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Promotion 1969 an der Sorbonne mit einer Arbeit über den deutschen christlichen Theosophen Karl von Eckartshausen (1752-1803).

1973 Standardwerk zur Geschichte der Esoterik des 18. Jahrhunderts in Frankreich und Deutschland.

1972 bis 1985 Professor an der Universität Bordeaux III (Chair de littérature et pensée germaniques).

1985 bis 1991 Professor an der Universität Rouen.

Seit 1979 (und bis 1991 parallel) Inhaber des Lehrstuhls für Esoterikforschung an der École Pratique des Hautes Études Paris. Professor Emeritus an der EPHE seit 2001.

1986 und 1996: Gesammelte Studien (Accès de l'ésotérisme occidental).

Mitherausgeber der Zeitschrift 'Aries. Journal for the Study of Western Esoterism' - Amsterdam / Paris.

Kurzinformation über den Forschungsansatz Faivres in deutscher Sprache: "Esoterik im Überblick", Freiburg / Basel / Wien 2001.

Gesprächspartner
 

 

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Herr Faivre, Sie waren von 1979 bis 2001 Professor für "Histoire des courants ésotériques et mystiques dans l'Europe moderne et contemporaine" am Religionswissenschaftlichen Institut der Sorbonne. Können Sie uns kurz schildern, wie es zur Etablierung eines solchen ungewöhnlichen Arbeitsgebietes gekommen ist? Ihr Lehrstuhl war ja weltweit der erste, der zu diesem Thema eingerichtet wurde.

Es geht um eine ziemlich komplizierte, aber auch interessante Geschichte! Ich will sie so kurz wie möglich zusammenfassen. Im Jahre 1964 war an der 'Ecole Pratique des Hautes Etudes', an deren 'Section des Sciences Religieuses', ein Lehrstuhl frei geworden, und es gab keinen guten Kandidaten, dessen Fachgebiet der bisherigen Denomination entsprochen hätte. So musste eine neue Zuordnung gefunden werden. Es traf sich, dass viele Kollegen dieser Sektion (jeder von ihnen hat ein Wahlrecht) den Wunsch hegten, François Secret als Kollegen zu haben. Nachdem klar wurde, dass er wahrscheinlich die Mehrheit der Stimmen erhalten würde, überlegten sie, welche Denomination dazu passen würde. Secret hatte vorwiegend über die 'Christliche Kabbala' gearbeitet, aber dieses Gebiet war zu begrenzt, als dass eine solche Zuordnung in Frage gekommen wäre. Nach vielen Diskussionen sagte der Orientwissenschaftler Henry Corbin: "Aber dies ist Esoterik! Also müsste das Wort 'Esoterik' im Titel stehen". Danach beschlossen die Kollegen, dem Lehrstuhl den Titel "Histoire de l'Esotérisme chrétien" zu geben. Secret wurde gewählt, war jedoch, wie sich herausstellen sollte, bis zum Ende seiner Tätigkeit nicht sehr zufrieden damit, weil er sich nicht mit dem von Corbin favorisierten Begriff 'Esoterik' anfreunden konnte. Er hatte keine Lust dazu, auf dieser Basis ein neues Fachgebiet zu begründen.

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Nachdem Secret 1979 in den Ruhestand gegangen war, beschlossen die Mitglieder der Sektion, den Begriff 'Esotérisme' beizubehalten, aber im Plural und in seiner Adjektivform. Da sich jedoch bereits abzeichnete, dass nur zwei Kandidaten für die Wiederbesetzung des Lehrstuhls in Frage kamen, entweder Herr X oder ich, und da Herr X mehr über Mystik als über Esoterik gearbeitet hatte, so führten sie dieses Wort zusätzlich in die Denomination ein, und letztere hieß nun: "Histoire des courants ésotériques et mystiques dans l'Europe moderne et contemporaine" (mit der Zeitangabe ist im Französischen die Periode vom Ende des 15. bis zum Ende des 20. Jahrhunderts gemeint). Ich wurde also Secrets Nachfolger mit dieser neuen Lehrstuhlbezeichnung.

