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1912 erschien in der Zeitschrift 'Művészet' ('Kunst') eine Studie mit dem Titel 'Ungarn an der Münchner Akademie 1824-1890' (Abb. 1). [1] Zu jener Zeit spielte München keine so bedeutende Rolle mehr in der ungarischen Kunst, wie in dem im Titel angegebenen Zeitintervall. Die aktuellen Artikel der Zeitschrift behandelten damals bereits auch Themen wie Futurismus oder die von der fauvistischen Malerei geprägte Künstlerkolonie von Kecskemét. [2] Der Chefredakteur war Károly Lyka, der ursprünglich selbst Malerei in München studiert hatte. Später unterstützte er als Kunstkritiker die Künstlerkolonie von Nagybánya, die von in München lebenden und wirkenden jungen Künstlerinnen und Künstlern gegründet worden war (Abb. 2). [3] 1912 publizierte er in seiner Zeitschrift unter anderem einen Artikel über die Ausstellung der Freischule der Künstlerkolonie anlässlich ihres zehnjährigen Jubiläums, beziehungsweise über István Réti, einen der leitenden Persönlichkeiten von Nagybánya. [4] 1912 zählte München in der ungarischen Kunst eher zur Vergangenheit und 'Geschichte'. Davon zeugt auch die Rhetorik des Aufsatzes 'Ungarn an der Münchner Akademie 1824-1890'. Der Text ist eigentlich eine Quellenpublikation, eine Namensliste, mit einem Umfang von neun Seiten, die vom Autor, dem jungen Malerstudenten Miklós Somogyi, aus den "auf altem Papier mit verbleichter Tinte geschriebenen Matrikeln" ["fakult tintájú és ódon papirosú matrikuláiból"] [5] entnommen wurde. Der Autor erklärt seine Absicht in den kurzen einleitenden beziehungsweise abschließenden Textteilen: Die Publikation enthielte "Daten zur Geschichte unserer Kunst" ["adatok művészetünk történetéhez"] [6], und es sei kein Zufall, dass die Liste mit 1890 aufhöre, denn "die darauf folgenden Jahre liegen zu nahe an unseren Tagen" ["az ezután következő évek igen közel esnek napjainkhoz"]. [7]

Abb. 1

Abb. 2

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In vorliegendem Aufsatz möchte ich mich mit mehreren Generationen ungarischer Künstler und Künstlerinnen, die in München studierten und lebten, unter Berücksichtigung folgender Fragestellungen beschäftigen: welche Möglichkeiten einer künstlerischen Laufbahn standen ihnen offen; welche Einflüsse – vorwiegend außerhalb der Akademie – wirkten in München auf sie; wie präsentierten sie ihre Werke in der Öffentlichkeit in München beziehungsweise in Budapest; und nicht zuletzt, wie wird das heutige München-Bild der ungarischen Kunstgeschichte von der Geschichte des Kreises um Simon Hollósy und der Künstlerkolonie von Nagybánya beeinflusst.

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Im künstlerischen Leben Ungarns kam es nach dem so genannten Ausgleich im Jahr 1867 (durch den die Österreichisch-Ungarische Monarchie entstand) zu bedeutenden Änderungen. In dieser Periode wurden zwei wichtige Institutionen gegründet, zunächst 1871 die 'Musterzeichenschule' ('Mintarajztanoda'), die erste staatliche höhere Kunstlehranstalt im Land [8] (Abb. 3), die 1876 in ein neues Gebäude zog. Ein Jahr später öffnete in der direkten Nachbarschaft die 'Kunsthalle' ('Műcsarnok') ihre Tore, der erste ständige Ausstellungsort in Budapest. An den 'Frühlings-' beziehungsweise 'Sommerausstellungen' nahmen ab 1896 regelmäßig auch ausländische Künstler und Künstlerinnen teil (Abb. 4). Die Musterzeichenschule bildete vorwiegend Zeichenlehrer aus, deshalb setzte die Mehrzahl der jungen Künstler ihre Studien – nach einer kurzen Vorbereitungsperiode in Budapest – in erster Linie in München fort.

