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Cornel Zwierlein
Beispiel Frankreich: Der Bologna-Prozess im Nachbarland
Ausgehend von einer Skizzierung der französischen Hochschullandschaft wird zunächst die Reformdebatte beleuchtet, die vor allem eine stärkere Hierarchisierung des Hochschulsystems, aber auch ein Ausbau und eine Stärkung der Elite-Universitäten diskutiert. Im Weiteren wird das Modell des MA-Studiengangs für Geschichte in Tours vorgestellt. Abschließend werden mögliche Konsequenzen für den deutschen Reformprozess erörtert; folgende Aspekte fallen dabei ins Auge: Die Verschulung der Universität muss in eine stärkere Differenzierung zwischen BA- und MA-Studiengang hinauslaufen, auch die Rolle des Hochschullehrers sollte neu überdacht werden. In Deutschland gibt es allein aufgrund der föderalen Struktur viel mehr Potential für Experimente; hier wie in Frankreich bleibt jedoch die Lehrer-Ausbildung aus dem Reformprozess (vorerst) ausgeklammert. Die Verschulung ist insgesamt als problematisch zu betrachten, vor allem wenn sie bis in die Promotionsphase hineinreicht. Die Elite-Förderung ist in Frankreich sehr viel nachhaltiger organisiert als in Deutschland und prägt in seiner Ausstrahlung viel stärker auch das übrige Bildungssystem, im Positiven wie im Negativen. Nachahmenswert scheint ein Master-Modell, das neben der Spezialisierung auch die Auslandskooperation direkt in den Studiengang integriert.
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Wenn diese Tagung unserem Austausch darüber dient, wie im eigenen Fach in Deutschland die Reformen des Bologna-Prozesses umgesetzt werden und welche Chancen und Risiken diese Reform bietet, so ist ein vergleichender Blick nach Frankreich sicherlich hilfreich: Zwar ist auf allen hochschulpolitischen Koordinationstreffen auf europäischer Ebene (Sorbonne, Bologna, Prag, Berlin, Graz) stets das angloamerikanische Bildungs- und Hochschulsystem Vorbild und Orientierungsmaßstab gewesen. Aber es ist andererseits gerade für Historiker kein Geheimnis, dass eine 1:1-Übertragung dieser Systeme in die kulturell, wirtschaftlich, staatlich und institutionell jeweils ganz anders geprägten Mitgliedsländer der EU unmöglich und in einigen Punkten sicher nicht wünschenswert ist, wie nicht zuletzt die Beiträge von Michael Geyer und Ulinka Rublack zeigen. Großbritannien und die USA fungieren hier oft als Namen für das Land und Hochschulsystem Utopia, auf das man hinsteuert. Das ist nicht schlimm und ist sicher sogar produktiv, denn fast jede Reformbewegung zehrt wohl von einem utopischen Zielimpuls. Nichtsdestoweniger ist der Blick auf Frankreich an diesem Punkt nützlich, weil er zeigt, wie ein benachbartes Hochschulsystem, das unter zum Teil ähnlichen Problemen leidet wie das deutsche, mit der Reform umgeht, und weil er die gesamteuropäische Dimension des Reformprozesses, die bei den notwendigerweise kleinteiligen Entscheidungsprozessen in deutschen Fachbereichen zuweilen kaum mehr im Blick ist, in Erinnerung ruft. Der Prozess der europäischen Hochschulsystemannäherung teilt die Charakteristika anderer Europäisierungsprozesse in den Bereichen Wirtschaft und Recht, wo es um die Transformierung europäischer Rechtsnormen in nationale Rechte geht: Auch dort kann man das Phänomen beobachten, dass die Beteiligten das, was auf europäischer Ebene begonnen hat, als eine Angelegenheit wahrnehmen, die weitgehend nach nationalen Mustern, ja sogar als nationale Reform, daherkommt. [1] Kritik wird dann an die nationalen oder regionalen Regierungen adressiert, die eigentlich nur Kopplungsstationen im Prozess sind und unabhängig von der parteipolitischen Couleur in dem einen wie dem anderen Land die oft so ähnlichen Forderungen, hier an die Hochschulen, stellen. Am Ende muss man es also jeweils als ganz eigene Reform-Konstruktion betreiben, die zu einer gewissen strukturellen Annäherung bei gleichzeitiger Formenvielfalt in Europa führen wird. Zum Teil entspricht das auch der europapolitischen Intention, die immer den paradoxen Spagat zum Ziel hat, einerseits stärkere Kooperation, andererseits stärkere Konkurrenz zwischen den öffentlichen und privaten Akteuren der Euroregion zu fördern ('Koopetition').
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Die national gerahmte Wahrnehmung europäischer oder gar globaler Prozesse hat insofern immer einen harten Kern, als die nationalen Institutionen die jeweilige Ausgangsbasis darstellen. Daher ist es für den Beispielsfall Frankreich nötig, erstens kurz dieses derzeit bestehende Wissenschaftssystem zu skizzieren (I). Zweitens werde ich kurz darlegen, wie der Bologna-Prozess innerhalb dieses Systems realisiert wird, welche positiven Leitvorstellungen ihn dirigieren und welche skeptischen Wahrnehmungen und Ängste ihn in Frankreich begleiten. Dabei darf man jeweils den auf den ersten Blick nicht direkt betroffenen Strang der Eliteausbildung in Frankreich im Vergleich mit Deutschland nicht vernachlässigen, weil die Koinzidenz des Bologna-Prozesses mit einem neuen Nachdenken über eine stärker hierarchisierte Universitätslandschaft und über Elite-Konzepte wohl doch kein zufälliger ist und de facto auch in Frankreich stattfindet (II). Drittens weise ich als Beispiele auf derzeit gerade neu eingerichtete Master-Studiengänge im Bereich Geschichte hin, insbesondere auf einen Master-Studiengang in Tours (III), um viertens mit einigen kurzen Überlegungen zu schließen, was für den deutschen Reformprozess am Beispiel Frankreich nachahmenswert ist und was eher zu meiden sein wird (IV). Ein Systemvergleich ist immer nur bedingt möglich aufgrund der jeweiligen lang gewachsenen Institutionen und Wissenschaftskulturen; er kann auch, zumal wenn er wie hier auf die Aktualität und die nahe Zukunft bezogen ist, 'politisch inkorrekt' wirken, weil man Wertungen nicht höflich vermeiden kann, sondern gerade vornehmen will. Vor dem Hintergrund eines zunehmend zusammengerückten Europa sollten solche Wertungen aber mehr als Beitrag gerade zu einem transnationalen, europäischen Wissenschaftssystem verstanden werden. [2]
I. Das französische Bildungs- und Wissenschaftssystem
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Das Ausbildungs- und Wissenschaftssystem geht in seinem strukturellen Kern auf die napoleonischen Reformen 1808/09 in der Umsetzung der Revolutionsgrundsätze zurück. Die 1968er-Reform ('loi Fauré') und auch der erneute Reformeinschnitt 1984 ('loi Savary') betrafen die Universitäten, zum Beispiel aber nicht das para-universitäre System der grandes écoles. Das staatliche System ist heute unter der Ägide des ministère de l' Éducation nationale in drei Ministerialzuständigkeiten aufgeteilt - éducation nationale für die Schulbildung, enseignement supérieur für die Hochschullehre und recherche für die Wissenschaft. In der Realität der institutionellen Verknüpfungen sind der sekundäre und der tertiäre Ausbildungsbereich eng verbunden, die Forschung hingegen ist zum Missfallen vieler oft relativ wenig mit den Universitäten verknüpft. Anders als in Deutschland, wo das Humboldt'sche Universitätskonzept zwar die Integration von Forschung und Lehre vorsieht, 'Forschung' aber in der ungeschriebenen Wertematrix, wie bei Berufungen, Drittmittelprogrammen und Evaluationen immer wieder manifest wird, doch an erster Stelle steht, ist das tendenzbestimmende Leitbild für die Universitäten in Frankreich eher das des 'enseignement', weniger das der 'recherche'. Geschichte an der Universität wird primär als Ausbildungszyklus für Lehrer an collèges, lycées und wieder an der Universität selbst verstanden, weniger als Ausbildung von Wissenschaftlern. Das bedeutet nicht, dass die Lehre in Frankreich im Durchschnitt intensiver und personenbezogener funktionierte als in Deutschland, also nicht wie etwa im angloamerikanischen Tutorialsystem. Frontalunterricht ist in den Schulen und in den Universitäten bis kurz vor dem Abschlussjahr durchaus noch die Regel, wenngleich es natürlich viele positive Ausnahmen gibt (das Student / Dozent-Verhältnis in Frankreich liegt bei 18,1:1, in Deutschland bei 12,3:1 nach der OECD-Studie von 2003). Die Verzahnungen von Universität und Schule sind personell gerade in den frühen Karriereabschnitten von Dozenten sehr viel enger als in Deutschland. [3]
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Es gibt im enseignement supérieur heute 85 staatliche Universitäten, die von der Reform des Bologna-Prozesses betroffen sind. Weiter sind seit 1968 und 1992 in die Universitätsstrukturen die staatlichen Instituts Universitaires de Technologie und die Instituts Universitaires Professionnalisés (IUT, IUP) eingelassen, die in zwei- bzw. vierjährigen Studiengängen die Studierenden zur Hälfte von Universitätsdozenten, zur Hälfte von Wirtschaftsvertretern stark berufspraktisch unterrichten lassen. Diese Institutionen sind, auch wenn natürlich große administrativ-rechtliche Unterschiede bestehen, strukturell mit den deutschen Fachhochschulen vergleichbar, allerdings sind die IUT und IUP zu einer selektiven Studentenauswahl berechtigt. Daneben existieren aber noch 400 sogenannte grandes écoles. Mehr als zwei Drittel dieser Elite-Hochschulen sind Ingenieur- und Wirtschaftshochschulen (écoles de commerce, écoles d’ingénieurs), die sehr oft privat finanziert, aber staatlich anerkannt sind. Sie sind administrativ nur in geringem Umfang an die Weisungen und Normen der Regierung gebunden und bilden direkt für den Berufseinstieg im wirtschaftlichen und technischen Arbeitsbereich aus. Auch hier gilt daher das Leitbild der Lehre. Institutionell eigenständige Forschung betreiben diese Hochschulen erst in der allerjüngsten Zeit und in noch stark beschränktem Umfang.
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Geschichte wird an diesen écoles nicht gelehrt, ihr einziges Pendant im Bereich der Geisteswissenschaften sind die echten staatlichen Écoles normales supérieures, also ENS Paris (rue d’Ulm), Cachan und Lyon (darin aufgegangen Fontenay-St.Cloud), École des Chartes, Polytechnique oder andere Institutionen, an denen man zwar nicht als verbeamteter Elite-Student bezahlt wird, sondern umgekehrt selbst zahlt, die aber auch einen sehr guten Ruf genießen, wie das Institut d’études politiques ('Sciences Po').
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Die Forschung hat sich ganz überwiegend in außeruniversitären Forschungseinrichtungen entwickelt, insbesondere im Centre national de la recherche scientifique (CNRS), das eben auch einem eigenen Sub-Ministerium zugeordnet ist.

