative Literature
Department of French and Italian
Stanford, California 94305
 
Dr. Michael Kaiser
Universität zu Köln
Historisches Seminar – Geschichte der Frühen Neuzeit
Albertus-Magnus-Platz (Philosophicum)
50923 Köln
michael.kaiser@uni-koeln.de
 

Anmerkung der Redaktion:

Empfohlene Zitierweise:

"Stanford is a monastic place" Interview mit Hans Ulrich Gumbrecht, in: zeitenblicke 4 (2005), Nr. 1 [09.03.2005], URL: <Bitte fügen Sie hier aus der Adresszeile des Browsers die aktuelle URL ein.>

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ZEITENBLICKE ISSN: 1619-0459