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Internationales Zentrum der Kunst und Nationalitäten

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Es wäre eine langwierige Aufgabe, hier aufzählen zu wollen, wie viele tschechische Künstler seit den vierziger Jahren des 19. Jahrhundets München aufgesucht, hier studiert oder sich gar niedergelassen hatten. Vielmehr sollte man sich fragen, auf welche Weise dieses internationale Kunstzentrum auf eine bestimmte nationale Kommunität gewirkt und sich anregend niederschlagen hat. Jede Rezeption ist selektiv, und diese Binsenweisheit gilt selbstverständlich auch für das tschechische Echo auf die Kunststadt München. Deshalb konzentrieren wir uns hier lieber auf gemeinsame Positionen und künstlerische Institutionen als auf einzelne Künstler oder ihre Werke.

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1992 erschien eine knappe Gesamtübersicht über die Entwicklung der tschechischen Kunst im Verhältnis zur Kunststadt München während des 19. Jahrhunderts. [2] Eine weitere Studie darüber, wie sich das Wirken Münchener Künstler und Münchener Kunst in Prag niederschlug, ist gerade im Erscheinen begriffen. [3] Hier werden wir uns mit der Entwicklung seit der Mitte der achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts befassen. Damals kam es in München zur Gründung eines Vereins tschechischsprachiger Künstler, der später für die Institutionalisierung der Moderne in Prag ausschlaggebend werden sollte. [4]

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Die tschechische Kommunität in München war um 1885 eine der zahlenmäßig umfangreichsten, obwohl sie kaum größer war als die Wiener oder Pariser. [5] Der Münchener Kunststudentenverein koexistierte zwar mit den Vereinen tschechischer Patrioten im Ausland, entfaltete allerdings einen besonders dynamischen Geist. In München gab es offenbar keine vergleichbaren Berührungsängste zwischen Künstlern mit und ohne Abschluss wie in Paris. Auch Kunststudenten unterschiedlicher Nationalitäten pflegten untereinander enge Beziehungen. Ein Beleg unter vielen ist beispielsweise die Ähnlichkeit der Statuten des Vereins tschechischer Kunststudenten mit denen ihrer amerikanischen Kollegen. [6]

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Die offizielle Gründung eines Vereins tschechischer Kunststudenten war möglicherweise durch das polnische Vorbild inspiriert worden. Junge polnische Kunststudenten hatten ihren Verein 1884 gegründet. Ganz ähnlich wurden dann im Rahmen der tschechischen Kommunität in München auch die tschechischen Kunststudenten aktiv, die sich am 28. Februar 1885 konstituierten. Am 31. Mai veranstalteten sie eine Ausstellung ihrer Arbeiten im Atelier des ungarischen Bildhauers Ákos Tolnay in der Adalbertstraße 49/51. Der dritte Präsident dieses Vereins wurde 1886 Alfons Mucha. Mucha, im Nachhinein der bekannteste tschechische Kunststudent in München, wohnte in der Amalienstraße, unweit vom Haupteingang der Kunstakademie. Davon zeugt eine gezeichnete Karte vom Mai 1887, die die Adressen von 22 Mitgliedern des Vereins aufführt (Abb. 1).

Abb. 1

Die Künstlervereine "Škréta" und "Mánes"

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Die tschechischsprachige Künstlergemeinde in München umfasste in den achtziger und zu Beginn der neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts in etwa sechzig Personen, von denen die meisten Mitglieder des Vereins der Kunststudenten wurden. 1887 verließen zahlreiche tschechische Kunststudenten München, wobei einige ihre Studien in Paris fortsetzten, die meisten aber nach Prag zurückkehrten. In Prag kam es zu einer Neugründung ihres Vereins unter anderem Namen, während der "alte" Verein in München noch bis 1888 tätig war. Im letzten Jahr seiner Münchener Existenz zählte der Verein 40 Mitglieder. [7] Bis 1900 waren etwa 300 Künstler dem neuen Verein beigetreten. Damals hatte er bereits an die 100 ordentliche Mitglieder und darüber hinaus eine beträchtliche Zahl von finanziellen Unterstützern.

