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Die Religionsgeschichte der Neuzeit weist keine kontinuierliche und in sich homogene Entwicklung auf – das ist das Ergebnis vor allem religionssoziologischer und religionswissenschaftlicher Forschung seit den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Die religiöse Szenerie der Moderne, also des 19. und 20. Jahrhunderts, zerfällt nach der Durchsetzung staatlich garantierter Religionsfreiheit in ein breites und weitgehend undefiniertes Spektrum 'privater' Religiosität, auch mit dem Stichwort der 'Unsichtbaren Religion' gekennzeichnet. Dabei war immer klar, dass das Wegfallen des Zwangs zur Kirchenzugehörigkeit und der staatlichen Durchsetzung der Verpflichtung auf eine der christlichen Konfessionen nicht die Ursache dieser Entwicklung war – die Säkularisierung der staatlichen Rahmenbedingungen war vielmehr selbst Folge einer geistes- und gesellschaftlichen Neuorientierung, die sich im 18. Jahrhundert vollzog und als Prozess der Aufklärung verstanden wird.

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Die hallesche Forschergruppe, die im Mai 2004 ihre Arbeit aufgenommen hat, untersucht in religionsgeschichtlicher Perspektive Ursachen, Grundkonstellationen und Bestimmungsfaktoren dieser Entwicklung im 18. Jahrhundert und analysiert sie an ausgewählten Themen. Um dem Terminus 'Aufklärung' eine forschungsrelevante Bezugsgröße gegenüberzustellen, wurde der Sammelbegriff der 'Esoterik' gewählt, der verschiedene einschlägige Strömungen wie etwa rosenkreuzerische, theosophische und freimaurerische Bewegungen oder naturphilosophisches, alchemistisches und magisches Denken, unter einem Stichwort integriert. Der Esoterikbegriff spielt nicht nur in der gegenwärtigen religionswissenschaftlichen Forschung eine zunehmend wichtige Rolle, sondern indiziert auch die Fragerichtung auf die religiösen Konstellationen unserer modernen Gesellschaft. Die Gruppe versteht den Esoterikbegriff allerdings auch als Indikator heterodoxer frühneuzeitlicher Bewegungen, so dass die Aufklärung mit ihren spezifischen Protagonisten und Interessen in einen neuzeitlichen Gesamtrahmen hineingestellt wird. Wesentliche Grundfragen lauten also: Wie ist der Zäsurcharakter des 18. Jahrhunderts zwischen Früher Neuzeit und Moderne zu verstehen? Welche Elemente älterer esoterischer Bewegungen begegnen in den Diskursen der 'Gesellschaft der Aufklärer', wie werden sie in der Formierung neuer Ideen und Grundauffassungen adaptiert oder verändert? Welches Innovationspotential wird aus esoterischen Kontexten entfaltet? Wo gehen die Tendenzen der Aufklärung über religiöse Orientierungen hinaus – im Sinne konsequenter Säkularisierung? Welche Rolle spielen die aufgeklärten Neuorientierungen des Christentums in diesem Prozess? Derartige Problemstellungen sind Leitlinien der Rahmenthematik, die die Teilprojekte in ihren je eigenen Fragestellungen miteinander verbinden und aufeinander beziehen sollen.

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Die Bearbeitung der Einzelstudien ist disziplinbezogen ausgerichtet und umfasst philosophiehistorische, theologisch-religionswissenschaftliche, germanistische und geschichtswissenschaftliche Zugänge. Historiker bearbeiten zwei Längsschnittstudien, die den Forschungsstandort Halle als religionsgeschichtlichen Ort des 18. Jahrhunderts thematisieren. Die drei anderen Projekte sind jeweils auf einen Autor bzw. auf Reaktionen zu dessen Werk bezogen: So wird die 'esoterische Aneignung' der Aufklärungsphilosophie von Christian Wolff untersucht, Emanuel Swedenborg als Zentralfigur esoterischer Bewegungen im 18. Jahrhundert vor allem daraufhin näher betrachtet, welche Verbindungen zum Aufklärungsdiskurs bestehen, und Johann Georg Hamann in die Spannung zwischen Esoterik und Christentum der Spätaufklärung hineingestellt. Gerade dieses Spannungsgefüge leitet auch wesentlich die geschichtswissenschaftlichen Teilprojekte, die sich mit den Beziehungen zwischen Pietismus und Aufklärung bzw. Neologie, Deismus und freimaurerischer Esoterik befassen.