Abb. 3

Abb. 4

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In den 1860er-Jahren studierten an der Münchener Akademie drei prägende Figuren der ungarischen Malerei des 19. Jahrhunderts, die bis heute den Diskurs über die moderne Kunst in Ungarn bestimmen. Ihre kanonische Rolle spiegelt sich auch in der ständigen Ausstellung der Ungarischen Nationalgalerie wider, wo ihr Oeuvre im Mittelpunkt steht. Die Lebensläufe der drei Maler können als exemplarische Modelle für die Möglichkeiten dieser Generation betrachtet werden. Alle drei wurden in der Mitte der 1840er-Jahre geboren, ihre Kunst entfaltete sich Ende der 1860er-Jahre in Deutschland (vorwiegend in München) und die letzten Jahre des Jahrhunderts bedeuteten für sie – allerdings unter verschiedenen Gesichtspunkten – die Vollendung ihrer künstlerischen Laufbahn. [9]

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Der aus einem armen Tischlerlehrling zu einem reichen und international bekannten Malerstar gewordene Mihály Munkácsy studierte in München und in Düsseldorf. Nachdem er mit seinem Bild 'Letzter Tag eines Verurteilten' ('Siralomház') im Pariser Salon 1870 einen unerwarteten Erfolg erzielte, zog er nach Paris um, womit eine Karriere ihren Anfang nahm, von der viele ungarische Maler noch lange träumten. [10] Gyula Benczúr entschied sich, als Schüler von Piloty, für die akademische Historienmalerei. Der erste Erfolg war auch bei ihm mit einem hervorragenden Werk verknüpft. 1870 gewann er bei dem vom ungarischen Staat für die Schaffung von historischen Bildern ausgeschriebenen Wettbewerb den ersten Preis. Die endgültige Version des Gemäldes 'Die Taufe von Vajk' ('Vajk megkeresztelése') wurde im Jahr 1875 fertig (Abb. 5). Beide Bilder malte Benczúr in München, wo er 1876 zum Professor der Akademie ernannt wurde und dort viele Jahre verbrachte. Er blieb aber nicht für immer im Ausland, sondern kehrte 1883 zurück, als ihn der ungarische Staat nach Budapest zurückrief. Für die Laufbahn von Pál Szinyei Merse war – mit entgegen gesetztem Vorzeichen – ebenfalls ein einziges Gemälde entscheidend. Sein 1873 gemaltes Bild 'Picknick im Freien' oder 'Maifest' ('Majális') (siehe Abb. 3 im Beitrag von Ágnes Kovács) stieß beim Publikum wegen der ungewohnt neuartigen Pleinair-Effekte auf Unverständnis, und der wegen des Misserfolges enttäuschte Künstler zog sich für Jahrzehnte auf sein Gut in Nordungarn zurück und gab später das Malen für lange Zeit auf.

Abb. 5

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Die in München studierenden und lebenden Künstler nahmen von Anfang an regelmäßig an den Ausstellungen des Glaspalastes teil, so zum Beispiel an der ersten 'Internationalen Ausstellung' im Jahr 1869, unter anderen Munkácsy, Benczúr und Szinyei. In den kommenden Jahren erschienen immer mehr Bilder ungarischer Künstler und Künstlerinnen in diesen Ausstellungen, auch die Vertreter der jüngeren Generation schlossen sich den älteren Kollegen an. [11]

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In der Ausstellung von 1883 zeigte Szinyei das Gemälde 'Die Lerche' (Abb. 6), Benczúr stellte die 'Bacchantin' aus (Abb. 7), welches ein Jahr zuvor in Budapest den so genannten Großpreis der 'Ungarischen Landesgesellschaft für Bildende Künste' ('Országos Magyar Képzőművészeti Társulat') gewonnen hatte. Das Gemälde wurde vom Ungarischen Nationalmuseum (Magyar Nemzeti Múzeum) gekauft, und da der Künstler gerade zu diesem Zeitpunkt zur Begründung und Leitung der Meisterschule für Malerei einen Ruf nach Budapest erhielt, kann das Werk aufgrund der Auszeichnung und der zeitgenössischen Äußerungen – wie Katalin Sinkó schreibt – als "akademische Antrittsrede" betrachtet werden. [12] Einen ähnlichen Erfolg erzielte auch das Gemälde 'Bahrgericht' von Jenő Gyárfás (Abb. 8), das zwei Jahre zuvor den so genannten Großpreis des Landesgesellschaft erhalten hatte. Auch dieses Werk war bereits im Besitz des Ungarischen Nationalmuseums, als es in die Ausstellung des Münchener Glaspalastes gegeben wurde.