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Erst in der Mitte der achtziger Jahre, vor allem ab 1990, bin ich auf die Idee gekommen, auf der Basis dieses Titels ein neues, systematisch begründetes Fachgebiet zu entwickeln; schon wenige Jahre später sollte es weltweite akademische Anerkennung finden.

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Als 2002 mein Nachfolger gesucht wurde, bewog ich die Sektion dazu, den Begriff 'mystique' wieder aus der Denomination herauszunehmen, die nun lautet: "Histoire des courants ésotériques dans l'Europe moderne et contemporaine". Jean-Pierre Brach ist mein Nachfolger. Da ich gleichzeitig zum Emeritus ernannt wurde, lehre ich weiter an der Sektion und bin immer noch der Doktorvater einiger Doktoranden.

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Warum ist es aus Ihrer Sicht wichtig, zu einer solchen Systematisierung einschlägiger Bewegungen zu kommen und sie unter einem Stichwort zusammenzufassen? Warum bleiben wir nicht dabei, die einzelnen Teilströmungen in getrennten Kontexten zu untersuchen, wie das früher Standard war und auch heute noch häufig der Fall ist?

Jeder Verfasser einer wissenschaftlichen Arbeit über einen Autor oder eine Strömung, die der 'Esoterik' in unserem Sinne zuzurechnen sind (zum Beispiel Paracelsus, Swedenborg oder die Alchemie im 17. Jahrhundert), kann mit gutem Recht meinen, es sei dabei nicht vonnöten, den Begriff der 'Esoterik', der ihm übrigens verdächtig vorkommen mag, auch nur zu erwähnen. In der Tat kommt es häufig vor, dass einige der besten einschlägigen Arbeiten nicht von Esoterikforschern verfasst wurden, sondern von Fachleuten verschiedenster Gebiete.

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Natürlich sind auch solche Arbeiten der Weiterentwicklung unseres neuen Fachgebiets förderlich. Das Entscheidende ist aber, dass die Zusammenfassung dieses Forschungsfeldes unter einem Begriff dazu dienen kann, auf zahlreiche lange vernachlässigte Bereiche der abendländischen Kultur aufmerksam zu machen. Als Historikerin befassen Sie sich unter anderem mit der Geschichte der Freimaurerei, und Sie haben gezeigt, dass es fruchtbar ist, sie unter neuen, nicht bloß sozialgeschichtlichen Blickwinkeln zu erforschen, sondern auch anhand einiger von den Esoterikforschern vorgeschlagenen Fragestellungen.

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Was hat Sie dazu bewogen, den Begriff 'Esoterik' zu historisieren und auf die Religionsgeschichte der Neuzeit anzuwenden?

In Ihrer Frage würde ich zunächst 'Begriff' durch 'Wort' ersetzen, da letzteres verschiedene Bedeutungen haben kann, je nach den Kenntnissen und Vorlieben derjenigen, die es benutzen. Man kann zeigen, dass also dieses Wort (das erstmals in der französischen Sprache nachweisbar ist, und zwar im Jahr 1828) heute in der breiten Öffentlichkeit in vier verschiedenen Kontexten verwendet wird, die sich zum Teil auch miteinander überschneiden: Erstens ist 'Esoterik' die Bezeichnung einiger Regale in den Buchhandlungen. Da findet man alles: Ufologie, Channeling, New Age, Astrologie, Kabbala, fernöstliche Religionen, Tarot, Transzendentale Meditation, Praktische Magie usw. Zweitens bezeichnet das Wort Lehren oder Phänomene, von denen behauptet wird, sie würden absichtlich geheim gehalten (so verfährt zum Beispiel Dan Browns 'Da Vinci Code'). Das ist häufig synonym mit der strikten Unterscheidung zwischen Initiierten und Profanen. Drittens verweist das Wort 'Esoterik' auf eine Vorstellung, nach der allen Dingen ein Mysterium innewohnt; so ist die Natur voller Geheimnisse, die sie verbirgt. Die Aufgabe des Esoterikers ist es, diese okkulten Signaturen zu entziffern, die Mysterien auf spirituelle Weise zu enthüllen. Die Durchdringung dieser Geheimnisse gilt als ein hermeneutisches Verfahren oder auch als eine gelebte Erfahrung, die eine Art höherer Erkenntnis ('Gnosis') vermittelt. Viertens und letztens verweist das Wort auf die Vorstellung, nach der es einen universalen Bedeutungszusammenhang gibt; manche nennen dies eine Traditionskette, die durch die Zeiten läuft, deren einzelne Elemente gleichermaßen auf eine Wahrheit höherer Ordnung verweisen.