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Bei der Vereinsgründung in München hatte zunächst noch der Name "Škréta" über den Namen "Mánes" gesiegt. Erst in seiner Prager Zeit erfolgte die Umbenennung in "Mánes". Karel Škréta war der führende Barockmaler Böhmens und wurde später zur Leitfigur der einheimischen Künstler, so wie etwa Albrecht Dürer in Deutschland. Im Unterschied zum historischen Karel Škréta verkörperte Josef Mánes den jüngsten Stand der Entwicklung in der tschechischen Kunst. Josef Mánes wurde auch zum Symbol der nationalen Wiedergeburt in der Kunst. Der Einband des Gedenkbuches des Münchener Vereins tschechischer Künstler verbindet historische Hinweise auf Škréta und das traditionelle Wappenschild, das die Embleme der freien Künste trägt, mit dem Motiv von Kirschblütenzweigen – also mit dem Symbol des Frühlings, das später auch von den mitteleuropäischen Kunstsezessionen verwendet werden sollte (Abb. 2).

Abb. 2

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Die jungen tschechischen Maler und Bildhauer verhielten sich von Anfang an ablehnend gegenüber jedweder äußeren Autorität oder Führerschaft. Schon bei der Gründung des Škréta-Vereins verweigerten sie sich zum Beispiel den Versuchen tschechischer Studenten der Technischen Hochschule in München, die Herrschaft über den Verein an sich zu reißen. Die Architekten erlangten erst zehn Jahre später größeren Einfluss, als sich der Mánes-Verein in allen Bereichen der visuellen Kultur zu engagieren begann. Künstlerische Freiheit und Vielfalt waren auch die Kriterien einer Rezension der ersten Ausstellung des Škréta-Vereins, die einer der Studenten in München verfasste. Danach war die Anordnung der Kunstwerke in der Ausstellung des Künstlervereins nicht so "hierarchisch" wie auf der Jahresausstellung, die der Kunstverein für Böhmen in Prag veranstaltete. [8]

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Eine ebenso geradlinige Gleichsetzung von Freiheit und Pluralismus in der Kunst mit Pittoreskem charakterisierte auch die Rezension der Aktivitäten von Škréta in der allgemeinen Presse. [9] Gewürdigt wurden sowohl die Originalität der Skizzen und Entwürfe als auch die Komik beziehungsweise Bizarrerie von einigen der ausgestellten Arbeiten. Das Tableau mit Arbeiten von Mitgliedern des Škréta-Vereins aus dem Jahre 1885 (Abb. 3) bringt den pittoresken Pluralismus als kollektive Ästhetik der Kunststudenten zum Ausdruck. Die meisten Arbeiten waren einerseits dem akademischen Studium verpflichtet, andererseits dem Publikums-Geschmack der Illustrierten, für die viele der Mitglieder tätig waren. Die Trends der Zukunft aber wurden durch Arbeiten der Protagonisten von Škréta angedeutet. Dazu gehörten neben Mucha zwei etwas jüngere Zeichner und Gestalter: Luděk Marold und Viktor Oliva. [10] Letztgenannter entwarf den ersten Einband für ein Album, das die Künstler von Zeit zu Zeit aus ihren Studien und Skizzen anlegten. Der interessanteste Umschlag betont die bildliche Raum-Fiktion und spielt mit leeren Flächen. Er rekurriert auf eine akademische Übung der Darstellung von Licht und Schatten [11] und kombiniert gleichzeitig Bild und Text, so wie dies auch einige andere Arbeiten in diesem Album tun (Abb. 4). Der "modernste" Protagonist aus dem Škréta-Verein indes war Luděk Marold, der die Technik der Pinselzeichnung bravourös beherrschte und das moderne Leben verherrlichte. Einer seiner Einbandentwürfe für den Škréta-Verein verwendet Elemente des Naturalismus und des Japonismus in der europäischen Kunst (Abb. 5). Insgesamt waren die Werke der führenden Köpfe dieses Vereins durch eine Melange aktueller Kunsttendenzen charakterisiert.