Abb. 6

Abb. 7

Abb. 8

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Auch andere Formen offizieller Anerkennung konnten den Erfolg der einzelnen Werke bezeugen. So waren mehrere Gemälde im Katalog des Glaspalastes als Besitz von Kaiser Franz Joseph I. angeführt ("Im Besitz Seiner Majestät des Kaisers von Oesterreich und Königs von Ungarn"), unter anderem Werke von Lajos Deák Ébner (Abb. 9). Diesen Werken ist allen gemein, dass sie zuerst in der Budapester Kunsthalle ausgestellt wurden, und erst danach von den Künstlern – bereits im Besitz einer offiziellen Anerkennung – zur Internationalen Ausstellung des Glaspalastes eingereicht wurden. Das Jahr 1883 ist für die ungarischen Künstler auch insofern bedeutend, weil sie erstmals einen selbständigen Raum innerhalb der Ausstellung erhielten, und nun die in den 1850er-Jahren geborene 'zweite Generation' ebenfalls zum ersten Mal vor das Publikum trat (Sándor Bihari, Ferenc Eisenhut). In der Ausstellung von 1888 tauchte wieder ein Gemälde auf, das den ersten Preis der Landesgesellschaft für Bildende Künste erhalten hatte, und gleichzeitig vom König angekauft worden war (von Sándor Bihari; Abb. 10). Einige Bilder wurden aber zuerst in München ausgestellt, und reisten erst später nach Budapest, wie zum Beispiel das Bild 'Sklavenhandel' des in München lebenden Ferenc Eisenhut.

Abb. 9

Abb. 10

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Die Werke der ungarischen Maler und Malerinnen fügten sich in den internationalen Kontext ein. Sie folgten sowohl im Stil, als auch in der Thematik beziehungsweise Gattung – handelt es sich nun um eine erotisch gefärbte orientalistische Szene ('Sklavenhandel') oder ein von der Literatur inspiriertes Liebesdrama ('Bahrgericht') – den gewöhnlichen Mustern; ein 'Nationalspezifikum' kam höchstens in Kompositionen mit exotischer ungarischer Kostümierung zur Geltung. Neben den anekdotischen Bildern mit 'Zigeuner'-Thematik von Bihari erschienen die Alltagsszenen des bäuerlichen Lebens von Hollósy weniger theatralisch und gekünstelt (Simon Hollósy: Der Toast in der Csárda, 1888; Abb. 11).

Abb. 11

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In den 1880er-Jahren diente den in München lebenden jungen ungarischen Künstlern nicht mehr die von den Akademie-Professoren vertretene Malerei zum Vorbild, sondern vielmehr die neuen Tendenzen, die in den Ausstellungen des Glaspalastes zu sehen waren. In der Ausstellung im Jahr 1888 war für die in den 1860er-Jahren geborene Generation die große Entdeckung das Bild von Jules Bastien-Lepage 'La pauvre Fauvette' (1881), das – wie in den Erinnerungen festgehalten – eine außerordentlich starke Wirkung auf sie ausübte. [13] Dieser grautonige Naturalismus mit andachtsvoller Stimmung prägte die Werke dieser Generation in den 1890er-Jahren; verwiesen sei hier auf das Gemälde 'Schwert des Kriegsgottes' von Béla Iványi Grünwald (Abb. 12).