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In den meisten Fällen wird das Wort 'Esoterik' in mindestens zwei dieser Bedeutungen verwendet, es ist also in seinem öffentlichen Gebrauch vielfach besetzt, durchlässig und semantisch überdeterminiert. Auch aus seiner Etymologie ist kein spezieller Nutzen zu ziehen. Deshalb galt es, aus all diesen Zusammenhängen und Diskursen das herauszufiltern, was es erlauben kann, ein mögliches Forschungsgebiet abzustecken. Es sollte eine historische Konstruktion sein, bei der jede Art von Essentialismus vermieden würde. Anders gesagt: Sich zu fragen, worin die 'wahre' Natur von Esoterik besteht, hieße, sich auf philosophische bzw. ideologische Vorgaben zu beziehen. Deshalb durfte man in keinem Fall von der Frage ausgehen, was Esoterik 'an und für sich' sei − etwas Derartiges gibt es nicht. Trotzdem hielt ich es nicht für richtig, ein neues Wort zu kreieren; ich behielt es vielmehr als historisch verstandene Konstruktion bei, die deshalb Sinn macht, weil die einschlägigen Strömungen eine gewisse Familienähnlichkeit aufweisen. Daher schien es mir vor allem notwendig, mich auf ein geographisch und epochenspezifisch definiertes Gebiet zu beschränken, in dem diese 'Familienähnlichkeiten' auftreten. Und so verstand ich unter 'Esoterik' eine gewisse Anzahl westlicher Geistesströmungen und/oder Traditionen seit der frühen Neuzeit, die meiner Überzeugung nach ein Ganzes bilden. Warum seit der frühen Neuzeit? Weil sich seit der Renaissance ein eigenständiger geistiger Entwurf konstituierte, der wie ein außertheologischer Modus zu fungieren begann, um das Universale mit dem Partikularen zu verbinden. Dabei waren die entsprechenden Schnittstellen weit mehr von Spekulationen kosmologischer als metaphysischer Art besetzt. Dieser Bereich ist mit dem Beginn neuzeitlichen Denkens eng verwandt bzw. dessen spezifisches Produkt. Seitdem haben die einzelnen Strömungen dieses Gesamtzusammenhanges zahlreiche Veränderungen und Brüche erlebt, eine Entwicklung innerhalb des Kontextes der christlichen Kultur, wovon sie ein wesentlicher, von der Forschung lange vernachlässigter Teil sind.

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Es handelt sich im Wesentlichen um folgende Strömungen: Das seit dem Ende des 15. Jahrhunderts neu erwachende Interesse an der so genannten hermetischen Literatur (die Bezeichnung leitet sich von griechischsprachigen Texten des 2. und 3. nachchristlichen Jahrhunderts ab, die dem legendären Hermes Trismegistos zugeschrieben wurden). Die Christliche Kabbala. Die okkulte Philosophie der Renaissance. Die Alchemie, insofern sie als eine Form der Meditation und höherer Erkenntnis verstanden wird. Die spekulative Astrologie. Der Paracelsismus (die Naturphilosophie des Paracelsus und seiner Nachfolger). Das Rosenkreuzertum und seine zahlreichen Weiterentwicklungen bis in die Gegenwart hinein. Die Theosophie Jacob Böhmes im 17. Jahrhundert und der Autoren, die sich in seine Nachfolge stellen. Die 'illuministische' Strömung des 18. Jahrhunderts. Der so genannte Okkultismus von der Mitte des 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts. − Die Freimaurerei gehört nach meiner Auffassung in dem Maße dazu, wie sich die Hochgrade einiger ihrer Systeme und die Literatur, die sie hervorbringt, aus der einen oder anderen zuvor genannten ideengeschichtlichen Strömung speisen.