Wenn man den Strang der Forschungsinstitutionen einmal weglässt, stellt sich grob vereinfacht das französische Bildungssystem im tertiären Bereich dreigliedrig dar:



 

Frankreich (Daten zur rentrée 2003, ministère de l’Éducation Nationale u. der Recherche)

Deutschland (Daten 2000-2003, Stat. Bundesamt, BMBF, Landeswissenschaftsministerien)

Studentenzahlen

2.248.000 im enseignement sup., davon 1.327.000 in 85 Universitäten, 320.300 in classes supérieures (74.300 in classes préparatoires aux grandes écoles, 246.000 im technischen Bereich), 394.700 in anderen öffentlichen oder privaten Einrichtungen
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Bevölkerungszahl: 62 Mio. Einwohner
Anteil Stud./Bevölk.: 3,63 %
2.026.000 im tertiären Bereich, davon 1.400.000 in 99 Universitäten (davon 72 Technische und Voll-Universitäten) 555.000 in 158 Fachhochschulen
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Bevölkerungszahl: 82 Mio. Einwohner
Anteil Stud./Bevölk.: 2,69 %

Schuldauer

Allgemein 12 Jahre

Für Allg. Hochschulreife noch 13 Jahre

Für Fachhochschulreife 12 Jahre

Hochschulzugang

60 % eines Jahrgangs erreichen eine Hochschulzugangsberechtigung (3 Formen des baccalauréat); diese Zahl ist seit 1995 konstant, sie wurde nach der loi Savary zwischen 1985 und 1995 verdoppelt.

78 % der bacheliers beginnen sofort zur nächsten rentrée das Studium.

36 % eines Jahrgangs erreichen eine Hochschulzugangsberechtigung.

Hiervon ca. 56 % mit allg. Hochschulreife, 30 % mit Fachhochschulreife

Hochschullehrer

18.160 Universitätsprofessoren,

32.710 maîtres de conférence,

13.317 enseignants du second degré.

Dies sind alles Dauerstellen.

Normale Lehrbelastung für Professoren und maîtres de conf.: 6 Wochenstunden

(diese Zahlen erfassen wg. der absoluten institutionellen Trennung nicht die reinen Forscher der staatlichen Großinstitute, insbes. des C.N.R.S., die zu keiner Lehre verpflichtet sind. Etwa 120.000 'chercheurs' außerhalb der Universitäten werden vom Staat bezahlt). [4]

37.600 Professoren (davon C4: 12.500) wissenschaftliches Personal an Hochschulen insgesamt: 164.340, davon an Universitäten 136.000. [5] An Universitäten sind praktisch alle Stellen, außer denen der Professoren, (70 %) befristet (wiss. Mitarbeiter u. noch Assistenten).



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Wenn man den typischen Weg der Geschichtsstudenten von der Schule bis zum eventuellen Doktortitel verfolgt, so sieht das so aus:

Abitur: Sie oder er legt nach 12 Jahren Schule und im Alter von durchschnittlich 17-19 Jahren das allgemeine Abitur (baccalauréat général) ab. Es gibt zwei weitere Abitur-Typen, baccalauréat technologique und professionnel, die für den Geschichtsstudenten aber nicht einschlägig sind. Seit der 'loi Savary' von 1984 wurde innerhalb von 10 Jahren der Anteil der bacheliers an einem biologischen Jahrgang von 30 % auf 60 % (2003: 63,1 %) erhöht. Diese Zahl blieb seit 1995 relativ konstant, das ehemals angestrebte Ziel von 80 % wurde nicht erreicht. Von diesen Inhabern eines baccalauréat schreiben sich durchschnittlich 78 % sofort zum nächsten Wintersemester (zur rentrée) in eine Institution des tertiären Bildungswegs, des enseignement supérieur, ein - dazu zählen aber eben nicht nur die Universitäten. Studienanfänger sind daher in Frankreich stets sehr viel jünger als in Deutschland.
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Classes préparatoires: die 12-13 % Besten eines Jahrgangs gehen dann nicht gleich auf die Universität, sondern zunächst in die sogenannten classes préparatoires, die zwei (manchmal auch drei bis vier) Jahre lang für den concours zum Eintritt in eine grande école des Elite-Strangs vorbereiten. Dort sind insgesamt etwa 75.000 Studenten eingeschrieben. Die zwei Jahre zählen als Äquivalent zu den ersten zwei Jahren (bis zum Diplôme des études universitaires générales, DEUG) an der Universität. Der Staat gibt für einen Studenten der classes préparatoires jährlich doppelt soviel aus wie im Durchschnitt für einen normalen Universitätsstudenten (13.220 Euro gegenüber 6.850 Euro). Lehrer, die in den classes préparatoires unterrichten, verdienen wesentlich mehr als praktisch alle Professoren an den Universitäten mit Ausnahme weniger Spitzenstellen am Ende der Karriere. Dies liegt daran, dass die classes préparatoires dem Elite-Strang zugerechnet werden. Zugleich drückt sich darin aber auch wieder die Orientierung des Systems auf die Lehre hin aus: Nicht die besten Forscher verdienen am besten, sondern die besten Lehrer, obwohl diese innerhalb des Wissenschaftssystems an sich lediglich auf den Eintritt in die Forschungswelt vorbereiten.
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Elite-Strang: Für Historiker kommen dann als Elite-Institute während des Studiums nur die Écoles normales supérieures in Betracht (rue d’Ulm, Cachan, Lyon, plus ehemals Fontenay-St.Cloud) sowie die École des chartes. Wenigen Promille eines Studienjahrgangs gelingt der Eintritt in diese écoles, in denen man dann 4 Jahre den Status eines Beamten auf Zeit hat und monatlich etwa 1.200 Euro erhält (rue d’Ulm etwa 190 Plätze, Cachan 250, Lyon 220). Im Jahr 2002/3 waren insgesamt 3.044 von insgesamt 2.209.171 Studenten im Bereich des enseignement supérieur als normaliens aller Fachdisziplinen eingeschrieben, hiervon vielleicht 50 in spezifisch historischen Fächern. Wer den Aufnahme-concours nicht besteht, aber immerhin nach den schriftlichen zu den mündlichen Prüfungen zugelassen wurde, notiert dies als Erfolg im Lebenslauf: er war admissible. Admissible gewesen zu sein, bringt bei anderen Zulassungsprüfungen noch Punkte. Bekanntlich existiert in Deutschland nichts direkt Vergleichbares. Die kleine Zahl der Elite-Studenten in Frankreich ist freilich gar nicht so außergewöhnlich. Der Proporz der Stipendiaten der Studienstiftung des deutschen Volkes an der Gesamtzahl der Studierenden ist im Nicht-Graduierten-Bereich auch kaum höher (2,2‰ Studienstiftler zu 1,4‰ normaliens). Nimmt man die parteinahen und kirchlichen Förderwerke hinzu, wird in Deutschland ein größerer Anteil erreicht (etwa 9.000 als 'exzellent' eingestufte auf 2,03 Mio. Studenten, 4,5‰). [6] Aber in Frankreich gibt es ja auch neben den für Geisteswissenschaftler einzig einschlägigen Écoles normales supérieures noch die Ingenieur- und Wirtschafts-écoles, die zusammen dann doch 10 % eines Jahrgangs aufnehmen und insoweit weniger elitär sind, als der Ruf der grandes écoles insgesamt es erscheinen lassen könnte. Die grandes écoles zusammengenommen sind eben auch deshalb von so großer Bedeutung, weil sie eine gewisse quantitative Bedeutung erreichen und weil sie die vorgelagerte Struktur der classes préparatoires mit sich ziehen. Sie sind so überall, lange schon vor Eintritt ins lycée, in den Köpfen der potenziellen Bewerber präsent. In Frankreich ist die finanzielle Elite-Förderung von Beginn an unabhängig vom Einkommen der Eltern. Eliteförderung in Deutschland ist hier im Vergleich ganz gering institutionalisiert; schon am mangelnden Interesse oder Wissen um die Fördermöglichkeiten dürfte es zuweilen liegen, dass manch an sich sehr gute Schülerin oder Schüler bis ins Studium hinein nicht in den Einzugsbereich der Stipendienwerke kommt. Auch sind die Aufnahmeprozeduren in Deutschland über Landes- und Bundeswettbewerbsgewinne oder Schulnoten, Schul-, Hochschul- oder Ehemaligenvorschläge plus Auswahlseminare bei weitem nicht so durchorganisiert und kanonisiert wie die national ausgeschriebenen concours in Frankreich - dafür werden so in Deutschland wohl pluralere Begabungs- und Wissensformen prämiert. Es ist klar, dass das französische concours-System zum Teil stärker die Fähigkeit fordert und prämiert, hervorragend an ein diskursives System angepasst zu sein, als es kreativ aufzubrechen.
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Sozial exklusiv [7] ist faktisch jedes Elite-System, zumal einige Generationen nach jeweils entscheidenden gesamtgesellschaftlichen Umbrüchen - das heißt, es gibt die entsprechenden Phänomene der sozialen Reproduktion aufgrund der besseren Ausgangsbedingungen (Familie, Milieu, Geschlecht). [8] Das ist aber ein Phänomen faktischer Ungleichheit, Privilegierung oder auch Ungerechtigkeit, auf das man nur bedingt sinnvoll mit staatlich-egalitistischen Programmen reagieren kann, wie wohl heute wieder 'common sense' ist. Es gibt, zumindest unter den sozial Kompetenteren innerhalb der französischen Elite-Studenten, durchaus eine Kultur, ein kritisches Bewusstsein für die eigene Privilegierung und der daraus folgenden Pflicht für die Allgemeinheit zu pflegen. Grundsätzlich bleibt das französische wie jedes demokratische Elite-System rein leistungsbezogen und will natürlich nicht nur elitär, sondern im Hinblick auf die grundsätzliche Zugangsberechtigung auch egalitär sein. Die elterneinkommensunabhängige und gleiche Alimentierung der Elite-Studenten fördert zudem eine sehr früh mögliche faktische Unabhängigkeit vom Elternhaus - und umgekehrt freilich eine alles in allem große Staatstreue und -verbundenheit.
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Bis dato verleihen die grandes écoles keinerlei Abschlussdiplom. An ihnen bieten zwar hoch reputierte Professoren Kurse an, die die normaliens gerade statt des jeweils entsprechenden Kurses an der Universität besuchen. Die jeweiligen Prüfungen für die Universitätsgrade legen sie dann aber doch dort ab.
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Der normale Student: Er durchläuft hingegen in zwei Jahren eine relativ stark verschulte Ausbildung in relativ großen Kursen, die frontalen Vorlesungscharakter haben, um am Ende die Prüfungen zum DEUG abzulegen. Sie umfasst in Geschichte etliche Teilprüfungen in den vier Großepochen Antike, Mittelalter, histoire moderne (bis 1789/1815), histoire contemporaine sowie Optionen wie insbesondere Geographie. Es gibt in diesem Sinne keine Nebenfachstrukturen wie in Deutschland, sondern nur Wahlpflicht-Optionen geringerer Wertigkeit. Die Lehrerausbildung wirft ihren Schatten insoweit voraus, als man als Geschichtslehrer in Frankreich immer in Kombination auch Geographielehrer ist, weshalb Geographie auch in den universitären Curricula eine große Rolle spielt. Das DEUG hat erheblichen Siebeffekt.