Abb. 3

Abb. 4

Abb. 5

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Für den Geist des Künstlervereins und seine zukünftige Entwicklung waren bestimmte Einstellungen seiner Mitglieder sicherlich wichtiger als einzelne ihrer Arbeiten. Während diese am Schnittpunkt akademischer Aufgaben und kommerzieller Aufträge entstanden, richtete sich der gemeinsame Wunsch der Kunststudenten sowohl gegen Autoritäten der Kunst als auch gegen den routinehaften Kunstbetrieb. Und obwohl sich ernstgemeinte Äußerungen über das Denken der Künstler aus der Zeit des Škréta-Vereins nur vereinzelt erhalten haben, können diese gemeinsamen Standpunkte an bestimmten Vorfällen im Künstlerverein abgelesen werden. So wurden beispielsweise zwei Mitglieder von Škréta kritisiert und lächerlich gemacht, ohne dass sie jedoch den Verein anschließend verlassen hätten. Der eine von ihnen stellte ein hochvollendetes, "in schlechter Prager Manier, ohne Herz gemaltes"  [12] (ve špatné pražské manýře, malovanou bez srdce) Gemälde aus. Zudem hatte er dasselbe Bild schon anderenorts gezeigt und daher eigentlich nichts Neues gebracht. Im anderen Fall rühmte sich ein Mitglied eines "Jagdstillebens", was offenbar als Kniefall vor dem vermögenden "Laien" und Auftraggeber gedeutet wurde. Der Vorrang von Studien und Skizzen – und allgemeiner: von Invention und Innovation – vor Routine und Publikumsgunst, was später zur Ideologie des Mánes-Vereins wurde, hatte seine Wurzeln bereits im Škréta-Verein.

Von der Chronik zum Periodikum

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Einer der bewährten Grundsätze, die die weitere Entwicklung des Münchner Vereins unter den Prager Bedingungen ermöglichten, waren die Regeln gegenseitiger Konkurrenzfähigkeit. Die Mitglieder von Škréta präsentierten auf ihren Vereinssitzungen neue Arbeiten und stellten sie zur Diskusion. Aus diesen Arbeiten entstand ein Album, das im Besitz des Künstlervereins blieb. Nach zehn Jahren war es auf ungefähr 1000 Zeichnungen und weitere Objekte angewachsen, darunter auch Fotos von Plastiken. Man kennt die Namen von über 120 Mitwirkenden, während mehr als 200 der enthaltenen Arbeiten anonym sind. [13] Auch Texte wurden zusammengetragen, die schon 1885 entstanden, und zwar getrennt vom Album. Letzteres erhielt den Namen "Palette" (Paleta), während der Textteil den Namen "Spachtel" (Špachtle) trug. Die Grenze zwischen ernstgemeinten und komischen, zwischen ironischen oder sarkastischen Beiträgen des studentischen Periodikums war fließend. Trotz der Zweigleisigkeit von "Palette" und "Spachtel" wurde aus dem Periodikum des Škréta-Vereins rasch etwas, das mehr war als nur die Chronik eines Vereins. Und schließlich legte die Tradition dieses Periodikums den Grund für die erste auf tschechisch verfasste Zeitschrift über bildende Kunst, die Mánes im Herbst 1896 herauszugeben begann.

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Von der "Palette" gelangten insbesondere viele ihrer Umschläge in öffentliche Kunstsammlungen. [14] Von der "Spachtel" haben sich der erste Teil aus dem Jahre 1885 (etwa 30 Manuskriptseiten) und Teile aus späterer Zeit erhalten (etwa 130 weitere Seiten). Das Album mit Arbeiten von Studenten und auch ihre handschriftlich verfasste Zeitschrift erschien auch nach 1896; ihre Spuren verlieren sich bei der dritten Generation der Kunststudenten im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts.

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Eine gewisse Öffentlichkeitswirkung des Mánes-Vereins verlieh dem Periodikum der Studenten, das in nur einem Exemplar erschien, einen neuen Sinn. Für die jüngeren Künstler und Beiträger des internen Periodikums galten die Vereinsgründer bereits als alt, kompromissbereit und politisierend. In der Prager Diskussion über die neue Kunst zeigten sich 1896 erneut die Münchner Vorbilder. So verkündete die Zeitschrift der Studenten auf einem ihrer Umschläge damals ketzerisch: "Die alte Spachtel ist unsere 'Jugend'" (Stará špachtle je naše Jugend) (Abb. 6). In der tschechischen Öffentlichkeit wurde die offizielle Zeitschrift von Mánes böswillig als Imitation der Zeitschrift "Jugend" bezeichnet, die kurz zuvor – im selben Jahr 1896 – in München erstmals erschienen war. Das offizielle Periodikum von Mánes hatte anfangs zwar in der Tat die Aufmachung einer modern frechen Zeitschrift; doch verwahrte man sich dagegen, mit der Münchener "Jugend" in Verbindung gebracht zu werden, und zwar aufgrund der nationalen Implikationen, die eine solche demagogische Kritik mit sich brachte. Für die ersten Zeitschriftenjahrgänge des Mánes-Vereins war jedenfalls ein Pluralismus, den bereits der Münchener Škréta auswies, charakteristisch, und diese Linie der Zeitschrift verkörperte ihr Titel "Freie Richtungen" (Volné směry).