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Es ist dieser Zusammenhang, in dem sich die Verwendung des Wortes 'Esoterik' seit etwa fünfzehn Jahren in der Religionswissenschaft und darüber hinaus allgemein in den Geisteswissenschaften durchgesetzt hat, um damit einen ganz spezifischen Bereich der religionsgeschichtlichen Forschung zu bezeichnen.

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Können Sie unseren Lesern erläutern, was Sie unter 'Esoterik' im Gesamtzusammenhang der neuzeitlichen Religionsgeschichte verstehen? Lässt sich dieses Gebiet auch systematisch konstruieren bzw. definieren?

Selbstverständlich. In der vorausgehenden Antwort habe ich ja über die inhaltsbezogenen Themen dieses Forschungsgebiets gesprochen. Es geht aber darum, ein solches Forschungsfeld nicht nur zu begrenzen, sondern auch zu definieren − wobei von vornherein klar sein muss, dass derartige 'Definitionen' nur heuristische Modelle sind, die einem andauernden Bearbeitungs- und Überprüfungsprozess auf der Basis empirischer Forschung unterliegen.

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Dabei ist Folgendes wichtig: Das Ziel jedes wissenschaftlichen Zugangs zur Esoterikforschung kann nicht darin bestehen, das landläufige Verständnis des Wortes 'Esoterik' in eine etwas gelehrtere Sprache zu übersetzen, sondern es geht darum, Problemkomplexe hervorzuheben, deren sich das allgemeine Wortverständnis gerade nicht bewusst ist − sich also eine konzeptionelle Konstruktion zur Aufgabe zu machen, um sie mit anderen denkbaren Konstruktionen vergleichen zu können. Allerdings soll diese Vorgehensweise auch nicht die Produktion selbstreferentieller Meta-Diskurse unterstützen, die sich von jedem quellenspezifischen und philologischen Bezug abkoppeln. Die Scientific Community hat vielleicht zu viele 'Generalisten' mit zu vielen Konstrukten, die sich bei ihrer Anwendung als fragil erweisen, da sie nicht auf einer soliden Quellenbasis aufbauen. Alle generalisierenden Betrachtungen müssen auf unserem Gebiet wie auf anderen auf einer fundamentalen Textarbeit aufbauen.

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Meine Konstruktion ging also − wie ich vorhin sagte − von der Feststellung aus, dass eine Anzahl geistiger Strömungen gewisse Familienähnlichkeiten aufweisen. Es geht dabei um eine historisch nachweisbare Denkform, die durch sechs Eigenschaften oder Komponenten bestimmt werden kann, die in unterschiedlicher Gewichtung innerhalb eines weiten historischen und empirischen Kontextes nachweisbar sind. Vier davon sind 'wesentlich', und zwar in dem Sinn, dass ihr gleichzeitiges Auftreten eine notwendige und hinreichende Bedingung dafür darstellt, dass ein gegebenes Untersuchungsmaterial zur 'Esoterik' zu rechnen ist. Zu diesen vier kommen weitere hinzu, die ich als sekundär, d.h. als nicht grundlegend bezeichne. Ihr Vorkommen im Verein mit den vier anderen ist allerdings häufig.