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Es folgt nach 3 Jahren die licence, nach 4 Jahren die maîtrise. Letztere - oder auch erst das Diplôme d’études approfondies (DEA) - ist dem deutschen Magister vergleichbar. Mit dem Universitätsdiplom einer maîtrise hat man natürlich zunächst genauso viel oder wenig in der Hand wie in Deutschland mit einem Magister. Die potenziellen Universitätsabgänger bemühen sich dann meist um den Einstieg in klassische Berufe in der so genannten patrimoine-Pflege (Museen, Schlösser, Denkmäler) oder im Tourismus, die meist erneute Aufbau-Ausbildungsgänge erfordern. Ähnliches gilt für den Eintritt in den Archivdienst, wobei hier die Abgänger der Pariser École des chartes privilegiert sind. Auch Bibliotheks-conservateurs müssen eine erneute Ausbildung und einen concours durchlaufen. Das kann hier im Einzelnen nicht dargestellt werden.
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Der typische bessere Geschichtsstudent versucht jedenfalls auch das CAPES und die agrégation abzulegen, zwei concours, die eben keine Staatsexamina im deutschen Sinne, sondern direkte Aufnahmeprüfungen zur Rekrutierung von Lehrern sind. Voraussetzung für das CAPES ist nur die licence, die meisten absolvieren aber vorher noch die maîtrise. Die normaliens werden direkt zur mündlichen Prüfung des CAPES vorgelassen, sie legen aber meist die agrégation ab.
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Höher angesehen als das CAPES ist die agrégation, ein historisches concours-Fossil (1830 eingerichtet). Früher fungierte sie als das, was heute das CAPES ist, als einziger Zugangs-concours zum Lehrerberuf. Heute hat sich ihre Funktion zu einem Neben-concours verengt: sie dient als Schleuse zu einem zusätzlichen Privileg- und Elite-Bereich. Wer professeur agrégé ist, hat ebenfalls einen Lebensposten. An der Schule lehrt er weniger und erhält mehr Geld. Junge agrégés können auch an die Universität abgeordnet werden, wo sie dann schon genauso DEUG- und licence-Kurse geben wie die promovierten maîtres de conférence. Bei der Einstellung nach der Promotion von maîtres de conférence oder chercheurs an der Universität oder im CNRS werden agrégés vor solchen ohne agrégation stets bevorzugt.
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Hier zeigt sich auch die eingangs erwähnte Verbindung zwischen den Bereichen des enseignement supérieur und der Schulbildung im Rahmen der éducation nationale: Während in Deutschland die Promovierenden, sofern sie nicht fachfremd arbeiten, weitgehend über Stipendien, Drittmittel- und wenige Haushaltsstellen finanziert werden, führt der privilegierte Weg in Frankreich über die agrégation: Man promoviert auf einer Lehrerstelle - und zum Teil muss man auch an den Schulen unterrichten. Andere Möglichkeiten sind kleine Lektoren- oder ATER-Stellen (Attaché temporaire de l’enseignement et de la recherche), während das Stipendienwesen sehr viel geringer entwickelt ist als in Deutschland.
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Vor die eigentliche dreijährige Promotionsphase war bislang ein einjähriges DEA im ersten Jahr geschaltet, das mit einer weiteren Arbeit (mémoire) abgeschlossen wurde und faktisch zur Vorbereitung der Promotion diente, nun aber wegfallen wird. Bis vor kurzem unterschied sich die frei schwebende Promotionsphase wenig von dem, was wir aus Deutschland kennen. Im Jahr 2000 wurden nun aber in Frankreich flächendeckend die so genannten écoles doctorales an den Universitäten eingeführt: Jeder Doktorand muss in diesen interdisziplinär organisierten Lehrveranstaltungen eine bestimmte Stundenanzahl ableisten, wobei meist sogar die Anwesenheit kontrolliert wird - eine Entwicklung, die insbesondere den Bildungspolitikern in den Ministerien ja auch in Deutschland als ein Heilmittel zur Schaffung größerer Betreuungsdichte während der Promotionsphase erscheint (flächendeckende Einführung von Graduiertenkollegs). Die Entwicklung in Frankreich erscheint mir hier aus Sicht der Historiker eher kontraproduktiv und bedrohlich. Denn so wird weiter Flexibilität abgebaut und die knappe Zeit für Archiv- und Bibliotheksrecherchen eingeschränkt.
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Im Ganzen leidet das französische staatliche Massenhochschulsystem genauso wie das deutsche an Unterfinanzierung und Überlastung. Die Hochschulen werden vom Ministerium trotz der Schaffung von 'Hochschulautonomie' 1968/1984 noch stärker gegängelt als in Deutschland, wo Autonomie (und auch Renitenz) stärkeren rechtlichen Rückhalt hat. Die Trennung zwischen den außeruniversitären Großforschungsinstitutionen, insbesondere des CNRS, und den Universitäten ist in diesem Umfang wohl ebenfalls kontraproduktiv, zumindest in den Geistes- und Sozialwissenschaften. Ein weiteres Problem des französischen Systems ist die starre Ausrichtung auf die concours, die für die meisten Studenten Auslandserfahrungen unmöglich und kaum profitabel machen. [9] Die etwas niedrigere Entlohnung der Dozenten, die Lehr- und Unterrichtsbedingungen, die Raum- und Sachausstattung der Universitäten, schließlich die - insbesondere außerhalb von Paris - miserable Bibliothekssituation mindern aus der Perspektive eines forschungsinteressierten deutschen Historikers die Attraktivität des französischen Systems. Hingegen erscheint dafür die vergleichsweise hohe Anzahl von Lebensstellen, insbesondere die Stellenkategorie der maîtres de conférence (Einstellungsvoraussetzung: Promotion) als geradezu paradiesischer Zustand. Diese sind zwar in der Lehre genauso belastet wie die Professoren und im Durchschnitt offiziell auch stärker als deutsche Dozenten (Verpflichtung zu 192 vollen Lehrstunden pro Jahr), arbeiten aber eben auch in der entsprechenden Sicherheit. Zudem hat diese Stellenstruktur ganz deutlich den Effekt der Nivellierung von Hierarchien, denn die (freilich immer bestehenden und meist ja auch durch Leistung legitimierten) faktische Konzentrierungen von Entscheidungspotenz und Netzwerkbildungen haben für den Einzelnen gegebenenfalls weniger existenzielle Bedeutung, weshalb aus französischer Sicht das deutsche System zuweilen als "pyramidal" oder "patronal" charakterisiert wird. [10] Hierhin gehört auch der aus französischer Sicht erschreckend niedrige Frauenanteil an den Spitzenpositionen in der Wissenschaft in Deutschland, wenngleich sich hier ja derzeit - zumal in den Geistes- und Geschichtswissenschaften - einiges ändert. [11]
II. Der Bologna-Prozess in Frankreich
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Reformintentionen und -steuerung: Der Bologna-Prozess trifft nun auf das so skizzierte System. Nachdem Frankreich von Beginn an zu den Unterzeichnern der Sorbonne-Erklärung (1998), der von Bologna 1999, von Prag und Berlin gehörte, sind im April 2002 die grundlegenden Normen für die innerfranzösische Umstrukturierung erlassen worden: zwei Dekrete der Regierung und hieran anschließende arrêtés des französischen Bildungsministers, die im Verwaltungsjargon nur die 'textes LMD' genannt werden. In Frankreich spricht nämlich kaum jemand von Europa oder vom Bologna-Prozess, sondern von 'LMD' (= licence - Master - Doctorat) oder 3/5/8 (= die Jahresabfolge der Studiendauer), um die Reform zu bezeichnen. Nach anfänglichen, fast amüsanten sprachlichen Reizreaktionen auf die neuen Benennungen wird hierüber nicht mehr diskutiert. [12]
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Die Universitäten und die écoles normales wurden in vier Gruppen unterteilt: eine Experimentalgruppe der Universitäten im Norden, insbesondere Lille, Valenciennes und Cambrai bietet schon seit 2002/03 die neuen Studiengänge teilweise an und wird bis 2005 die Reform abgeschlossen haben; die übrigen drei zeitlich gestaffelten 'Wellen' oder 'vagues' der Reformumsetzung erfassen alle anderen Universitäten, die bis zum jeweiligen Wintersemester 2006 oder 2007 die Umstrukturierung durchgeführt haben werden. Ab 2007 wird es in ganz Frankreich nur noch licence, Master und Doctorat geben.
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Die Umsetzung erfolgt aus deutscher Sicht stark ministeriell verordnet, das heißt die Universitäten können gar nicht anders als umzustrukturieren, denn ihre 'habilitation', die jährliche vom Ministerium nach Prüfung durch die commissions d’évaluation nationales verliehene Berechtigung, staatliche Diplome auszustellen, hängt hiervon ab.