Abb. 12

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Hervorragende Werke dieser Gruppe sind die Gemälde von István Csók, die in der Ausstellung des Glaspalastes im Jahr 1891 zu sehen waren. Das Bild 'Thuet das zu meinem Angedenken' wurde zuerst in Budapest ausgestellt (Abb. 13), ein weiteres Bild mit dem Titel 'Die Waisen' erhielt am Ende des Jahres in der Budapester Kunsthalle den Preis der Landesgesellschaft für Bildende Künste. Aus dieser 'Winterausstellung' der Kunsthalle kamen im Jahr darauf mehrere Gemälde in den Glaspalast. Ein Beispiel wäre das Bild von Gyula Kardos 'Interessante Lektüre' (1891) (Abb. 14). Lyka publizierte im hohen Alter das Buch 'Ungarisches Künstlerleben in München' ['Magyar művészélet Münchenben'], das in seiner Reihe über die moderne Kunst in Ungarn erschien. Interessanterweise stellte er die Periode zwischen 1867 und 1896 vorwiegend anhand von ungarischen Künstlern in München, nicht jedoch in Ungarn dar, da – wie er im Vorwort seines Buches abschließend bemerkt – "bis dahin der Hauptschauplatz München ist" ["Odáig München a főszíntér"]. [14] Lyka gibt eine treffende Charakterisierung der Münchener Malerei, und beschreibt anschaulich die Verbreitung der beliebten Gattungen wie zum Beispiel der Genrebilder: "Mit der Heimkehr von Benczúr kam auch der Münchner 'Realismus', Pilotys leibliches Kind, nach Ungarn. Bis zum Auftritt der Künstler von Nagybánya spukte dieser Geist in Budapest, dessen Sprösslinge die Ausstellungen der Kunsthalle füllten." ["Benczúr hazatelepedésével eljött hozzánk a müncheni 'realizmus' is, Piloty édes gyermeke. A nagybányaiak föllépéséig, 1896-ig főképp ez a szellem kísértett Budapesten, ennek szülöttei töltötték meg a Műcsarnok kiállításait."] [15]

Abb. 13

Abb. 14

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Die drei in München zu Ruhm gekommenen Maler spielten auch für die Ausbildung der jüngeren Generationen eine wesentliche Rolle. Munkácsy richtete 1882 ein Stipendium ein, mit dem junge Maler in seinem Pariser Atelier arbeiten und studieren konnten. Die Stipendiaten waren in erster Linie Repräsentanten der Kunsthallen-Malerei. Benczúr vermittelte seinen Schülern in der Budapester Meisterschule die Ideen der Münchener Akademie. Szinyei Merse war erst später in der Lage, sich als Pädagoge mit der jüngeren Generation beschäftigen zu können. Er wurde 1905 zum Rektor der Musterzeichenschule ernannt, die er in die Budapester Akademie für Bildende Künste überführte.

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Diese Reformen waren durch die Tätigkeit einer jüngeren Generation vorbereitet worden, was zu einer entscheidenden Wende in der Geschichte der modernen ungarischen Kunst führte. Simon Hollósy, der um mehr als ein Jahrzehnt jünger war als Szinyei, erzielte seinen ersten Erfolg mit dem Bild 'Maisschälen' (siehe Abb. 7 im Beitrag von Ágnes Kovács) 1885 in der Budapester Kunsthalle. Im darauf folgenden Jahr gründete er eine Privatschule in München (Abb. 15). Hollósy war ein begabter Pädagoge, seine Schule, die ursprünglich die Studenten für die Aufnahmeprüfung beziehungsweise für die Studien an der Akademie vorbereiten sollte, wich in ihren Unterrichtsmethoden vom Konservativismus der Akademie ab und war deshalb im Kreis der aus den verschiedenen Ländern gekommenen jungen Maler außerordentlich populär. Hollósy schickte bereits 1894 den Plan einer Kunstschule Elek Koronghi Lippich, dem Leiter der Abteilung für Kunst im Kultusministerium, der aber nicht verwirklicht werden konnte. [16] Hollósy und seine Schüler (Abb. 16) beschlossen zwei Jahre später, im Sommer 1896 in das am Fuße der Karpaten gelegenen Nagybánya zu reisen, um dort zu malen. Obwohl der Aufenthalt zuerst nur als ein gelegentlicher Ausflug geplant war, den zwei von dort stammende Maler Hollósy empfohlen hatten, bestimmte diese Entscheidung die Geschichte der ungarischen Malerei für eine lange Zeit. In den darauf folgenden Jahren gingen neben den ungarischen Schülern von Hollósy viele ausländische Künstler und Künstlerinnen mit ihm, unter anderen die Polen Konrad Krzyżanowski und Edward Okuń, der Schweizer Max Buri oder der Österreicher Richard Gerstl. [17]