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Die vier grundlegenden sind die folgenden: 1. Die Entsprechungen, das heißt man geht davon aus, dass zwischen allen Teilen des sichtbaren und unsichtbaren Universums symbolische und reale Entsprechungen bestehen (Prinzip der universalen Beziehungen). Die Natur, sogar das Universum, sind der Schauplatz wechselseitiger Abspiegelungen. 2. Die lebende Natur. Das Wort 'magia', das in der Renaissance eine so große Rolle spielt, ruft deutlich diese Idee einer Natur auf, die in all ihren Teilen als wesentlich lebendig angesehen, erkannt und erfahren wird. 3. Imagination und Mediation. Die beiden Begriffe sind miteinander verbunden, ergänzen sich gegenseitig. Es ist die ‚Imagination' oder Einbildungskraft, die es ermöglicht, Mittler, also Symbole und Bilder, zum Zweck der Erkenntnis zu verwenden, die Hieroglyphen der Natur, bzw. der Bibel, zu entschlüsseln, die Idee der Entsprechungen in konkrete Praxis umzusetzen und die zwischen der göttlichen Welt und der Natur vermittelnden Wesenheiten zu entdecken, zu schauen und zu erkennen. 4. Die Erfahrung der Transmutation. Das Wort 'Transmutation' entnehme ich der alchemistischen Literatur. Ohne diesen vierten Bestandteil würden alle drei eben vorgestellten kaum über die Grenzen einer spekulativen Spiritualität hinausgehen. Es handelt sich um die Vorstellung einer 'zweiten Geburt' durch erleuchtete Erkenntnis.

Diesen vier grundlegenden Komponenten gesellen sich zwei weitere hinzu, die nicht als unabdingbare Bestandteile der Definition gelten können. Sie treten aber häufig im Verein mit den vier anderen auf. Das sind also 5. Die Konkordanzbildung. Sie zeichnet sich dadurch aus, dass es gilt, gemeinsame Nenner zwischen zwei, drei oder mehr, ja zwischen sämtlichen Traditionen überhaupt zu finden, in der Hoffnung, eine Erleuchtung, eine 'Erkenntnis', höheren Ranges zu erreichen, und 6. Die Transmission. Eine esoterische Lehre kann auf einem vorgezeichneten Weg und unter Einhaltung bestimmter Stadien vom Meister an einen Schüler weitergegeben werden. − Dies alles mag für den Leser, der noch nie von diesen Denkformen gehört hat, schwer verständlich sein. Man kann das genauer nachlesen in meinem Bändchen "Esoterik im Überblick", das 2001 im Herder Verlag erschienen ist.

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Die zuletzt genannten relativen Komponenten könnten den Eindruck einer groß angelegten Kontinuität, das heißt einer ununterbrochenen Tradition über fünf Jahrhunderte hinweg vermitteln. Tatsächlich ist diese Kontinuität aber eher eine von semantischen Elementen, die sich im Rahmen ständig veränderter gesellschaftlicher Wandlungsprozesse ständig neu zuordnen. Auch schien es eine Zeitlang infolge der Arbeiten von Frances A. Yates nahe liegend, den 'Hermetismus' als Leitfigur einer solchen 'großen Erzählung' zu verstehen. Gegen solche Interpretationen sollte man immer wieder auf die Komplexität der historischen Entwicklung verweisen, die Verwicklungen der Diskurse dekonstruieren, die unabhängig aufeinander folgen, und von denen jeder seine besondere semantische und inhaltsbezogene Konstellation besitzt.

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Seit Ihrer Definition von 'westlich-neuzeitlicher Esoterik' als Denkform (1992) ist ein gutes Jahrzehnt der Rezeption und kritischen Auseinandersetzung vergangen. Wie beurteilen Sie den gegenwärtigen Stand der Diskussion vor allem auch in internationaler Perspektive?