Abb. 6

Münchener Vorbilder und die Entwicklung in Prag

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In der frühen Ideologie der tschechischen Modernisten gingen unterschiedliche Tendenzen eine Verbindung ein. Der Slogan vom Pluralismus beinhaltete die Toleranz gegenüber der neuen, entstehenden Kunst. Dem entsprach der Anspruch auf künstlerische Qualität und einer strengen Auswahl, womit das bisherige konventionelle Kunstschaffen in die Kritik geriet. Das Selbstverständnis wie das Verhalten der jungen tschechischen Künstler polarisierte sich auch wegen ihres doppelten – Münchener und Prager – Wirkens. Von ihrem Standpunkt aus hatte ihnen das wahre liberale Milieu für die Entwicklung der Kunst zunächst München geliefert, während die Quelle ihrer wachsenden Kampfeslust im Prager Diskurs über die nationale Identität lag.

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Für die jungen Künstler war es einfacher, die neue Kunst von München aus zu verteidigen als später in Prag. Die tschechische Presse hatte sie zwar als Hoffnung der Nation bezeichnet, doch waren sie zugleich dem starken Druck der etablierten Kunstautoritäten und -institutionen ausgesetzt. Die Kommerzialisierung der als national verkündeten Kunst und die Politisierung der gewerblichen Interessen der bestehenden Kunstgrößen stellten für die jungen Künstler eines der Haupthindernisse auf dem Wege zur Selbstverwirklichung dar. Das Plakat zur ersten Ausstellung des Mánes-Vereins, die im Frühjahr 1898 veranstaltet wurde, war das erste wirkliche Manifest des Modernismus in der bildenden Kunst Prags (Abb. 7), wie auch die Eröffnungsansprache zu dieser Ausstellung. [15] Das Plakat löste den erwarteten Skandal aus, denn es verspottete die tschechische Bourgeoisie wegen ihrer Gleichgültigkeit gegenüber den Idealen der Kunstschaffenden und ihrer Bedürfnisse. [16]

Abb. 7

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Die tschechischen Modernisten suchten einen Mittelweg zwischen Publikumsverspottung und der Forderung nach ernsthafter Anerkennung eines neuen Kunststrebens. Die Gesten von Kampfeslust und Verspieltheit durchdringen einander in den Bilddokumenten des Vereins junger tschechischer Künstler bereits seit der Münchener Zeit. Im November 1886 verursachte der Škréta-Verein einen Skandal in der tschechischen Öffentlichkeit, als er Mikoláš Aleš zu seinem Ehrenmitglied ernannte. Dieser Künstler war das "enfant terrible" der älteren Künstlergeneration. Der Verein verteidigte ihn gerade in dem Moment, als Aleš von der tschechischen Presse für seine Illustrationen und die Ausstattung einer neuen Ausgabe der sogenannten "Alttschechischen Handschriften" attackiert wurde. Dies erfolgte in einer Situation, als die Authentizität dieser Handschriften mehr und mehr in Zweifel stand und sich die Frustration tschechischer Populisten angesichts des Verlustes eines ihrer Hauptfetische gegen die Edition der Handschriften richtete. Gerade in diesem Zusammenhang wurden die Arbeiten von Aleš als "ein paar Kinderkritzeleien" (pár dětských čmáranic) bezeichnet. In Reaktion auf diese Kampagne adressierte der Škréta-Verein ein bemerkenswertes Diplom an Aleš (Abb. 8), dessen Bild- und Textteil sich stilistisch ergänzen. Der Bildteil dieses gezeichneten Manifestes der Kunst symbolisiert – in karikaturistischer Übertreibung – das aggressive Aufeinanderprallen der neuen künstlerischen Inspiration mit dem gesellschaftlichen Konservatismus, während der Textteil in seinem Wortlaut und auch in seiner kalligraphischen Auffassung dem über dem Durchschnittsgeschmack erhabenen Künstlergenius die Ehre erweist.

