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Einer der im Allgemeinen von der historischen Forschung eher wenig beachteten Bereiche der Geschichte Europas in der Frühen Neuzeit ist das Lehnswesen. Dies gilt weniger für die prägende Rolle feudaler Strukturen in den europäischen Gesellschaften teilweise bis über das Ende des Ancien Régime hinaus als für die Bedeutung des Lehnswesens auf dem Gebiet der zwischenstaatlichen - um diesen Begriff hier zunächst einmal unreflektiert zu verwenden - Beziehungen..

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Dass im Mittelalter die Lehnsbeziehungen zwischen den europäischen Fürsten eine erhebliche Bedeutung besitzen konnten, ist in der Forschung natürlich wohl bekannt. Es sei nur daran erinnert, dass Papst Nikolaus II. 1059 die beiden Normannenfürsten Robert Guiscard und Richard von Capua mit ihren bereits gemachten oder noch zu machenden Eroberungen in Süditalien und Sizilien investierte, und an die Lehnsabhängigkeit der englischen von den französischen Königen für ihren Festlandsbesitz. Dass auch in der Neuzeit noch lehnsrechtliche Beziehungen zwischen europäischen Fürsten existierten (so waren Preußen und Kurland polnische Lehen), ist ebenso wenig eine neue Erkenntnis, größere Bedeutung aber wird diesem Faktum im Allgemeinen nicht zugesprochen. Es wird als quantité négligeable, als Kuriosität, als Anachronismus betrachtet und gar nicht erst einer genaueren Untersuchung für wert befunden. Dabei gibt es in der frühneuzeitlichen Geschichte Europas immer wieder Momente, in denen Lehnsbindungen und ihre Auswirkungen eine beachtliche Bedeutung für die politischen Akteure besaßen.

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Eine besonders große Rolle scheinen Lehnsbindungen im Umkreis der ehemaligen mittelalterlichen Universalmächte Papst- und Kaisertum gespielt zu haben: Bis zum Ende blieb das Alte Reich auch ein Lehnsreich, und die kaiserliche Lehnshoheit erstreckte sich bis nach Ober- und Mittelitalien. Ähnliches gilt für das Papsttum: Selbst wenn in der Frühen Neuzeit derart weit reichende Ansprüche wie die Lehnshoheit über England bloße Chimären blieben, in Italien waren die päpstlichen Lehnsansprüche auch jenseits Grenzen des Kirchenstaats ernst zu nehmen, wobei sie nicht selten in Konkurrenz zu kaiserlichen Positionen standen. Zugleich existierten auf dem Gebiet des Kirchenstaats mit Ferrara, Urbino und Castro bis in die Mitte des 17. Jahrhunderts Fürstentümer, deren Herren ungeachtet ihrer Lehnsabhängigkeit vom Heiligen Stuhl eine ähnliche Stellung unter den europäischen Akteuren einnahmen wie die übrigen italienischen Fürsten oder die deutschen Reichsstände.

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Diese knappen Bemerkungen haben einige Anhaltspunkte dafür gegeben, dass päpstliches und kaiserliches Lehnswesen in der frühen Neuzeit möglicherweise eine größere Bedeutung behaupteten, als die historische Forschung ihnen üblicherweise zuzugestehen bereit ist. Die folgenden Überlegungen möchten, ohne Vollständigkeit zu beanspruchen, einige Anregungen geben, wo hier neue Arbeitsfelder eröffnet oder bereits bestehende vertieft werden könnten.

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1). Dass es in der Frühen Neuzeit Lehnsbeziehungen zwischen verschiedenen souveränen oder halbsouveränen Akteuren auf der politischen Bühne Europas gab, war, wie ausgeführt, bekannt. Gegenüber anderen Elementen wurde ihnen jedoch von der Forschung allenfalls eine nachgeordnete Bedeutung zusprach. Wie ist der Stellenwert lehnrechtlicher Faktoren im Einzelfall zu bewerten? Wurden sie von den Zeitgenossen ernst genommen, als Vorwand instrumentalisiert oder beiseite geschoben?

2) In der Frühen Neuzeit pflegten herausragende politische Konflikte und Ereignisse publizistisch begleitet zu werden. Wie ist der publizistische Befund bezüglich der verschiedenen Lehnskonflikte, an denen Papst und Kaiser beteiligt waren?

3) Eine wichtige Frage ist die nach den normativen und institutionellen Bedingungen der Lehnsverhältnisse. Welche lehnsrechtlichen Normen gab es, wer formulierte sie, und wer sorgte für ihre Umsetzung? Welche Institutionen waren mit lehnsrechtlichen Fragen befasst, welchen Stellenwert hatte der Problemkreis Lehnsbeziehungen für diese Institutionen, und welche Rolle spielten diese im Ensemble der Regierungsorgane des Lehnsherrn?

4) In diesem Zusammenhang stellt sich auch das Problem, wie sich das Lehns- zum Völkerrecht verhielt. Wurde es, beispielsweise im Rahmen von Friedensverträgen, völkerrechtlich sanktioniert bzw. in das Völkerrecht integriert, ausdrücklich aufgehoben oder auch stillschweigend beiseite geschoben?