Monika Neugebauer-Wölk

Die Einzelprojekte

Esoterik – Pietismus – Frühaufklärung: Halle um 1700

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An der neu gegründeten Universität Halle kam es bald zu einer für die Geistesgeschichte des deutschen 18. Jahrhunderts äußerst folgenreichen Konfrontation zwischen Frühaufklärung und Pietismus. Nach der Bestallung von Christian Thomasius (1655-1728) an der 1688 entstandenen Ritterakademie entwickelte sich Halle zu Beginn der 1690er Jahre rasch zu einem Fluchtpunkt der pietistisch geprägten Heterodoxie, die großen Einfluss auf die sich formierende Universität nahm. Mit Justus Joachim Breithaupt (1658-1732) und August Hermann Francke (1663-1727, zunächst Professor für orientalische Sprachen) wurden schon 1692 zwei pietistische Theologen an die zwei Jahre später in ihren Statuten bestätigte Fridericiana berufen, was zunächst vorwiegend zu Konflikten mit der lutherischen Stadtgeistlichkeit führte. Noch vor 1700 entwickelte sich jedoch auch innerhalb der Universität eine sich verhärtende Frontstellung zwischen den Anhängern des Pietismus und der vor allem von Juristen und Historikern ausgehenden Frühaufklärung. Im Zentrum dieser Konstellation standen mit Thomasius und Francke zwei ehemalige Weggefährten, die fortan über mehr als zwei Jahrzehnte erbitterte Feindschaft pflegten und sich erst kurz vor beider Lebensende aussöhnten.

Abb. 1

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In Abgrenzung zur bisherigen Forschung geht das Projekt von der Grundannahme aus, dass der Konflikt zwischen Frühaufklärung und Pietismus durch die Einbeziehung eines Dritten, nämlich des breiten esoterischen Diskurses der Zeit um 1700, neu verstanden und eingeordnet werden kann. Der teilweise unübersichtliche Verlauf der Bruchlinien und die Vehemenz der Debatten werden überhaupt erst verständlich, wenn man die Entzweiung von Frühaufklärung und Pietismus wie diejenige von Thomasius und Francke vor dem Hintergrund der gleichzeitigen Auseinandersetzung mit Inhalten und Positionen betrachtet, die der neuzeitlichen Esoterik zuzurechnen sind. Dazu zählen insbesondere die Anverwandlung der Theosophie im Pietismus, die auch den Rahmen für Thomasius' "Erweckungserlebnis" von 1693 abgibt, die Auseinandersetzung mit der älteren Magielehre, die Thomasius zum Gegner der Hexenprozesse werden lässt und seine Abkehr vom Pietismus motiviert, sowie die innovative Aneignung rosenkreuzerischer und alchemistischer Traditionen des 17. Jahrhunderts in den Einrichtungen des halleschen Waisenhauses. Auch darüber hinaus lassen sich weitere Elemente und Formen des esoterischen Diskurses in Halle verorten, unter anderem in den von Nikolaus Hieronymus Gundling (1671-1729) und Johann Franz Budde (1667-1729) zwischen 1700 und 1705 herausgegebenen Observationes selectae, einer Sammlung von Schriften hallescher Professoren, in der neben dem Streit der beiden Herausgeber um die Kabbalah weitere Abhandlungen esoterisch-hermetischen Inhalts erschienen.

Abb. 2

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Die Schwerpunkte der Projektarbeit liegen somit auf zwei Ebenen: einer personengeschichtlich-prosopographischen sowie einer diskursgeschichtlich-textanalytischen. Ziel des Projektes ist es, durch eine Analyse der Überschneidungen von esoterischem und aufklärerischem Diskurs die Rolle esoterisch-hermetischer Elemente und Denkfiguren bei der Entwicklung der Frühaufklärung näher zu bestimmen. Dies wird zugleich auch die viel zitierte Affinität zwischen Pietismus und Aufklärung in ein neues Licht rücken und damit besser verständlich werden lassen. Ein gleiches gilt für die personellen Konstellationen am Standort Halle um 1700.