Abb. 15

Abb. 16

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Der zurückgezogene, und von den Nagybányaer Künstlern wiederentdeckte Szinyei konnte 1896 den Staffelstab nur symbolisch übergeben, als er im ersten Sommer die an der Künstlerkolonie von Nagybánya arbeitenden Maler und Malerinnen besuchte. Als er aber zum Rektor der Musterzeichenschule ernannt wurde, stützte er sich in erster Linie auf die Künstler von Nagybánya, auf die dortigen neuen Unterrichtsprinzipien und -methoden. Der erste Professor, den er an die Akademie berief, war Károly Ferenczy, die führende Persönlichkeit der Kolonie (Abb. 17).

Abb. 17

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Die nach Nagybánya reisenden ungarischen Künstler führten von da an ein 'zweigeteiltes' Leben: Sie verbrachten den Sommer in Nagybánya, den Winter in München. Für ihre Kunst war in den 1890er-Jahren die allmähliche Entfernung vom Münchener Realismus kennzeichnend. Sie wandten sich zunächst der Darstellung von bäuerlichen Themen in einem so genannten 'feinen Naturalismus', und später – in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts – der Freilichtmalerei zu (Abb. 18). Zu dieser Zeit war der 'Hauptschauplatz' nicht mehr München, sondern bereits Budapest, wo – wie einige Jahre früher in München – eine kleine Gruppe von Künstlern den großen offiziellen Ausstellungen den Rücken kehrte: Die Nagybányaer Künstler brachen mit der konservativen Landesgesellschaft für Bildende Künste, zogen als 'Sezessionisten' aus der Kunsthalle aus und zeigten ihre Werke im Rahmen von Sonderausstellungen dem Publikum. Ab 1903 organisierte der 'Nationale Salon' ('Nemzeti Szalon') in der Reihe 'Moderne ungarische Maler' die Retrospektiven von Károly Ferenczy (1903) und Béla Iványi Grünwald (1906).

Abb. 18

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Wenn man die bis in das Jahr 1912 reichende Periode zusammenfassend betrachtet, lässt sich konstatieren, dass die drei zur Mitte der 1840er-Jahre geborenen Künstler drei unterschiedliche Wege der internationalen und heimischen Karriere verkörperten. Die in den 1850er-Jahren geborene 'zweite' Generation trat gleichzeitig in München beziehungsweise Budapest auf, und trug zur Verbreitung und Popularität des Münchener Realismus in Ungarn bei. Der Großteil der in den 1860er-Jahren geborenen Künstler orientierte sich weniger an der Akademie, sie entdeckten den Naturalismus und probierten 'alternative' Kunstschulen aus. Studien in Hollósys beziehungsweise Anton Ažbes Schulen in München oder an der Académie Julian in Paris sind typisch für die in den 1880ern geborene Generation, deren Mitglieder noch teilweise an der Münchener Akademie studiert hatten, die aber ihre wichtigsten Impulse in ihrer künstlerischen Ausbildung in Nagybánya und Paris erhielten. Ab 1905 stellten sie ihre durch den Fauvismus beeinflussten Werke in Paris und Budapest aus (Abb. 19).