Ich sagte vorhin, dass jede Definition oder Konstruktion dieser Art nur als heuristisches Modell betrachtet werden dürfe, das heißt es erhebt keinen Anspruch auf definitive Gültigkeit, sondern soll ein Stimulus sein für weitere methodische Annäherungen und Ansätze. Wie zu erwarten und zu hoffen war, ist mein Modell kritisch diskutiert worden. So hat Wouter J. Hanegraaff mit überlegenswerten Argumenten eingewandt, dieses Modell sei gültig vom Ende des 15. bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts, nicht aber für die Moderne bis in die Gegenwart. Ebenfalls grundlegend für die Diskussion sind auch die Studien von Marco Pasi und Kocku von Stuckrad. Alle drei haben maßgeblich dazu beigetragen, dem Fachgebiet zu seiner jetzigen akademischen Bedeutung zu verhelfen.

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Hanegraaff, Pasi und Stuckrad arbeiten am Subdepartment "History of Hermetic Philosophy and Related Currents", das 1999 von der Universität Amsterdam eingerichtet wurde, Hanegraaff als Lehrstuhlinhaber. Ganz neu ist an der englischen Universität von Exeter ein Chair für die "Geschichte der modernen esoterischen Traditionen" eingerichtet und mit Nicholas Goodrick-Clarke besetzt worden. An beiden Instituten wird inzwischen ein vollständiger Studiengang angeboten. An der Universität Lausanne und in München werden Lehrveranstaltungen zur Geschichte der abendländischen Esoterik durchgeführt. Alles in allem eine sehr erfreuliche Entwicklung!

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In der breiten Öffentlichkeit wird der Begriff 'Esoterik' mit modernen Erscheinungsformen freier Religiosität assoziiert. Handelt es sich um Außenseiterbewegungen? Kann man 'Esoterik' als geheime Strömung eines religiösen Untergrunds verstehen? Wie sehen Sie das Verhältnis zum Christentum?

Lassen Sie uns mit dem Begriff des 'Geheimen' beginnen. Zwar soll hier der Gebrauch des Wortes 'Esoterik' im Sinne von Geheimlehren, die wenigen Eingeweihten vorbehalten sind, keineswegs als illegitim abgetan werden. Es ist aber anzumerken, dass das Verständnis von Esoterik als einer Geheimlehre entweder zu begrenzt oder zu generell ist, als dass es wissenschaftlich brauchbar sein könnte. Es bringt sozusagen nichts. Waren etwa die weit verbreiteten alchemistischen und theosophischen Diskurse des 17. oder 18. Jahrhunderts geheim? Offenbar nicht!

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Andererseits sagen Sie mit Recht, dass diese Strömungen in der Öffentlichkeit oft mit Erscheinungsformen freier Religiosität identifiziert werden. Aber wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass sie keineswegs immer zur etablierten Religion bzw. den christlichen Konfessionen im Gegensatz stehen. Bei Esoterik geht es nämlich vor allem um ein Interesse für die Mythen (zum Beispiel diejenigen der Bibel), die wiederum Anlass zu neuen mythischen Interpretationen werden. Meistens finden wir hier keine abstrakten bzw. dogmatischen Begriffe, und Ketzerei ist erst dann festzustellen, wenn neue dogmatische Elemente zu einem bestehenden Dogma in Gegensatz treten.

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Also stellen sich die esoterischen Strömungen im Verlauf ihrer fünf Jahrhunderte umfassenden Entwicklung nicht als eine Gegenkultur dar, die sich schon aus ihrer Natur heraus in Gegensatz zu den herrschenden religiösen Mächten gesetzt hätte. Genau so gibt es im Verlauf des 18. Jahrhunderts keine 'esoterische Front' gegen die Verfechter der Vernunft. Auch hier wieder widerspricht die Wahrnehmung der Fakten den altgewohnten Verständnismustern. Was nun die Autonomieentwicklung nicht-christlicher Strömungen des esoterischen Typs vom 18. Jahrhundert bis heute betrifft, so handelt es sich dabei um eine Dimension der säkularisierten und pluralistischen westlichen Gesellschaft. Diese Entwicklung ist eng mit dem generellen Prozess der religiösen Säkularisierung verbunden.