Markus Meumann

"Esoterik im Wolffianismus. Tradierungen spekulativer Theoreme im Rahmen des Diskurses der physischen Monadologie"

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Die Philosophie Christian Wolffs gilt als Prototyp der rationalistischen deutschen Aufklärung. Es mag daher verwundern, wenn der Wolffianismus mit dem Begriff der neuzeitlichen Esoterik' in Verbindung gebracht wird. Und doch hat es einen solchen Zusammenhang nachweislich gegeben: Zwischen 1730 und 1770 verfasst eine kleine Gruppe von Wolffianern Schriften mit dem erklärten Anspruch, das philosophische System Wolffs mit der Weisheit der Alten ('prisca sapientia') zu vermitteln. Bisher hat die Forschung diesen Zusammenhang kaum wahrgenommen, bereits den zeitgenössischen Historikern des Wolffianismus war er ein Dorn im Auge und passte nicht in das gewünschte Bild. Insofern gehört es zu den Zielen des Projektes, einen blinden Fleck in der Selbstwahrnehmung des Wolffianismus zu beleuchten.

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Die bisherige Projektarbeit führte zu der Beobachtung, dass die Abweichungen vom orthodoxen Wolffianismus zugunsten der Aufnahme hermetischer, zoroastrischer oder pythagoreischer Theoreme bevorzugt in den folgenden Kontexten stehen: 1) im Kontext der Monadenstreitigkeiten und der sogenannten 'physischen Monadologie', deren Vertreter den Leibniz-Wolffschen Monadenbegriff auf reale physikalische Probleme anzuwenden suchen; 2) im Kontext der zeitgenössischen Seelenwanderungsvorstellung mit den verwandten Topoi Unsterblichkeit, moralische Vervollkommnung und Apokatastase; 3) im Kontext der so genannten 'Quadratur des Kreises', also der Infinitesimalrechnung und des Ringens um eine Darstellung der Zahl Pi, und 4) im Kontext einer Philosophie als Weltweisheit und Aufklärung durch eine "vernünftige Metaphysik".

Abb. 3

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Die Motive für die Ausbildung dieser esoterischen Devianzen sind vielfältig und zum Teil gegenläufig; sie bedürfen daher der Darstellung am Einzelfall. Grundsätzlich geht es den Autoren darum, die metaphysische Abstinenz wie auch die Unverständlichkeit der zeitgenössischen Mathematik zu kritisieren; sie wollen die Wissenschaften ihrer Zeit popularisieren wie auch die Sinn- und Erklärungsdefizite des Rationalismus und Mechanizismus einklagen.

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Das Projekt widmet sich innerhalb der Forschergruppe der dezidiert philosophischen Perspektive aufklärerischer Esoterik. Es sollen die Strategien, Zielsetzungen und Einflussfaktoren der esoterischen Transformationen der Wolffschen Philosophie unter geistesgeschichtlichen wie auch philosophisch-systematischen Gesichtspunkten rekonstruiert werden. Methodisch wird ein dreifacher Ansatz verfolgt: in mikrohistorischer Perspektive werden die institutionellen Kontexte untersucht, die die Konfrontation von Wolffianismus und Esoterik ermöglicht oder gar provoziert haben. In ideen- und begriffsgeschichtlicher Absicht erfolgt eine Identifizierung der Textcorpora und Traditionsstränge, die von der aus dem Wolffianismus hervorgehenden Esoterik philosophisch vereinnahmt werden. Unter systematischem Blickwinkel werden die esoterisch-dissidenten Entwürfe schließlich auf ihre immanente Plausibilität geprüft und an ihrem Anspruch gemessen, die Defizite des Wolffschen Lehrsystems, auf die sie Reaktionen sind, zu kompensieren.
Karin Hartbecke hat das Projekt bis Ende September 2005 betreut. Seit Oktober 2005 führt Hanns-Peter Neumann die Projektarbeit weiter.

Karin Hartbecke, Hanns-Peter Neumann

Emanuel Swedenborgs Stellung innerhalb der aufklärerischen und esoterischen Diskurse des 18. Jahrhunderts

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Emanuel Swedenborg (1688-1772) war einer der führenden Naturforscher des 18. Jahrhunderts, dessen umfangreiche wissenschaftliche Publikationen, unter anderem mathematisch-physikalischer, mineralogischer, philosophischer und psychologischer Natur, fest in den europaweiten "naturwissenschaftlichen" und philosophischen Diskursen verankert waren. Mit 56 Jahren hatte Swedenborg zwei Christusvisionen, in deren Folge er seine bisherigen Forschungen abbrach und sich nun nur noch mit theologischen Fragestellungen und der Auslegung der Offenbarungen befasste, die den Visionen seines intensiven Kontakts mit der Geisterwelt entstammten.