Abb. 19

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München spielte noch aus einem anderen Gesichtspunkt eine bedeutende Rolle in der Entstehung der Budapester Kunstszene. In den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts erschienen in der Zeitschrift 'Kunsthalle' ('Műcsarnok') regelmäßig Berichte aus München. Diese wurden von dem in München lebenden Kritiker Miklós Rózsa geschrieben, der 1899 einen Artikel mit dem Titel 'Der deutsche Kunstmarkt' ('A német műpiac') publizierte. [18] In diesem Aufsatz beschrieb er die Situation des Kunsthandels in Deutschland (in erster Linie in München) als Vorbild für Ungarn beziehungsweise für Budapest. Er erkannte nämlich, dass für das Zustandekommen eines Kunstzentrums die Entwicklung des Kunsthandels maßgebend ist. 1899 musste er noch frustriert feststellen, dass die Lage in Budapest auf diesem Gebiet sehr stark zurückgeblieben war. Es ist kein Zufall, dass die Kálmán Könyves Salon Verlags AG, die am Anfang des 20. Jahrhunderts eine wichtige Rolle in der Unterstützung der modernen Kunstrichtungen spielte, ihre erste Ausstellung 1903 nicht in Ungarn, sondern im Ausland organisierte. Diese Wanderausstellung wurde unter anderem im Otto Helbing Salon in München gezeigt, wo auch Werke der zuvor in München lebenden Repräsentanten der Nagybányaer Künstlerkolonie zur Schau gestellt wurden. [19]

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Genau zehn Jahre nach der Publikation über den deutschen Kunstmarkt gründete Miklós Rózsa den ersten progressiven Künstlerverein mit einem selbständigen Ausstellungsraum in Budapest, der gleichzeitig auch als kunsthändlerisches Unternehmen tätig war. Das Programm des 'Künstlerhauses' ('Művészház') zeigt aber, wie sich das Verhältnis zwischen Budapest und München im Laufe der Zeit verändert hatte (Abb. 20). Zum Abschluss kehren wir zu unserem Ausgangspunkt, 1912 zurück: im Januar diesen Jahres organisierte das Künstlerhaus eine Ausstellung der Wiener 'Neukunstgruppe', in der zum ersten Mal Werke unter anderem von Oskar Kokoschka und Egon Schiele gezeigt wurden. Darunter befanden sich Arbeiten, die aus dem Künstlerhaus nach München zur Ausstellung der Secession reisten. [20]

Abb. 20

Literatur

Edit András / Mária Bernáth (Hg.): Válogatás a nagybányai művészek leveleiből 1893-1944 (Auswahl aus den Briefen der Künstler und Künstlerinnen von Nagybánya 1893-1944), Miskolc, MissionArt Galéria, 1997

Jenő Bittera: A futurista festők mozgalma (Die Bewegung der futuristischen Maler), in: Művészet XI, 1912, 7, 264-268

Katalin Blaskóné Majkó / Annamária Szőke (Hg.): A Mintarajztanodától a Képzőművészeti Főiskoláig (Von der Musterzeichenschule zur Akademie der Bildenden Künste), Budapest, Magyar Képzőművészeti Egyetem (Ungarische Universität für Bildende Künste), 2002

Kat. Nagybánya művészete. Kiállítás a nagybányai művésztelep alapításának 100. évfordulója alkalmából (Die Kunst von Nagybánya. Ausstellung anlässlich des hundertjährigen Jubiläums der Gründung der Künstlerkolonie von Nagybánya), Budapest, Magyar Nemzeti Galéria (Ungarische Nationalgalerie), 1996

Kat. Ungarn und die Münchner Schule. Spitzenwerke aus der Ungarischen Nationalgalerie, Bayerische Vereinsbank, Palais Preysing, München, 1995

Károly Lyka: Réti István (István Réti), in: Művészet XI, 1912, 2, 46-51 (Lyka 1912a)

Károly Lyka: Nagybánya jubileuma (Das Jubiläum von Nagybánya), in: Művészet XI, 1912, 7, 251-255 (Lyka 1912b)

Károly Lyka: Magyar művészélet Münchenben (Ungarisches Künstlerleben in München), Budapest, Művelt Nép Könyvkiadó, 1951

Miklós Rózsa: A német műpiac (Der deutsche Kunstmarkt), in: Műcsarnok II, 1899, 17, 253-255