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Das Ministerium ist allerdings der Überzeugung, dass es mit seiner 'politique contractuelle' - das ist der französische Name für das, was wir in Deutschland als 'Zielvereinbarungen' oder gar 'Qualitätspakte' kennen - viel Spielraum lässt: Die Dekrete und Verordnungen schreiben nicht im Detail vor, wie Studiengänge auszusehen haben und welche Inhalte kombiniert werden sollen. Allerdings werden doch schon mehr Details normativ vorgeschrieben als in Deutschland, wo erst die KMK- und HRK-Empfehlungen und -Beschlüsse innerhalb der Akkreditierungsinstitute in verschiedenem Umfang normatives Gewicht erhalten.
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Insbesondere sind schon gesetzlich die Strukturierung der Studienangebote in 'domaines', 'mentions' und individuelle 'parcours' sowie ein System der institutionalisierten internen und externen Evaluation (letztere durch die commissions d’évaluation nationales des Ministeriums) vorgegeben. Mehrere Institutionen können zusammen integrierte Studiengänge anbieten ('cohabilitation'). Die Strukturelemente dieser Gesetzestexte sind weitgehend identisch mit dem, was allgemein die europäischen Reformen ausmacht.

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Reformverlauf: Ein Jahr nach dem Erlass der Dekrete, im Frühjahr 2003, führte die französische Hochschulrektorenkonferenz (Commission des présidents des universités) eine Umfrage zum Stand der Reformen durch: Die Beantwortung eines Minimalkatalogs sollte dazu dienen, noch vor der endgültigen Einreichung der habilitation-Vorschläge der Studiengänge allen einen zentralen Überblick über die Tendenzen zu verschaffen. Man kann daraus ablesen, dass in Frankreich im Rahmen des vorgegebenen Zeitplans tatsächlich die gesamte Umstrukturierung erfolgt sein wird. Nur eine Minderheit von 10 % der französischen Hochschulen tendiert derzeit noch dazu, die Reform nur teilweise bis zum Rahmenzeitpunkt des Vertrags mit dem Ministerium ('politique contractuelle') umzusetzen und so den Renitenz-Spielraum auszunutzen.
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Ein entscheidender Effekt der Reform wird vielleicht nicht die Geisteswissenschaften betreffen, sondern die technischen und die wirtschaftlichen Fächer: Hier bestehen seit den Reformen von 1968 und 1984 die Instituts universitaires professionalisés und de technologie IUP und IUT. Es besteht die deutliche Tendenz, dass die einschlägigen UFR (Unités de formation et de la recherche = Departments oder Institute) der Universitäten sich zu 90 % mit den ohnehin schon in die Universität eingelassenen Instituten zusammenschließen und jeweils gemeinsame Studiengänge anbieten. Auch die écoles normales bieten jetzt licence- und Master-Abschlüsse an. Die Instituts universitaires de formation des maîtres (IUFM), die para-universitäre Institutionen für die Lehrerausbildung sind, würden gerne nach Abschluss der jeweils zweijährigen Ausbildung einen 'Master de l’enseignement' verleihen, dessen Erwerb dann unabhängig vom Bestehen des concours (CAPES) wäre. Damit würden diese Institutionen in Konkurrenz zu den Universitäten treten. Das Ministerium lehnt eine Zulassung solcher Anträge bisher ab, weil nach der französischen Vorstellung die Vorbereitung auf einen concours nichts mit dem Erwerb eines akademischen Grades zu tun hat - so die offizielle Begründung; natürlich geht es auch darum, dass sonst auch noch diese Institute potenzielle arbeitslose Akademiker produzieren würden. Jedenfalls hat an diesen Stellen die Reform einige spürbare Auswirkungen auf die Vernetzung der verschiedenen Institutionen und Stränge im Wissenschafts- und Hochschulsystem.
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Nach der Umfrage werden typischerweise Geschichts-licence- und -Master-Studiengänge unter der domaine 'Sciences humaines et sociales' gebildet; die einzelnen mentions, die erst das Kreativpotenzial erkennbar werden lassen, sind in dieser Umfrage von 2003 noch nicht erfasst. Durchschnittlich werden pro domaine etwa 5-7 verschiedene mentions angesiedelt sein, im Fall der domaine 'Sciences humaines' wird die mention aber meist einfach 'Histoire' sein. Erst die parcours werden gegebenenfalls epochen- oder sachspezifische Spezialisierungen oder vielleicht überhaupt neue Kombinationen anbieten. Die parcours-Charakteristika sind aber nicht Teil des erworbenen Titels, werden aber wohl auch in supplément-Texten dem Studenten bescheinigt.
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Die wenigen großen Geschichts-Institute tendieren allerdings dazu, zumindest für den master-level gleich eine domaine 'Histoire' anzubieten, nicht etwa unter einem großen Dach 'Sciences humaines'. Dies gilt etwa für die Sorbonne (Paris IV), Bordeaux III und wohl auch für die anderen großen Pariser Universitäten. Hier wird die mention dann sicher in die klassischen Epochen-Disziplinen aufgefächert. Das wird insoweit wenig innovativ erscheinen, andererseits können diese Institutionen wohl ein begründetes Vertrauen in die Durchsetzungskraft ihres autarken Angebots setzen.
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Der erste Reflex ist in Frankreich wie wohl überall, schlicht das bisher Gegebene zu modularisieren. Letztlich wird das bis zur licence oft wenig ändern, nur maîtrise- und DEA-Jahr werden zusammengezogen zum Master. Da Professoren und maîtres de conférence sich in der Lehre auch weniger unterscheiden als in Deutschland Professoren und 'Mittelbau' - zwar sind nur die professeurs berechtigt, die maîtrise und die Promotion zu betreuen; sie sind aber umgekehrt im Turnus auch immer verpflichtet, Erstsemesterkurse zu halten -, ändert sich hier im Selbstverständnis der Hochschullehrer nicht so viel. Kreative Kollateraleffekte der Umstrukturierung wird man wohl erst in einiger Zeit genauer beobachten können.
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Bologna-Prozess und Elite-Strang: Die Reform betrifft wie erwähnt nur den universitären Strang. Das concours-System wird ganz unverändert bestehen bleiben, ebenso der Eliten-Ausbildungsstrang. Allerdings werden nun erstmals auch die Écoles normales Diplome bis zum Master erteilen können. Das ist eine kleine Neuerung, die eventuell langfristige Folgen haben kann. Würden die grandes écoles schließlich auch promovieren dürfen - einige wenige, nicht aber die klassischen und nicht alle Fächer haben schon Promotionsrecht -, würden sie in direkte Konkurrenz zu den Universitäten treten. Es könnte aber auch ein Sog der Normativität des Faktischen dergestalt eintreten, dass die écoles normales mehr und mehr zu echten Voll-Elite-Universitäten ausgebildet würden. Vielleicht kommt es nicht soweit, weil die Interessenlage hochkomplex und daher innerinstitutioneller Widerstand sehr wahrscheinlich ist. In vielerlei Hinsicht wollen die grandes écoles gar nicht in eine solche Position einrücken, weil über Diplomerteilung, Habilitation und Evaluation nach französischer Logik dann die zentralen Steuerungsmöglichkeiten des Ministeriums noch größer würden, während viele grandes écoles eine starke Unabhängigkeitskultur verteidigen. So sind bislang nur die drei klassischen Écoles normales supérieures in den Prozess einbezogen, weil sie direkt dem Bildungsministerium unterstehen, nicht aber die ganzen technischen und wirtschaftlichen grandes écoles und solche, die anderen Ministerien unterstehen. Würde sich eine solche Tendenz verstärken, hätte man auf einmal Elite-Universitäten neben den anderen Universitäten, die ihrerseits untereinander innerhalb ihrer Fächergruppen gestuft wären. Die Écoles normales würden ihr Forschungspotenzial weiter ausbauen. Eines der wichtigsten Argumente dafür, dass eine Entkopplung der écoles von den Universitäten nicht möglich sei, war immer die relativ geringe Erfahrung dieser Institutionen in der Forschung. Allerdings gingen die wirklichen Impulse hier auch nie von den Universitäten, sondern von besonderen eingerichteten Zentralinstituten des C.N.R.S. oder Einrichtungen wie dem Institut Pasteur oder in den Geistes- und Sozialwissenschaften von akademischen Sondereinrichtungen wie der E.H.P., der E.H.E.S.S. und der M.S.H. aus. Obwohl diese Veränderung in der Elitensparte eigentlich kein erklärter Teil des europäischen Bologna-Prozesses ist, zeigt der déjà-vu-Effekt, den man hier in Deutschland angesichts der hiesigen Elite-Diskussion verspürt, dass die Entwicklung offenbar derzeit ziemlich unweigerlich in die Richtung der Aufspaltung und hierarchischen Abstufung der Forschungs- und Ausbildungslandschaft zeigt.
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Reformskepsis: Der Informationsstand über die Reform ist in Frankreich insgesamt relativ niedrig. Selbst die an der Umsetzung Beteiligten in den Universitäten zucken meist mit den Achseln und berichten von Sitzungen, in denen voller Skepsis neue 'maquettes', das heißt gesetzeskonforme Modul-Pläne, erstellt werden. Die geringe Informationsdichte und Skepsis zeigte sich auch auf der Studentenebene: Ende 2003 kam es zu relativ massiven Protesten und Streiks, die sich teilweise auch auf die Reform bezogen (nicht zu verwechseln mit den Streiks am CNRS). Aus der Dozentenperspektive wurde der Streik unterstützt, weil zwar die Reformen mit großem Nachdruck vorangetrieben werden, die wohl eine erneute, erhöhte Lehrbelastung bedeuten, aber keine zusätzlichen Mittel veranschlagt wurden. Während in Deutschland vielleicht von einigen 'Rot-Grün' mit der Reform verbunden wird, wurde sie in Frankreich als ein typisches Unternehmen der Regierung Raffarin interpretiert, die die 'Kommerzialisierung' der Universitäten vorbereiten wolle; Angst vor Studiengebühren stand im Raum; ebenso die Angst, dass die Universitäten eventuell ihre Studenten auswählen könnten und würden - obwohl hiervon zunächst jeweils nichts in den Reformdekreten enthalten ist. Realere Befürchtungen der Studenten waren, dass sie im Grunde nichts gewinnen, sondern nur etwas verlieren würden, nämlich die bisher im französischen System vorgesehene Möglichkeit, ab dem DEUG jährlich mit einem Abschluss in der Hand von der Universität zu gehen - DEUG, licence, maîtrise, DEA; statt vier Abschlüssen vor der Promotion würde es jetzt nur noch zwei geben.
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Allerdings ist in der Reformgesetzgebung versteckt die Beibehaltung der alten Abschluss-Stufen als 'diplômes intermédiaires' vorgesehen. In den Umstrukturierungsüberlegungen erscheint so auch weiter die Idee eines Abschlusses schon nach zwei Jahren und insbesondere die Aufsplittung des Masters in eine allgemeine Stufe M1 und eine entweder forschungsorientierte oder berufspraktisch orientierte Stufe M2.
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Viele Dozenten kleinerer Universitäten befürchten, dass die Reform letztlich zu einer Verstärkung des ohnehin stets gegebenen Trends zur Zentralisierungs führen wird, dass einige Universitäten höchstens noch eine licence mit mention 'Geschichte' anbieten werden können, de facto aber als Options- oder Wahlpflicht-Modulanbieter für Studiengänge mit anderer Haupt-mention fungieren werden. Es werde in Geschichte also zu Zwei-Klassen-Universitäten kommen. Denn solche Universitäten werden zunehmend zu Kandidaten für Kürzungen von Professorenstellen zugunsten anderer Fächer, weil die Geschichts-Module bzw. der licence-Unterricht auch durch maîtres de conference verwaltet werden können. Hingegen würden dann nur noch wenige Universitäten ein 'volles' Geschichtsstudium, also auch den master und die Promotion anbieten können, was dann natürlich auf die Pariser Universitäten und einige größere Provinzuniversitäten hinausläuft - eben diejenigen, die auch jetzt schon eine mention 'Histoire' anbieten wollen. In Deutschland gibt es ja strukturell ähnliche Befürchtungen, allerdings ist diese totale Ausdünnung bis auf den Mittelbau derzeit schwer durchführbar, weil es ja praktisch keinen Mittelbau aus Lebenszeitstellen gibt.
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Ich habe auch mit Dozenten gesprochen, die eine Atomisierung des Angebots befürchten: Während das Reformprojekt eigentlich die europäische Vereinheitlichung verfolge, würden primär eine Veruneinheitlichung und die Schaffung von Unvergleichbarkeit des Lehrangebots in buntgescheckten licence- und Master-Landschaften erreicht.
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Die beiden Ängste der Zwei-Klassen-Universitäten und der Atomisierung sind im Grunde die Negativ- oder Schatten-Begriffe der positiven Leitbilder, die offenbar in Frankreich genauso wie hierzulande die Strukturumbildungen dirigieren, nämlich die der 'Schwerpunktbildung' und der 'Profilbildung'.