Abb. 4

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Das gewaltige Schrifttum, das hieraus entstand, wurde schon im 18. Jahrhundert stark rezipiert, etwa von Friedrich Christoph Oetinger, Johann Caspar Lavater und Johann Wolfgang von Goethe, wenngleich das Verdikt Immanuel Kants über Swedenborg, das dieser in den "Träumen eines Geistersehers" aussprach, eine nachhaltige Wirkung nach sich zog und Swedenborgs wissenschaftliches und theologisches Werk fortan aus der aufklärerischen Tradition ausschloss. Für die esoterische Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts besaß Swedenborg eine geradezu fundamentale Bedeutung. Bei der Entstehung des neuzeitlichen Okkultismus wird ihm die Rolle eines Geburtshelfers zugesprochen. Swedenborg markiert offenbar nicht nur einen Paradigmenwechsel innerhalb der Geschichte der Esoterik. Möglicherweise zeigt sich bei ihm erstmals der spezifisch "esoterische" Versuch, das sich zuspitzende Verhältnis zwischen Theologie und Naturwissenschaft, zwischen Glaube und Vernunft, durch okkulte Jenseitsschau neu zu bestimmen.

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Trotz einer umfangreichen Beschäftigung von Wissenschaftlern und Anhängern mit seinem Werk steht die angemessene Einordnung Swedenborgs in die Geistesgeschichte des 18. Jahrhunderts noch aus. So hat die Forschung bisher nur ansatzweise geklärt, welche Rolle Swedenborg im zeitgenössischen esoterischen Diskurs spielte und aus welchen esoterischen Traditionen er schöpfte. Dies betrifft auch sein Verhältnis zur Aufklärung und deren Vorgeschichte. Auch der aufklärerische Diskurs über Swedenborg als Geisterseher wird im Rahmen des Projekts betrachtet. Hat die auf Kant zurückgehende Ablehnung speziell seiner visionären Weltsicht gegenüber nicht nur zur Trennung der Aufklärung von der Esoterik, sondern umgekehrt auch zur Entwicklung des aufklärerischen Rationalitätsbegriffs und zum Bruch mit einer spekulativen Philosophie geführt, auf deren Boden Swedenborgs Visionen entstanden waren? Zwischen seinem theologisch-visionären Werk und seinen vorvisionär-naturwissenschaftlichen Denkstrukturen, die eine Kombination aus zeitgenössischen philosophischen, esoterischen und theologischen Ansätzen darstellen, lässt sich immerhin eine erhebliche Kohärenz feststellen. Kann man im Falle Swedenborgs von "aufgeklärter Esoterik" sprechen? Schließlich wird Swedenborg in die Theologie- und Kirchengeschichte des 18. Jahrhunderts einzuordnen sein. Nicht nur sein Werk wurde in pietistischen Kreisen zeitweise positiv rezipiert, er selbst hat in den aktuellen theologischen Debatten in einem esoterisch-visionären Rahmen teils aufklärerische, teils "orthodoxe" Positionen bezogen und ist trotz mancher Konflikte immer Glied der schwedischen lutherischen Staatskirche geblieben.

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Diese verschiedenen Perspektiven müssen zusammengeführt werden, um Swedenborg diskursiv in seiner Zeit zu verorten und zudem der Frage nachzugehen, ob sich in seiner Person und in der Reaktion seiner Zeitgenossen auf ihn ein Beleg für die These findet, dass die moderne Esoterik ein (Neben-) Produkt der Aufklärung selbst ist.

Friedemann Stengel

Johann Georg Hamanns Ästhetik im Bezugsfeld von Aufklärung, Christentum und Esoterik

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Der Königsberger Zollamtsverwalter und Publizist Johann Georg Hamann (1730-1788) erwarb sich mit Veröffentlichungen wie den 'Sokratischen Denkwürdigkeiten' (1759) und den 'Kreuzzügen eines Philologen' (1762) bei seinen Zeitgenossen den Ruf eines esoterischen Schwärmers und den Beinamen eines 'Magus in Norden'. In seinem Werk verdichten sich die Schwierigkeiten bei der Konstruktion eines kohärenten Epochenbilds Aufklärung auf exemplarische Weise.