Katalin Sinkó: A Képzőművészeti Társulat díjai (Die Preise der Gesellschaft für Bildende Künste), in: Kat. Aranyérmek, ezüstkoszorúk. Művészkultusz és műpártolás Magyarországon a 19. században (Goldmedaillen, Silberkränze. Künstlerkult und Mäzenatentum im 19. Jahrhundert in Ungarn), Budapest, Magyar Nemzeti Galéria (Ungarische Nationalgalerie), 1995, 283-312

Miklós Somogyi: Magyarok a müncheni Akadémián 1824-1890 (Ungarn an der Münchner Akademie 1824-1890), in: Művészet XI, 1912, 5, 178-188

Gizella Szatmári: Külföldi növendékek Nagybányán (Ausländische Studenten in Nagybánya), in: Kat. Nagybánya művészete (Die Kunst von Nagybánya), Budapest 1996, 167-178

Károly Sztrakoniczky : Kecskemét, in: Művészet XI, 1912, 10, 395-400

Erika Szurcsikné Molnár: A Könyves Kálmán Műintézet tevékenységének története (Die Geschichte der Kálmán Könyves Verlags AG), in: Ars Hungarica XIII, 1985, 2, 161-180

András Zwickl: Ungarische Malerei 1890-1914, in: Kat. Ungarn. Goldene Jahrhundertwende. Aufbruch in die Moderne. Malerei 1890 bis 1914, Ulmer Museum, Ulm 2000, 8-21

András Zwickl: "Das siegreiche Vordringen der modernen Bestrebungen" – Kunst aus Österreich im Művészház (Künstlerhaus), in: Wilfried Seipel (Hg.): Kat. Zeit des Aufbruchs. Budapest und Wien zwischen Historismus und Avantgarde, Kunsthistorisches Museum Wien, Milano 2003, 513-523

Abbildungen

Abb. 1
Titelblatt der Zeitschrift "Művészet" (Kunst), XI, 1912, 5

Abb. 2
Károly Lyka, 1890er-Jahre, Archiv der Ungarischen Nationalgalerie

Abb. 3
Die "Mintarajztanoda" ("Musterzeichenschule") in Budapest, um 1880, Foto: György Klösz

Abb. 4
Die neue "Műcsarnok" ("Kunsthalle"), um 1904–05, Foto: György Klösz

Abb. 5
Gyula Benczúr, Die Taufe von Vajk (Vajk megkeresztelése), 1875, Öl auf Leinwand, 360 x 245 cm, Ungarische Nationalgalerie, Inv. Nr. 2798

Abb. 6
Pál Szinyei Merse, Lerche (Pacsirta), 1882, Öl auf Leinwand, 163 x 127 cm, Ungarische Nationalgalerie, Inv. Nr. 5098

Abb. 7
Gyula Benczúr, Bacchantin (Bacchánsnő), 1881, Öl auf Leinwand, 211 x 129 cm, Ungarische Nationalgalerie, Inv. Nr. 2784

Abb. 8
Jenő Gyárfás, Bahrgericht (Tetemrehívás), 1881, Öl auf Leinwand, 192,5 x 283,5 cm, Ungarische Nationalgalerie, Inv. Nr. 2777

Abb. 9
Lajos Deák Ébner: Heimkehrende Schnitter (Hazatérő aratók), 1881, Öl auf Leinwand, 99 x 87 cm, Ungarische Nationalgalerie, Inv.Nr. 1658

Abb. 10
Sándor Bihari, Vor dem Dorfrichter (Bíró előtt), 1886, Öl auf Leinwand, 111,2 x 167 cm, Ungarische Nationalgalerie, Inv. Nr. 5204

Abb. 11
Simon Hollósy, Der Toast in der Csárda (Kocsmában mulatozók), 1888, Öl auf Leinwand, 78,5 x 137 cm, Ungarische Nationalgalerie, Inv. Nr. 5554

Abb. 12
Béla Iványi Grünwald, Schwert des Kriegsgottes (Isten kardja), 1890, Öl auf Leinwand, 161 x 150 cm, Ungarische Nationalgalerie, Inv. Nr. 4902