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Der Erfolg dieser falschen Vorstellung vom 'Außenseitertum' hat lang anhaltende Missverständnisse über die Spezifik der esoterischen Strömungen begünstigt. Das wurde zusätzlich dadurch gefördert, dass die Religionswissenschaft ja traditionell unter dem Einfluss von theologischen Verständnismodellen stand. Und auch nachdem dies zurückgegangen war, ging man doch lange Zeit weiter davon aus, dass esoterische Strömungen mit marginalen Häresien bzw. mehr oder weniger verachtenswertem Aberglauben zusammenhängen würden. Tatsächlich sind sie im Allgemeinen weniger marginal als 'transversal' − und dieser Begriff der Transversalität (also einer durchgängigen Präsenz) scheint mir angemessen und weiterführender zu sein, als der der Randständigkeit.

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Welche Bedeutung messen Sie persönlich esoterischen Bewegungen im religiösen Gesamtkontext der europäischen Neuzeit zu?

Ich für meinen Teil würde eher sagen: 'im religiösen und kulturellen Gesamtkontext', geht doch die Bedeutung dieser Strömungen über die Religion im eigentlichen Sinne hinaus. Außerdem gibt es für mich 'Religion' an und für sich nicht, so dass beide Attribute prinzipiell untrennbar sind. Ich möchte drei Beispiele nennen, um diese 'Bedeutung' offen zu legen.

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Das erste Beispiel betrifft die Beziehungen zwischen religiösen Phänomenen auf der einen Seite und den Modernisierungs- und Säkularisierungsprozessen der westlichen Kultur auf der anderen Seite. Die herkömmliche Vorstellung von der Inkompatibilität beider Bereiche scheint bereits überwunden zu sein, so dass man heute im Gegenteil zeigen kann, dass die Strömungen der abendländischen Esoterik der Neuzeit − dadurch, dass sie sich angepasst und assimiliert haben − eine erstaunliche Überlebensfähigkeit bewiesen haben. Uns damit zu befassen bedeutet, eine Revision unseres Verständnisses von den Beziehungen zwischen 'Religion' und 'Säkularisierung' einzuleiten; letztere sind nämlich bedeutend komplexer als es die herkömmliche Auffassung will.

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Zweites Beispiel: Sich für die esoterischen Strömungen als historische und gesellschaftliche Tatsachen zu interessieren, die zu unserer Kultur gehören, impliziert natürlich auch, dass man sich für die Kontroversen zwischen ihren Gegnern und Anhängern interessiert, und zwar ebenso im christlichen Kontext wie unter dem Einfluss der Säkularisierung. Ein solches Interesse wird unsere Kenntnis von der Komplexität verschiedener einschlägiger Konzepte verbessern − so zum Beispiel derjenigen der Magie, des Okkulten oder des Irrationalen − die, ob man das nun schön findet oder nicht, integrale Bestandteile unserer Denkweisen geworden sind.

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Und drittens: Es wäre für die ideologiekritische Überprüfung unserer Denkweisen förderlich, das Bewusstsein dafür zu schärfen, dass es eine 'Rhetorik der Exklusion', das heißt elementare Denkverbote gibt, durch die gewisse Teilbereiche unserer Kultur auf den Status des 'Anderen' reduziert werden − egal, ob man dies nun im religiösen oder kulturellen Kontext sieht.

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Sie sind von Hause aus Germanist und kennen sich in der deutschen Forschungslandschaft hervorragend aus. Was glauben Sie, weshalb es in Deutschland − ganz anders als in den angelsächsischen Ländern − so wenig Interesse und wissenschaftliche Neugier für das Themenfeld der esoterischen Bewegungen in seinem Gesamtzusammenhang gibt?

Dies ist allerdings erstaunlich, und zwar vor allem deshalb, weil der deutsche Sprachraum ganz wesentlich von esoterischen Bewegungen geprägt ist. Denken wir zum Beispiel an Paracelsus, Jacob Böhme und ihre Nachfolger, an die zahlreichen esoterisch geprägten Logen der Freimaurerei in Deutschland, später an die Präsenz des Okkultismus, an Rudolf Steiner, usw. usw. Für das trotzdem konstatierbare Defizit an wissenschaftlichem Interesse mögen vor allem zwei Gründe in Betracht kommen.