Abb. 8

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1894, fast zehn Jahre nach der Gründung von Škréta und ungefähr ein Jahr nach der Gründung der Münchener Secession, gab der Verein Mánes ein Album mit Studien und Skizzen seiner Mitglieder unter dem Titel "Blätter aus der Palette" (Listy z Palety) heraus. Der Umschlag dieses Albums ist ein gezeichnetes Kunstmanifest (Abb. 9). Der kindliche Genius der traditionellen Kunstikonographie ist hier bereits herangewachsen. Auch nimmt er eine Kampfhaltung ein, doch kann man diese Stellung – dank des Unterschieds im Maßstab zu den Malinstrumenten – immer noch so verstehen, als spiele er hier den Erwachsenen. Eine ähnliche Zweideutigkeit charakterisiert auch den Einleitungstext zu diesem Album. Der Umschlag unterscheidet sich von dem "Diplom an Mikoláš Aleš" wie auch von dem Plakat der ersten Ausstellung des Mánes-Vereins beträchtlich, indem die humoristischen Elemente kämpferischen gewichen sind. Die Ambivalenz entspricht dem Taktieren des Vereins, der von der tschechischen Presse sowohl ermutigt wie auch gerade deswegen verurteilt wurde. Der Mánes-Verein konnte erst später mit Nachdruck an die Öffentlichkeit treten, und zwar in einer insgesamt durch und durch anderen Situation. Auch im Verein selbst änderte sich die Lage, und zwar vor allem dadurch, dass zu seinen Mitgliedern immer mehr selbständig tätige Künstler anstelle von Kunststudenten zählten, die eventuellen Schikanen seitens ihrer Lehrer ausgesetzt gewesen wären.

Abb. 9

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Es stellt sicherlich keine allzu große Vereinfachung dar, wenn man sagt, dass das Hauptmerkmal der äußerst schwierigen und wechselvollen Kunstszene Prags am Ende des 19. Jahrhunderts der Umstand war, dass die Konstituierung des Modernismus in der bildenden Kunst gleichzeitig mit der Schlussphase der tschechischen nationalen Wiedergeburt erfolgte. Einige tschechische Intellektuelle und Literaten gelangten Mitte der neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts zu einer grundsätzlichen Ablehnung der nationalen Auffassung von Kunst und Kultur. Ein radikaler Individualismus wurde mit dem "Manifest der tschechischen Moderne" verkündet: "Seid ihr selbst, dann werdet ihr auch Tschechen" (Buďte sami sebou a budete Čechy). [17] Im Vergleich zu den radikalen tschechischen Modernisten bezog der Mánes-Verein damals eine andere Position. Er plädierte allgemein für ein ausgewogenes Verhältnis nationaler Gesinnung und neuer Kunst. Diese Position von Mánes unterschied sich andererseits deutlich von der chauvinistischen Atmosphäre, die in der Öffentlichkeit um 1900 herrschte. Die Forderung nach Anerkennung der Individualität des Künstlers betraf nämlich nicht nur die Emanzipation von älteren Kunstdoktrinen und Konventionen. Sie enthielt auch die Behauptung von der prinzipiellen Gleichheit der Kunst verschiedener Nationen. Gerade damit aber wird die Kontinuität bestätigt, die die Haltung der tschechischen Modernisten vom Münchener Škréta bis hin zum Prager Mánes auszeichnete.

Die Entwicklung der Kunst und ihr politischer Kontext

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Die Verflechtung von Kultur und Politik, die für das tschechische Prag typisch ist, hing mit dem Modernismus in der Kunst als solchem nicht unmittelbar zusammen. Doch schuf sie das Milieu auch für die tschechische Rezeption der Kunststadt München. In der Entwicklung dieser Rezeption spielten sowohl politische Ereignisse als auch bestimmte kulturelle Stereotypen eine Rolle. Ein Beispiel: Nach der Einigung Deutschlands wuchs auf tschechischer Seite die Wahrnehmung Bayerns als Muster für die eigene kulturelle Unabhängigkeit innerhalb der bestehenden politischen Rahmenbedingungen. Oder auch ein anderes: Hier fand sich ein gemeinsames bayrisches und böhmisches Interesse am Landleben und an der folkloristischen Tradition. Insbesondere deshalb scheint im tschechischen Prag, dank des "Münchener Kapitels" der tschechischen Kunst, der Trend zum Naturalismus in der Kunst akzeptiert worden zu sein: Die erste ausdrückliche Anerkennung des Naturalismus in der offiziellen tschechischen Kunstdiskussion war mit einer Wertschätzung der Ergebnisse der jungen Tschechen in München Mitte der achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts verbunden. [18] Der Naturalismus (Realismus) in der Kunst wurde von der tschechisch schreibenden Kunstkritik als eine ureigene tschechische Errungenschaft gefeiert. [19]