Abb. 13
István Csók, Thuet das zu meinem Angedenken (Ezt cselekedjétek az én emlékezetemre), 1890, Öl auf Leinwand, 137,5 x 111 cm, Ungarische Nationalgalerie, Inv. Nr. 1653

Abb. 14
Gyula Kardos, Interessante Lektüre (Érdekes olvasmány), 1891, Öl auf Holz, 23,5 x 18 cm, Ungarische Nationalgalerie, Inv. Nr. 2852

Abb. 15
Simon Hollósy, Träumerin (Merengő), 1886, Öl auf Holz, 80 x 64,5 cm, Ungarische Nationalgalerie, Inv. Nr. 4934

Abb. 16
Hollósy und seine Schüler, 1890er-Jahre, Archiv der Ungarischen Nationalgalerie

Abb. 17
Károly Ferenczy, Bergpredigt (Hegyi beszéd), 1896, Öl auf Leinwand, 135 x 203 cm, Ungarische Nationalgalerie, Inv. Nr. 6551

Abb. 18
Béla Iványi Grünwald, Wäschetrocknen (Ruhaszárítás), 1903, Öl auf Leinwand, 166 x 133 cm, Ungarische Nationalgalerie, Inv. Nr. 2480

Abb. 19
Sándor Ziffer, Winterlandschaft (Téli táj), um 1910, Öl auf Leinwand, 91,5 x 110 cm, Ungarische Nationalgalerie, Inv. Nr. 60.26 T

Abb. 20
Die erste Ausstellung des "Művészház" (Künstlerhaus) in Budapest, 1909, reproduziert aus: Vasárnapi Újság 56, 1909, 51, 1062

Autor

Dr. András Zwickl
Magyar Nemzeti Galéria (Ungarische Nationalgalerie)
Dísz tér 17.
H – 1014-Budapest
e-mail: zwickl.andras@mng.hu



[1] Somogyi 1912.

[2] Vgl. Bittera 1912; Sztrakoniczky 1912.

[3] Die Künstlerkolonie in Nagybánya (heute: Baia Mare, Rumänien) spielte ab seiner Gründung im Jahr 1896 eine grundlegende Rolle in der Geschichte der modernen ungarischen Kunst. Siehe Kat. Nagybánya 1996.

[4] Lyka 1912a; Lyka 1912b. István Réti unterrichtete zwischen 1914 und 1936 an der Akademie für Bildende Künste in Budapest, ab 1921 war er der Rektor der Schule. 1902 wurde die so genannte Freischule der Künstlerkolonie gegründet, wo die Schüler ohne Aufnahmeprüfung studieren und ihre Lehrer frei auswählen konnten.

[5] Somogyi 1912, 178.

[6] Somogyi 1912, 178.

[7] Somogyi 1912, 88.

[8] Blaskóné Majkó / Szőke 1996.

[9] Zwickl 2000.

[10] Von der bis heute dauernden Bekanntheit und Popularität von Munkácsy zeugt der ungeheuere Erfolg der großen Ausstellung "Munkácsy in the World" in der Ungarischen Nationalgalerie im Jahr 2005, die von mehr als 300.000 Besuchern besichtigt wurde.

[11] Kat. Ungarn und die Münchner Schule 1995.

[12] Sinkó 1995, 298.

[13] Lyka 1951, 69.

[14] Lyka 1951, 9.

[15] Lyka 1951, 30.

[16] Brief von Hollósy an Koronghi Lippich (München, 5. Dezember 1894), András–Bernáth 1997, 10-12.

[17] Szatmári 1996.

[18] Rózsa 1899.

[19] Szurcsikné Molnár 1985.

[20] Zwickl 2003.

Empfohlene Zitierweise:

András Zwickl : "Hauptschauplatz München". Ungarische Künstler und Künstlerinnen in München – Kunst aus München in Ungarn , in: zeitenblicke 5 (2006), Nr. 2, [19.09.2006], URL: https://www.zeitenblicke.de/2006/2/Zwickl/index_html, URN: urn:nbn:de:0009-9-5686

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