Abb. 5

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In älteren historiographischen Entwürfen wurde Hamann als Gegenaufklärer oder Irrationalist verstanden, dabei nicht selten (bis heute) als Vorläufer und Wegbereiter des Sturm und Drang und der Romantik aus der Epoche hinausverwiesen. Im Zuge der seit etwa 25 Jahren unter wechselnden Stichworten (Empfindsamkeit, Rehabilitierung der Sinnlichkeit, ganzheitliche Anthropologie) sich durchsetzenden Korrekturen am historischen Aufklärungsbegriff sind solche Zuschreibungen obsolet geworden, scheint der religiöse Sensualist Hamann allmählich als Zeitgenosse entdeckt zu werden und sogar als 'radikaler Aufklärer' (O. Bayer) firmieren zu können.

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Gleichwohl wird man ihn vor allem als Kritiker der philosophischen Leitideen seiner Zeit wahrzunehmen haben – sei es des Wolffianischen Rationalismus, sei es des Skeptizismus Humes oder der Aporien des Rousseauschen Naturbegriffs – als christlichen Esoteriker mit neuplatonischen und kabbalistischen Einflüssen, als Vertreter (oder Solitär) einer mit obskurantistischem Nachdruck inszenierten, dabei modern anmutenden performativen Ästhetik, mit der Hamann absichtlich gegen die stilistischen und argumentativen Zeitkonventionen verstößt und sich als Esoteriker geriert. Blickt man auf seine eigentümliche Stilistik und Ästhetik – und dies gehört zu den vordringlichen Aufgaben des literaturwissenschaftlichen Teilprojekts innerhalb der Forschergruppe – so ist Hamann mit Herder durchaus einer der "Dunkelmänner" (H.-G. Kemper) in seiner Epoche.

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Die Spannung zwischen Aufklärung, Christentum und Esoterik bildet eine zentrale Fragestellung des Projekts: War Hamann als Apologet der Offenbarungsreligion zugleich Aufklärer? Wie verhalten sich dazu seine Interessen an esoterischen Traditionen: an jüdischer Mystik, ägyptischen Mysterien, neuplatonischer Kosmologie, die mit Christentum wie Aufklärung gleichermaßen zu kollidieren scheinen? Welche Folgen hat diese Konstellation, wenn alle drei ihrer Komponenten wirklich ernst genommen werden, für das Epochenbild? Wie ist umgekehrt Hamann, der mit Herder und Kant, Mendelssohn und Nicolai, Lavater, Claudius und Jacobi in Kontakt stand und sich an den Debatten seiner Zeit (Sprachursprung, Fragmentenstreit, Spinozismus) intensiv beteiligte, als Akteur in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts angemessen zu positionieren?

Andre Rudolph

Das 'Vernünftige Christentum' im Spannungsfeld esoterisch-masonischer Entwicklung: Halle 1740 – 1800

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Halle ist auch in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in paradigmatischer Weise geeignet, die Ambivalenz unterschiedlicher religionshistorischer Strömungen in der Aufklärung zu beleuchten. Auf der einen Seite war die Fridericiana bestimmt von der Entwicklung der aufgeklärten Theologie, der Neologie. Auf der anderen Seite organisierten sich in der freimaurerischen Szene der Stadt esoterische Bewegungen; sie bildeten einen zweiten religionshistorischen Kontext. Diese beiden neu entstehenden und auf den ersten Blick so gegensätzlichen Konzepte mussten sich in der Realität religions- und gesellschaftspolitischer Auseinandersetzungen behaupten. Das Projekt befasst sich mit den politischen und den religions- und geistesgeschichtlichen Zusammenhängen sowie den religiösen Entwürfen zwischen Esoterik und Aufklärung.

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Äußerer gesellschaftshistorischer Rahmen der Untersuchung ist die Szenerie freimaurerischer Vereinigungen. Im privaten Raum der Logen organisierten sich weite Teile des gelehrten Milieus der Stadt, darunter zunächst hauptsächlich Studenten, in zunehmendem Maße aber auch Privatdozenten und Professoren. Die Mitglieder der Logen gehörten weit überwiegend der Universität an, insbesondere der Juristischen Fakultät, erst darüber hinaus der Medizinischen und der Philosophischen; hierzu wird ein prosopographischer Überblick erstellt. Warum die akademische Bürgerschaft mit der Gesellschaft der Freimaurer so ungleichmäßig verwoben war, wird auf sozial- und religionshistorische Bedingungen hin untersucht; damit wird zugleich ein erster Grund für eine religionshistorische Perspektive auf die Geschichte der Freimaurerei in Halle gelegt. Die hallesche Freimaurerei wie die Freimaurerei im deutschsprachigen Raum insgesamt entwickelte sich seit ihren Anfängen in den 1740er Jahren unter dem Einfluss differierender und sich differenzierender masonischer Systeme. Für das Forschungsprojekt ist daher die Beantwortung der Frage, welchen Observanzen sich die Logen anschlossen und welches die dabei maßgeblichen Führungsfiguren waren, ebenso wichtig wie die Herausarbeitung der religiösen Konzepte, die mit den verschiedenen Systemen verknüpft waren.