III. Beispiele
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Wenn man sich im Lokalbereich anschaut, was bei der Reform herauskommt, so kann man zu den großen Universitäten in Paris, die in Deutschland immer die meiste Aufmerksamkeit auf sich ziehen, noch wenig sagen, weil sie zur Schlussgruppe der Reform-Wellen gehören. Dort ist jedenfalls aufgrund der relativ großen personellen Ressourcen die Tendenz sehr stark, reine Geschichts-licences und -Master anzubieten, so dass die Reform der Sache nach keine allzu großen Veränderungen mit sich bringen wird.
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Kleine Universitäten werden hingegen, wohl auch aus der Not heraus dazu übergehen, auf andere Kombinationen und die Konzipierung neuer Studiengänge auszuweichen, allerdings scheint die Bandbreite der Kooperation der Disziplinen sowohl von den Möglichkeiten wie von der Bereitschaft her begrenzt zu sein.
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Die Universität Valenciennes, die zur ersten Reform-Welle gehört, bietet in 'cohabilitation' mit Cambrai einen licence-Studiengang 'Lettres et sciences humaines' an mit der mention 'Histoire'. [13] Der Student kann dabei zwischen vier verschiedenen 'parcours' wählen, die von seinem jeweiligen Berufswunsch bestimmt sind: Erstens (A) vom Berufswunsch Gymnasial-, Hochschullehrer und Forschung; zweitens (B) vom Berufswunsch Schullehrer; drittens (C) vom notwendigerweise relativ vage gehaltenen Berufsfeld der Kultur- und Medienbranche ('Documentation, culture, médias'); viertens vom ebenso vage gehaltenen Berufsfeld Verwaltung ('Administration, ressources humaines'). In den ersten drei Semestern muss eine lebende oder eine 'tote' Sprache obligatorisch als Wahlpflichtmodul belegt werden, man kann den parcours auch weiter auf Sprachen spezialisieren und muss dann dementsprechend pflichtmäßig weitere Sprachmodule belegen (Deutsch, Englisch oder Spanisch).
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In Valenciennes kann man nach der licence dann einen Masterstudiengang 'Lettres et sciences humaines', mention 'Histoire', belegen, wobei man wieder zwischen zwei parcours wählen kann : entweder einen eher berufsvorbereitenden parcours, der aber noch nicht ganz klar konzipiert ist (erstes Semester berufsbezogene Ausbildung, zweites Semester Praktikum). Oder man kann weiter auf der Forschungsebene bleiben; entsprechend wird dann das derzeitige DEA 'Histoire, société et culture du Moyen-Age à nos jours' in ein M2 umgewandelt.
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Neben dem klassischen Geschichts-Master soll in Valenciennes auch ein nur einjähriger 'Master Média Interactifs' (http://www.univ-valenciennes.fr/formations/master/media.html) für die Stufe M2 mit dem Berufsziel Web-Designer angeboten werden, in das man nach dem ersten Master-Jahr wechseln kann und das auch als Fortbildungs- bzw. Umschulungsmaßnahme offen für Arbeitslose und Angestellte ist. Während Studenten die normalen Studiengebühren zahlen, bezahlt für letztere das Arbeitsamt oder der Arbeitgeber einen höheren Betrag. Hier wird also ein Schritt auf einen anderen Ausbildungsmarkt hin gemacht. Man kann es aber auch so sehen, dass innerhalb der heute sich leider verfestigenden Bedingungen von Langzeitarbeitslosigkeit und periodischen Wechseln zwischen Arbeitslosigkeit und Berufstätigkeit eine typische Bewegung auf den Fortbildungssektor hin stattfindet, die natürlich aus Perspektive des Staates zuweilen auch nur der Kaschierung von Arbeitslosigkeit dient.
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Ein weiterer neuartiger Master in Valenciennes soll 'Master interventions culturelles dans les nouvelles configurations territoriales' heißen, darüber ist aber noch wenig bekannt.