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Die tschechischen Kunstkontakte zu München erreichten in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre ihren Höhepunkt. Einer der Gründe für die sich ändernde Haltung gegenüber München während der Einführung des Modernismus in Prag war die allgemeine politische Entwicklung. Die künstlerische Attraktivität von München, Paris und Wien hatte für tschechische Künstler stets auch gewisse politische Implikationen zu Folge. [20] Die tschechische Künstlerpräsenz in München wuchs in der Zeit des Boykotts, den die tschechische politische Repräsentation gegenüber Wien praktizierte. Das Verhältnis zwischen der tschechischen Politik und dem österreichisch-ungarischen Staat basierte auf gegenseitigen Zugeständnissen. Die tschechische politische Repräsentanz verzichtete regelmäßig auf dezidierte politische Forderungen, wenn dafür der Staat in anderen Bereichen, einschließlich der Kultursphäre, Einlenken zeigte. Dieser politische Stil war seit Mitte der achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts einer der Gründe für die Blüte von Kunstinstitutionen in Prag. Um 1900 trug eine zeitweilige Entspannung in der Nationalitätenfrage dazu bei, dass die tschechischen Modernisten ihre Hauptverbündeten in der Kunststadt Wien fanden. Auch die politischen und künstlerischen Kontakte zwischen dem tschechischen Prag und Paris wuchsen ständig und unterstützten einander. Nichtsdestoweniger schuf die Kunststadt München mit ihrem Pluralismus und Liberalismus in den entscheidenden achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts das Milieu zur Herausbildung des Modernismus in der tschechischen Kunst.

Literatur

Lenka Bydžovská: Spolek výtvarných umělců Mánes v letech 1887-1907 (Verein bildender Künstler Mánes 1887-1907), Dissertation am Institut für Kunstgeschichte, Akademie der Wissenschaften, Praha 1989

Lenka Bydžovská: The Problem of Patriotism in Art. A Contribution to the Programme of the Mánes Association of the Artists at the Turn of the Century, in: Niedzyca Seminars V: Polish-Czech-Slovak-Hungarian Artistic Connections, Kraków 1991, 217-240

Zdeněk Hojda: Prag – München und die bildenden Künstler im 19. Jahrhundert, in: Frank Boldt & Rudolf Hilf (Hg.): Bayerisch-böhmische Nachbarschaft, München 1992, 141-154

Birgit Jooss: München als Anziehungspunkt für tschechische Künstler in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Eine Betrachtung aus Münchner Sicht, in: Marek, Michaela / Pešek, Jiří (Hg.): Kultur als Vehikel und als Opponent politischer Absichten. Deutsch-tschechisch-slowakische Kulturkontakte von der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart, Praha 2006 [in Vorbereitung]

Michaela Marek: Kunst und Identitätspolitik. Architektur und Bildkünste im Prozess der tschechischen Nationsbildung, Köln, Weimar & Wien 2004

Jana Orliková & Petr Štembera: Luděk Marold, Praha 1998 (obsahuje české a anglické znění) [in tschechischer und englischer Fassung]

Roman Prahl: Paleta – Špachtle. Idea a praxe časopisu české výtvarné moderny (Palette – Spachtel. Idee und Praxis einer Zeitschrift des tschechischen Modernismus), in: Oldřich Král, Blanka Svadbová & Pavel Vašák (Hg.): Prameny české moderní kultury. Národní galerie v Praze – Ústav pro českou a světovou literaturu ČSAV (Quellen moderner tschechischer Kultur. Nationalgalerie Prag – Institut für tschechische- und Weltliteratur, Tschechoslowakische Akademie der Wissenschaften), Praha 1988, 2. Band, 217-240

Roman Prahl: Kronika umění i města. Alba Mahabharaty a "časopisu" raného SVU Mánes (Chronik der Kunst und einer Stadt. Die Alben des Mahabharata und die "Zeitschrift" des frühen Mánes-Vereins), in: Pražský sborník historický (Prager historisches Sammelbuch) 23, 1990, 50-71

Roman Prahl: Plakát 1. výstavy SVU Mánes: provokace mezi revoltou a utopií (Plakat der 1. Ausstellung des Mánes-Vereins: Provokation zwischen Revolte und Utopie), in: Umění (Die Kunst), 40, 1992, 23-36

Roman Prahl & Lenka Bydžovská: Freie Richtungen. Zeitschrift der Prager Secession und Moderne, Prag 1993