Abb. 6

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Im Hinblick auf die Herausbildung der halleschen Neologie stehen Leben und Werk bedeutender Vertreter wie Johann Salomo Semler und Karl Friedrich Bahrdt im Mittelpunkt der Studie. Vorrangiges Ziel ist es dabei, die textanalytische Methode im Blick auf die einschlägigen Werke zu korrelieren mit der gesellschaftsgeschichtlichen Perspektive. Außerdem hatte der Konflikt um die theologische Definitionshoheit für die Neologen ebenso wie für ihre Widersacher eine politische Dimension: Politische und andere öffentliche Institutionen wie der preußische Staat und die Universität Halle griffen entweder selbst in die Entwicklung ein oder sie wurden von den Konfliktparteien instrumentalisiert.

Renko Geffarth

Abbildungen

Abb. 1
Christian Thomasius (1655-1728). Porträt von Johann Christian Heinrich Sporleder. (Zentrale Kustodie der Martin-Luther-Universität Halle Wittenberg)

Abb. 2
Johann Franz Budde: Defensio cabbalae ebraeorum, in: Observationum selctarum ad rem litterariam spectantium, tomus I, Halle (Renger) 1700.

Abb. 3
Tetraktys, aus: Sigmund Ferdinand Weißmüller: L’analyse des êtres simples et réelles, ou la Monadologie de feu Msr. Baron de Leibnitz demasquée et l’idealisme renversé, Nürnberg 1736. Ausklappbare Abb. zu S. 18. (Universitätsbibliothek Erlangen)

Abb. 4
Emanuel Swedenborg (1688-1772), aus: en:Wikipedia14:57, 19 Mar 2004 .. Magnus Manske (http://commons.wikimedia.org/wiki/Image:Emanuel_Swedenborg2.jpg), [29.03.2006].

Abb. 5
Johann Georg Hamann (1730-1788), (http://members.aol.com/agrudolph/jghamann.htm), [29.03.2006].

Abb. 6
Andreas Weber, Mitglied der ersten halleschen Freimaurerloge, war Privatdozent der Philosophie an der Universität Halle. Mit seinen Schriften griff er jedoch vornehmlich theologische Gegenstände auf, wie der hier abgebildete Titel zeigt. (Universitätsbibliothek Kiel)

Autoren:

Prof. Dr. Monika Neugebauer-Wölk
Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
Interdisziplinäres Zentrum für die Erforschung der Europäischen Aufklärung
Franckeplatz 1, Haus 54
06110 Halle
monika.neugebauer-woelk@izea.uni-halle.de

Dr. Markus Meumann
markus.meumann@izea.uni-halle.de

Dr. Karin Hartbecke
karin.hartbecke@gwlb.de

Dr. Hanns-Peter Neumann
hanns-peter.neumann@izea.uni-halle.de

Dr. Friedemann Stengel
friedemann.stengel@izea.uni-halle.de

Dr. Andre Rudolph
andre.rudolph@izea.uni-halle.de

Dr. Renko Geffarth
renko.geffarth@izea.uni-halle.de

Empfohlene Zitierweise:

Monika Neugebauer-Wölk / Markus Meumann / Karin Hartbecke / Friedemann Stengel / Andre Rudolph / Renko Geffarth : DFG-Forschergruppe "Die Aufklärung im Bezugsfeld neuzeitlicher Esoterik". Interdisziplinäres Zentrum für die Erforschung der Europäischen Aufklärung Universität Halle-Wittenberg , in: zeitenblicke 5 (2006), Nr. 1, [04.04.2006], URL: https://www.zeitenblicke.de/2006/1/IZEAProjektbericht/index_html, URN: urn:nbn:de:0009-9-2741

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