Valenciennes ist ein Beispiel dafür, wie eine kleine Universität ihre sehr beschränkten Ressourcen aufzuteilen versucht und dabei einige kreative Akzente zu setzen vermag.
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Das Centre d’études supérieures de la Renaissance in Tours ist ein Beispiel für eine der Sonderinstitutionen in Frankreich, die vielleicht aus der Reform Kapital schlagen und durch raschen Reformanschluss den behäbigeren Institutionen in Paris das Wasser abgraben können. Das Centre in Tours hat sehr gute Startchancen, weil es schon jetzt im französischen Vergleich gut dotiert ist und eine Sonderstruktur aufweist: Einerseits ist es an die Université François-Rabelais in Tours angegliedert, andererseits ist es vom CNRS teilfinanziert. Zudem weist es seit seiner Gründung in der unmittelbaren Nachkriegszeit eine außergewöhnlich prononcierte Interdisziplinarität auf: Es gibt jeweils Professuren und maîtres de conferences in Philosophie, Geschichte, Musikologie, englischer, französischer und italienischer Literaturwisenschaft sowie Spezialisierungen in Wissenschaftsgeschichte, Sport- und Fechtkulturgeschichte, Buchgeschichte und anderem. Geeint wird das Zentrum nicht durch das übliche Disziplinenschema, sondern dem Anspruch nach durch die umfassende Erforschung der Epoche und des Gegenstands 'Renaissance'. Da in der Renaissance selbst die Ausdifferenzierung der Wissensordnungen noch nicht so vorangeschritten war wie seit dem 19. Jahrhundert, liefert der Gegenstandsbereich selbst jeden Anlass für Interdisziplinarität. [14]
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Das Centre wird nur einen Master und dann die Promotion anbieten, wie es auch jetzt schon keine licence angeboten hat. [15] Da die Interdisziplinarität längst vorliegt, ist eine entsprechende Modularisierung leicht möglich. Die Konzentration richtete sich in Tours daher auf die internationale Komponente, um so ein Programm zu entwickeln, für das man dann bei der EU eine Erasmus-MUNDUS-Förderung einwerben kann: Der Master soll multinational in Kooperation mit dem Royal Holloway College in London, mit der Université de Louvain, mit Bologna und Ferrara sowie mit der FU Berlin angeboten werden. Die Institutionen stimmen sich auf einen weitgehend ähnlichen Ablauf in den ersten beiden Semestern ab, im zweiten Semester des ersten Jahres wechselt der Student an eine der Partner-Universitäten. Im zweiten Jahr wählt der Student zwischen einem eher forschungsorientierten Master oder einem 'master professionalisant'. Tours und London bieten hier 'Patrimoine écrit de la Renaissance' bzw. 'Cultural heritage of the Renaissance' an. Der Student absolviert dann schon im ersten Semester des ersten Jahres ein vierwöchiges Kurzpraktikum und belegt ein Seminar in den Buchgeschichtskursen der Nationalbibliotheken in Paris oder London. Im zweiten Jahr bietet Tours dann Einführungen sowohl in die Buchgeschichte als auch in die heutige Editionstechnik, in das Urheber- und Verlagsrecht sowie zum Computereinsatz im Digitalisierungs- und Editionsbereich an.
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Nicht für alle Bereiche sind die technischen Ausbildungsmöglichkeiten so gut, wie man sie sich vielleicht wünschen würde, aber im französischen Vergleich sind sie sehr gut, und die Betreuungsdichte in Tours ist sehr hoch.

Viele Fragen sind noch ungeklärt, insbesondere was den großen Unterschied der Studiengebühren zwischen England und Frankreich, den Status der Zusammenarbeit mit den Institutionen wie den Bibliotheken und weitere Finanzierungsfragen anbelangt. Aber als Projekt, das insbesondere mit der Europäisierung ernst macht, ist es zunächst einmal interessant und vorbildhaft.