Roman Prahl: The ‘Pre-history’ of Czech Art Modernism in Munich, in: Umění (Die Kunst), 54, 2006, 57-68 (Prahl 2006a)

Roman Prahl: Künstlerische Verbindungen zwischen München und Prag um die Mitte des 19. Jahrhunderts, in: Materialien des Kolloquiums Bayern – Böhmen (Haus der Bayerischen Geschichte, Mai 2005; Publikation des Collegium Carolinum in München [in Vorbereitung]) (Prahl 2006b)

Roman Prahl: "Zahraniční politika" spolku českých umělců-modernistů kolem roku 1900 (Die "Außenpolitik" des Künstlervereins des tschechischen Modernismus um 1900), in: Marek, Michaela / Pešek, Jiří (Hg.): Kultur als Vehikel und als Opponent politischer Absichten. Deutsch-tschechisch-slowakische Kulturkontakte von der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart, Praha 2006 [in Vorbereitung] (Prahl 2006c)

Jana Procházková: Výstava z díla Viktora Olivy (kat. výstavy) (Kat. Ausst. Werke von Viktor Oliva), Praha 1977

Christopher Storck: Kulturnation und Nationalkunst. Strategien und Mechanismen tschechischer Nationsbildung von 1860 bis 1914, Köln 2001

Helena Ševčíková-Korbelová: Umělecký spolek Škréta v Mnichově (Der Künstlerverein Škréta in München), Documenta Pragensia 5, Praha 1985, 2. Teil, 262-293

Ferdinand Velc: Výtvarné umění (Die bildende Kunst), in: Světozor, 19, 1885, 398 (Velc 1885a)

Ferdinand Velc: Pojednání o první výstavě českých akademiků Škréta v Mnichově (Abhandlung über die erste Ausstellung tschechischer Kunststudenten in München), Paleta, 1. června [Juni] 1885 [ohne Seitenzahlen] (Velc 1885b)

Ferdinand Velc: Ukázky z Palety (Proben aus der "Palette"), in: Světozor, 19, 1885, 491 (Velc 1885c)

František Žákavec: O umění a umělcích (Über Kunst und Künstler), in: Paní Renáta Tyršová. Památník na počest jejích sedmdesatých narozenin (Frau Renáta Tyršová. Eine Gedenkschrift anlässlich ihres 70. Geburtstags), Praha 1926, 15-160

Abbildungen

Abb. 1
Karel Reisner (?), Plan mit Umgebung der Kunstakademie und den Anschriften der Mitglieder des Škréta-Vereins, 1887, Tuschzeichnung, Aquarell, 34 x 21 cm, Nationalgalerie Prag / Archiv, Inv.-Nr. AA 765, Foto: Nationalgalerie

Abb. 2
Luděk Marold, Umschlag des Gedenkbuches des Škréta-Vereins, 1885, Tuschzeichnung, 34,5 x 20 cm, Museum der tschechischen Literatur Prag, Inv.-Nr. IK 1624 / V 21, Foto: Museum der tschechischen Literatur

Abb. 3
Tableau mit Arbeiten von Mitgliedern des Škréta-Vereins, 1885; nach Světozor, Juni 1885, 489, Foto: Fotosammlung des Autors

Abb. 4
Viktor Oliva, Umschlag der "Palette", 1885, Tuschzeichnung, 36 x 23 cm, Nationalgalerie Prag / Archiv, Sammlung Varia, Inv.-Nr. AA 3060, Foto: Nationalgalerie

Abb. 5
Luděk Marold, Umschlag der "Palette", 1885, Tuschzeichnung, 36 x 23 cm, Nationalgalerie Prag / Archiv, Sammlung Varia, Inv.-Nr. AA 3060, Foto: Nationalgalerie

Abb. 6
Anonym: Umschlag der "Spachtel", 1896, Tuschzeichnung, Aquarell, 34 x 21 cm, Nationalgalerie Prag / Archiv, Sammlung Varia, Inv.-Nr. AA 3060, Foto: Nationalgalerie

Abb. 7
Arnošt Hofbauer, Plakat der 1. Ausstellung des Mánes-Vereins, 1897, Zweifarbige Lithographie (bianco), 111 x 82 cm, Foto: Fotosammlung des Autors

Abb. 8
Luděk Marold und Alfons Mucha, Škréta-Diplom für Mikoláš Aleš, 1886, Tuschzeichnung, 49 x 15 cm, Museum der tschechischen Literatur Prag, Foto: Museum der tschechischen Literatur

Abb. 9
Jan Preisler, Umschlag der "Blätter aus der Palette", 1894, Druck, Foto: Fotosammlung des Autors

Autor

Prof. Dr. Roman Prahl
Institut für Kunstgeschichte
Karlsuniversität
Celetná 20
CZ – 10100 Praha 1
e-mail: rreg@post.cz



[1] Dieser Text ist die gekürzte und abgeänderte Fassung eines englisch publizierten Aufsatzes: Prahl 2006a. Die deutsche Übersetzung verdanke ich Wolf B. Oerter.