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Der erste Grund wäre darin zu sehen, dass die Deutschen mit dem Nationalsozialismus eine Bewegung hervorgebracht haben, die auf zerstörerischen Mythen beruhte. Die daraus resultierenden furchtbaren Erfahrungen riefen − so scheint mir − einen verständlichen Argwohn gegenüber jeder Art von Mythos hervor − und Esoterik ist durch und durch vom Mythischen geprägt. Der zweite Grund besteht meiner Auffassung nach darin, dass die Religionsgeschichte in Deutschland seit Generationen vorwiegend zwei Charakteristika aufwies: Einerseits eine stark theologisch angelegte Orientierung (was uns auf eines der zuvor erwähnten Probleme zurückführt). Andererseits die traditionelle Vorliebe der Deutschen für die gelehrte, präzise, philologische Textarbeit, die sie der Theoriebildung und der Arbeit an Begriffen wie 'Religion', geschweige denn 'Esoterik' vorziehen. In den letzten Jahren hat die deutsche Religionswissenschaft jedoch deutlich aufgeholt. Dafür stehen Namen wie Peter Antes, Hans Kippenberg, Kocku von Stuckrad u. a. Das kann mittelbar und unmittelbar für die Esoterikforschung nur von Vorteil sein.

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Darf ich Sie abschließend nach Ihren persönlichen Plänen fragen? An welchem Spezialthema arbeiten Sie gerade, und was dürfen wir in nächster Zeit aus Ihrer Werkstatt erwarten?

Eine Monographie habe ich derzeit nicht in Vorbereitung, aber ich arbeite an zwei Sammelbänden, die einerseits ausgewählte Aufsätze aus meiner Produktion, andererseits Lehrbeispiele für den akademischen Unterricht westlicher Esoterik enthalten werden. Dazu plane ich eine Sammlung von Portraits einzelner Esoteriker oder esoterischer Bewegungen. Als Forschungsthemen interessieren mich derzeit die Vielfalt der Diskurse über Kosmosophie ('Gesichter des Himmels') und Probleme der Dreiteilung Leib/Seele/Geist. Außerdem werde ich in den nächsten Monaten noch an einigen Tagungen teilnehmen − nachdem ich das über viele Jahrzehnte intensiv gemacht habe, beabsichtige ich allerdings, in Zukunft weniger zu reisen und mich mehr meinen Forschungen zu widmen. Und schließlich darf man nicht vergessen, dass mich die Herausgabe der Zeitschrift "Aries. Journal for the Study of Western Esotericism" (zusammen mit Wouter J. Hanegraaff und Roland Edighoffer) nach wie vor beschäftigen wird.

Herr Faivre, vielen Dank für das Interview.

Das Gespräch führte Monika Neugebauer-Wölk

Gesprächspartner:

Prof. Dr. Antoine Faivre
Directeur d'études émérite
Histoire des courants ésotériques et mystiques
dans l'Europe moderne et contemporaine
EPHE - Section des Sciences religieuses
46, rue de Lille
75007 Paris
a.faivre@wanadoo.fr

Prof. Dr. Monika Neugebauer-Wölk
Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
Institut für Geschichte
Hoher Weg 4
06120 Halle
monika.neugebauer-woelk@geschichte.uni-halle.de

Empfohlene Zitierweise:

Antoine Faivre / Monika Neugebauer-Wölk : Ein neues Feld europäischer Religionsgeschichte. Antoine Faivre gibt Auskunft zur Esoterikforschung , in: zeitenblicke 5 (2006), Nr. 1, [04.04.2006], URL: https://www.zeitenblicke.de/2006/1/Interview/index_html, URN: urn:nbn:de:0009-9-2713

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