IV. Fazit
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Wenn man aus der deutschen Perspektive auf die französische Variante des Reformprozesses schaut, blickt man teilweise fast in einen Spiegel, teilweise gibt es nennenswerte Unterschiede.
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1. Die französische Universität ist als ganze schon heute vom Charakter her wesentlich verschulter, als die deutsche es zumindest von ihrem Anspruch her sein will. Bei 60 % Hochschulzugangsberechtigten eines Jahrgangs führt dies zu einer Massen-Schulung von einem noch einmal ganz anderen Charakter, als es in Deutschland bei 36 % Hochschulzugangsberechtigten der Fall ist. Die deutschen Universitäten werden im Vergleich bei einer stärkeren Verschulung im Bachelor-Bereich sehr viel nachdrücklicher umdenken und sehr viel stärker zwischen Bachelor- und Master-Studenten unterscheiden müssen. Auch das Rollenbild des deutschen Hochschullehrers dürfte sich so ändern. Hier sollte man die Ausrichtung auf die Lehre in Frankreich nicht beiseite schieben, sondern bedenken, dass das deutsche Hochschulsystem auf die Vermassung seit den 1960er-Jahren letztlich mit der Beibehaltung einer Wissenschaftsorientierung bei gleichzeitiger realer Massenbildung paradoxer und unrealistischer reagiert hat. Daneben wäre allerdings die bewusste und reflektierte Ausdifferenzierung eines Elite-Strangs mit Freiraum für Forschung ebenfalls wichtig. Auch braucht man nicht so viele Schullehrer, so dass die Bachelor-Ausbildung sicher nicht nach französischem Muster als reine Lehrerbildung ausgeformt werden kann, sondern genauso wie dort neue Kombinationsmuster und Orientierungen an anderen, neuen Berufsbildern oder grundsätzlichen Meta-Kompetenzen wichtig sein werden.
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2. Deutschland hätte vielleicht mit seiner föderalen Struktur und der auf Universitätsinitiative basierenden Reformgestaltung ein höheres Potenzial für kreative Neuschöpfungen im Studiengangbereich und für Experimente in der Berührung mit außeruniversitären, wirtschaftlichen Bereichen. Bisher ist hier aber noch relativ wenig im Geschichtsbereich zu spüren. Demgegenüber ist die ministeriell verordnete Leitlinie von domaine-/ mention-/ parcours-Differenzierung in Frankreich kein übles Grobmuster.
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3. Die in Deutschland ungeklärte Frage des Verhältnisses des Staatsexamens zur Ausbildungsreform hat ihr exaktes Pendant im strikten Festhalten am concours-System in Frankreich. Jeweils sind es dieselben Ministerien, die die Uni-Reform vorantreiben, die in der Lehrer-Ausbildung nichts ändern wollen.
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4. In Frankreich scheint die Frage, ob die Universitäten ihre Studenten auswählen dürfen und ob Studiengebühren erhoben werden dürfen, noch viel zaghafter angegangen zu werden, als es in Deutschland aufgrund des Studiengebührenfreiheitsgesetzes von 1875 der Fall ist. Im Elite-Strang hingegen herrscht hohe Selektion.
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5. Ob die zunehmende Verschulung auch noch in der Promotionsphase eine begrüßenswerte Entwicklung ist, wage ich, auch angesichts der ersten Erfahrungen in Frankreich mit den écoles doctorales, zu bezweifeln. Beim Modell 'Graduiertenkolleg' werden immer nur die Vorteile (Interdisziplinarität, Austausch und Kommunikation), nicht aber die Nachteile (dysfunktionale Kommunikationen, Zeitverlust) betont. Hier wie überhaupt bei der Reform müssen Freiräume der Flexibilität in die neuen Studienordnungen eingebaut werden.
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6. Was die Elite-Diskussion anbelangt, ist bemerkenswert, dass auch in Frankreich die Tendenzen einer zunehmenden Verselbständigung der Elite-Institutionen in den Bereichen Lehre, Diplom-Vergabe und Forschung parallel zu den Reformen des Bologna-Prozesses zunehmen, auch wenn von ganz eigenständigen Elite-Universitäten noch nicht die Rede ist. Im Vergleich zu der traditionsreichen und organisatorisch verfestigten Elite-Selektion und -Förderung in Frankreich erscheinen allerdings die derzeitigen politischen Projekte in Deutschland - sowohl auf Bundes- wie auf Länder-Ebene - als sehr hektische und zugleich sehr minimale Planerei am Grünen Tisch. Zu bedenken ist, dass im Vergleich Frankreich nicht nur die winzige Elite-Spitze des Eisbergs Écoles normales kompromisslos fördert, sondern dass hiervor konisch zulaufend der sehr viel breitere Förderbereich der classes préparatoires aux grandes écoles vorgeschaltet ist, der die Wahrscheinlichkeit, wirklich die Besten überhaupt zu erfassen, deutlich erhöht. Allein für die dortigen 75.000 Studenten der ersten beiden Studienjahre gibt der französische Staat jährlich fast 1 Milliarde Euro aus - nur in diesem Teilbereich des Elite-Strangs ist also fast das Dreifache dessen, was jetzt in Deutschland als Fördersumme für die Exzellenzcluster und -universitäten im Gespräch ist.
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Die Elite-Studenten in Frankreich sind und bleiben viel stärker unter sich als es bei deutschen von Stipendienwerken geförderten Studenten derzeit der Fall ist. Vielleicht ist diese pluralere Exzellenzförderung auch von Vorteil, denn letztlich stehen die einmal Ausgewählten in Deutschland sehr viel öfter vor dem existenziellen Druck 'ihre Klasse' erneut zu beweisen als in Frankreich, wo der einmal erworbene normalien-Status nicht nur Etikett ist, sondern tatsächlich sukzessive normativ gestützte Vergünstigungen während der Karriere bietet.
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7. Master-Modelle wie jenes aus Tours, die auf einen allgemeinen Geschichts-Bachelor aufsatteln, dann aber, den institutionellen und personellen Möglichkeiten entsprechend, stärkere Spezialisierungen anbieten und insbesondere die Auslandskooperation direkt integrieren und nicht der Eigeninitiative der Studenten überlassen, scheinen nachahmenswert.
Anmerkungen
[1] Vgl. für den Bereich des öffentlichen Rechts statt vieler Rainer Wahl: Verfassungsstaat, Europäisierung, Internationalisierung, Frankfurt a. M. 2003, 17-118.
[2] Der Vortragscharakter des Textes blieb unverändert. Angesichts der Aktualität des analysierten Sachverhalts verzichte ich weitgehend auf Nachweise im Einzelnen. Die wichtigsten Informationen zum nationalen Wissenschafts- und Bildungssystem finden sich unter http://www.education.gouv.fr/ . Informationen wie aktuelle Statistiken, die Gesetzestexte zur nationalen Umsetzung des Bologna-Reformprozesses, Umfragen, Kommentare und Zusammenfassungen von ähnlichen Tagungen wie der Berliner in Frankreich finden sich auf der Homepage der 'Agence de mutualisation des universités', http://www.amue.fr/Dossier/LMD/ . Deutsche Statistiken habe ich den entsprechenden mir zugänglichen 'grauen' Veröffentlichungen wie Jahresberichten der Stiftungen und den Internet-Publikationen von Wissenschaftsrat, Statistischem Bundesamt, der Landesministerien und des BMBF entnommen. Im Übrigen waren insbesondere für die Einschätzung der Reform von Seiten der französischen Historiker und für Informationen aus dem Bereich der Umsetzung im Lokalen mündliche und schriftliche Informationen wichtig, die ich im Austausch unter anderem mit Florence Alazard, Pascal Brioist, Gérald Chaix, Axelle Chassagnette, Marie-Luce Demonet, Claire Gantet, Nicolas Le Roux und Tania Vladova sammeln konnte. Ihnen sei ganz herzlich gedankt.
[3] Signifikant für diesen Unterschied ist die Bezeichnung der Berufsfelder: Während in Frankreich bekanntlich 'professeur' grundsätzlich die allgemeine Oberbezeichnung für Schullehrer wie für Universitätsdozenten ist, ist in Deutschland 'Lehrer' ohne zusätzliche Spezifizierung klar für den Schulbereich reserviert und 'Professor' ebenso klar für den Universitätsbereich.
[4] Vgl. dazu http://cisad.adc.education.fr/reperes/ .
[5] Die mir vorliegenden Zahlen des Statistischen Bundesamts geben keine Aufschlüsselung zwischen reinen Forschungsstellen und solchen mit Lehrdeputat.
[6] Die Studienstiftung fördert jährlich insgesamt zwischen 4.500 und 5.000 Studenten, die sich im Studium vor dem ersten (deutschen) Hochschulabschluss befinden. Die Zahl schwankt je nach aktueller Finanzlage. Die sieben großen parteinahen und konfessionellen Stiftungen kommen noch einmal auf die gleiche Zahl (in etwa 4.600). Freilich ist diese Förderung meist mehr ideell (Akademien, Sprachkurse, Netzwerke), denn über 50 % erhalten aufgrund der Anlehnung an die BAFöG-Maßstäbe nur das minimale Büchergeld. Nur knapp 10 % erhalten den Höchstsatz von 525 Euro, was also wiederum nur die Hälfte eines normalien-Gehalts ist. Man darf bei diesen Zahlen nicht die Graduiertenförderung hinzurechnen - nicht nur, weil auch in Frankreich normaliens als solche nur bis zum DEA gefördert werden, sondern auch, weil die Stipendiatenstruktur sich in den deutschen Förderwerken nach der Grundförderung deutlich verschiebt: Während in der Grundförderung alle Fächer und manche naturwissenschaftlichen Fächer im Verhältnis zu den gesamten Studentenverhältnissen sogar überproportional vertreten sind und also bei der Aufnahme miteinander konkurrieren, nehmen die Stipendien der Promotionsförderung doppelt so stark geisteswissenschaftliche Fächer in Anspruch (40 % in der Promotionsförderung gegenüber 20 % in der Grundförderung), während und weil Ingenieurwissenschaftler und Mediziner praktisch nicht mehr vertreten sind. Alles in allem wird in Deutschland also weniger als die Hälfte, oder, wenn man nur die Studienstiftung einbezieht, ein Viertel dessen in die Elitestudentenförderung investiert, was in Frankreich den normaliens zukommt.
[7] Die folgende Bemerkung stellt die Integration eines Punktes der Diskussion des Beitrags auf der Berliner Tagung dar.
[8] Für Frankreich ist die klassische Studie: Pierre Bourdieu: Homo academicus, Paris 1984, insbesondere 52-96 für die prä-universitären Faktoren sozialer Privilegierung.
[9] Reformen sind hier geplant, zumindest nach der Verlautbarung der 'États généraux de la recherche': http://cip-etats-generaux.apinc.org/IMG/pdf/synthese-finale- EG.pdf .
[10] So mir gegenüber im mündlichen Austausch.
[11] Vgl. u.a. dazu demnächst Claire Gantet: 'Une affaire d’aristocratie spirituelle'? L'université allemande aujourd'hui, in: Temps modernes [vorauss. 2005].
[12] 'Bachelor' wurde nicht übernommen wegen der Verwechslungsgefahr mit der Abiturbezeichnung 'baccalauréat'. Dann zögerte man zwischen den schon existierenden Grad-Bezeichnungen 'magistère' und 'mastère', dann wurde 1999 der neue Titel mit der Orthographie 'mastaire' geschaffen, die Aprildekrete 2002 hingegen kapitulierten schließlich vor der Globalisierung und setzten nun zähneknirschend die 'orthographie 'master' peu francophone mais plus limpide internationalement' nach englischer Schreibweise fest, wie es die Dekret-Präambel formuliert.
[13] Vgl. http://www.univ-valenciennes.fr/formations/licence/histoire. html .
[14] Vgl. in diesem Sinne Gérald Chaix: Faire des recherches sur la Renaissance après l’an 2000. La formation des chercheurs, in : Max Engammare (Hg.) : L’étude de la Renaissance. nunc et cras: actes du Colloque de la Fédération Internationale des Sociétés et Instituts d'Etude de la Renaissance (FISIER), Genève, septembre 2001, Genf 2003, 29-43.
[15] Vgl. zum Projekt die Homepage http://www.cesr.univ-tours.fr/enseignement/Master/index.asp sowie die Projektvorstellung von Marie-Luce Demonet von Januar 2004 unter http://www.amue.fr/Publications/Publication.asp?Id=293 .

Autor:
Dr. des. Cornel Zwierlein
Historisches Seminar
Abt. Frühe Neuzeit der LMU München
Geschwister-Scholl-Platz 1
80539 München
cornel.zwierlein@lrz.uni-muenchen.de

Empfohlene Zitierweise:

Cornel Zwierlein: Beispiel Frankreich: Der Bologna-Prozess im Nachbarland, in: zeitenblicke 4 (2005), Nr. 1, [09.03.2005], URL: <Bitte fügen Sie hier aus der Adresszeile des Browsers die aktuelle URL ein.>

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