[2] Hojda 1992.

[3] Prahl 2006b.

[4] Zur Frühgeschichte dieses Vereins: Bydžovská 1989, und kurz: Bydžovská / Prahl 1993.

[5] Zu dieser Zeit gab es in München vier tschechische Vereine (der 1875 gegründete Verein „Slovan“ war der größte unter ihnen). Einen ähnlichen, allgemeinen Verein hatten die Tschechen auch in Paris, nie jedoch einen Künstlerverein, auch nicht inoffiziell.

[6] Die Amerikaner studierten in den späten 1870er- und 1880er-Jahren an der Münchner Kunstakademie meistens bei Ludwig Löfftz (aber auch bei Nicolaus Gysis), ebenso mindestens die Hälfte der Tschechen, vgl. Velc 1885a. Das amerikanische Modell für die Statuten des tschechischen Vereins wurde in Prag seitens der tschechischen Öffentlichkeit wohl wegen Befürchtungen eines deutschen Einflusses auf die tschechischen Kunststudenten betont.

[7] Auf diese Zahl kommt man, wenn man die in Ševčíková-Korbelová 1985 publizierten Namen aus den Dokumenten des Kunstvereins Škréta zusammenzählt. Eine erste Analyse der Tätigkeit dieses Vereins bietet Hojda 1992, 151-153.

[8] Rezension für die Zeitschrift der tschechischen Studenten von Ferdinand Velc, dem ersten Redakteur für den schriftlichen Teil dieses Periodikums (Velc 1885b, ohne Seitenzählung).

[9] Velc 1885c.

[10] Letzte Monographie dieser Künstler: Orlíková / Štembera 1998 und Procházková 1977.

[11] Einer ähnlichen Technik bediente sich noch viel später ein anderes Bilddokument des Kunstvereins Mánes (vgl. Abb. 9).

[12] Nach einer Rezension der ersten Ausstellung des Künstlervereins und anderen Dokumenten, vgl. Velc 1885a.

[13] Diese und die folgenden Angaben stammen aus den bislang detailliertesten Studien über das Periodikum des Kunstvereins Škréta und des frühen Mánes: Prahl 1988 und Prahl 1990.

[14] Ein Ensemble von Umschlägen und weiteren Teilen von „Palette“ und „Spachtel“ befindet sich im Archiv der Nationalgalerie Prag (Inv.-Nr. AA 3060), Vereinzeltes auch in der Grafiksammlung der Nationalgalerie und im Museum für tschechische Literatur in Prag (unter dem Namen der einzelnen Autoren).

[15] Die Eröffnungsrede anlässlich der ersten Ausstellung des Kunstvereins war die beste Darlegung des Programms des frühen Mánes. Zu ihrem Wortlaut vgl. Prahl / Bydžovská 1993, 86-87.

[16] Prahl 1992.

[17] Zu den Ergebnissen dieses Diskurses: Bydžovská 1991.

[18] Die führende Prager Kunstkritikerin Renáta Tyršová änderte ihre Ansicht über die Tschechen in München und den Naturalismus zwischen 1885 und 1886, vgl. Žákavec 1926, 56.

[19] Übrigens zeitgleich mit der Aufnahme des Titels „Realismus“ in den Namen der neuen tschechischen Partei: die Ablehnung traditioneller Doktrinen und Rhetorik hatten Politik und Kunst gemeinsam.

[20] Zu den politischen Implikationen der tschechischen Kunst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts vgl. Storck 2001 und Marek 2004; auch Prahl 2006c.

Empfohlene Zitierweise:

Roman Prahl : München und die Anfänge des Modernismus , in: zeitenblicke 5 (2006), Nr. 2, [19.09.2006], URL: https://www.zeitenblicke.de/2006/2/Prahl/index_html, URN: urn:nbn:de:0009-9-5644

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