5) Die Neue Kulturgeschichte hat in den letzten Jahren die erhebliche Bedeutung des zuvor von der Forschung traditionell eher als unerheblich eingestuften frühneuzeitlichen Zeremoniells herausgearbeitet und dieses als wichtiges Element einer Kulturgeschichte des Politischen identifiziert. Insbesondere der Belehnungsakt pflegte aufwändig inszeniert zu werden. Welche zeremoniellen Elemente sind bei den päpstlichen und kaiserlichen Investituren zu beobachten, und wie ist ihr Stellenwert einzuschätzen?

6) Neben der Perspektive der Lehnsherren ist auch die Rolle der Vasallen im Blick zu behalten. Wie sahen diese das Lehnsverhältnis? Als lästige, demütigende Fessel, als notwendiges Übel, um einen Besitztitel abzustützen, oder erhofften sie sich Vorteile aus der Lehnsbindung, etwa den effektiven Schutz des Lehnsherrn?

7) Über verschiedene Territorien (z. B. Parma-Piacenza) gab es konkurrierende Lehnsansprüche von Papst und Kaiser. Wie gingen die Vasallen mit einer solchen Situation um? Verhielten sie sich passiv, schlossen sie sich eindeutig an einen der Konkurrenten an? Oder suchten sie diese gegeneinander auszuspielen und sich so womöglich aller Lehnsbindungen zu entledigen?

8) Schließlich ist auch die Rolle der Untertanen eines Lehnsfürstentums im Blick zu behalten. War für diese spürbar, dass es über ihrem Landesherrn noch einen kaiserlichen bzw. päpstlichen Oberherrn gab? Wurden daraus Freiräume gewonnen? Gab es Beschwerden oder gar formelle Anklagen gegen den Landesherrn beim jeweiligen dominus directus?

9) Bei allen angesprochenen Fragen sind die Spezifika der unterschiedlichen Lehnssysteme zu beachten und herauszuarbeiten: Der Papst hatte zwar weltliche Herrschaftsrechte, war jedoch in erster Linie der Summus Pontifex der katholischen Christenheit. Der Kaiser dagegen war trotz seiner heilsgeschichtlichen Funktion als Oberhaupt der Christianitas ein weltlicher Monarch. Zugleich waren die kaiserlichen immer auch Reichslehen, sie lagen alle auf dem Boden des Reichs (einschließlich Reichsitalien), und die deutschen Reichsstände beanspruchten für sie ein Mitspracherecht. Päpstliche Lehen dagegen gab es auch jenseits der Grenzen des Kirchenstaats.

10) Die Epoche der Frühen Neuzeit ist ebenso wenig wie in anderer Hinsicht in Bezug auf das Lehnswesen als erratischer Block zu betrachten. Vielmehr ist davon auszugehen, dass es Entwicklungen gab, dass das päpstliche und das kaiserliche Lehnswesen im frühen 16. Jahrhundert ein anderes Gesicht, ein anderes Gewicht hatten als am Ende des Ancien Régime. Welche Entwicklungen und welche Bedeutungsverschiebungen sind im Einzelnen festzustellen?

11) Wenn man davon ausgeht, dass es Fürsten gab, deren Territorium aufgrund von Lehensbindungen nicht ihr freies Eigentum war, hat dies Folgen für den Souveränitätsbegriff in der Frühen Neuzeit. Dass die deutschen Fürsten als Vasallen des Kaisers nur die "Landeshoheit" besaßen, dass dieser Begriff in französischen Texten jedoch gern als "souveraineté" übersetzt wurde, ist bekannt, ebenso wie das Faktum, dass sie kraft des durch den Westfälischen Frieden bestätigten Bündnisrechts als völkerrechtliche Subjekte agieren konnten, allerdings vorbehaltlich der Treue gegenüber Kaiser und Reich. Aus diesen Beobachtungen ergibt sich die Frage, ob es in der Frühen Neuzeit verschiedene Grade der Souveränität gab, vom einfachen ius territoriale bis zum vollen dominium directum, und nach den Konsequenzen für die jeweiligen politischen Akteure.

12) Schließlich ist zu fragen, ob und wie sich das Bild des europäischen Staatensystems der Frühen Neuzeit bei einer stärkeren Berücksichtigung der Lehnsbeziehungen verändert. Wird – und wenn ja in welcher Weise - die insgesamt zutreffende Beobachtung, dass sich das europäische Staatensystem in der Frühen Neuzeit von einer hierarchischen zu einer egalitären Ordnung gewandelt habe, hierdurch modifiziert? Jedenfalls ist die Fortexistenz lehnsrechtlicher Beziehungen ein Beispiel dafür, dass hierarchische Elemente bis über 1648 hinaus ihre Geltung behielten und dass es Akteure gab, die daran ein erhebliches Interesse hatten – nicht zuletzt Papst und Kaiser als die beiden traditionellen Häupter der christlichen Ökumene.

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Die oben ausgeführten Gedanken lagen dem Studientag "Kaiserliches und päpstliches Lehnswesen in der Frühen Neuzeit / La feudalità imperiale e pontificia nell'Età moderna" zu Grunde, der am 27. Februar 2006 am Deutschen Historischen Institut in Rom stattfand und auf den diese zeitenblicke-Ausgabe zurückgeht. Ich möchte daher auch an dieser Stelle dem DHI und seinem Direktor Professor Dr. Michael Matheus für die Möglichkeit danken, den Studientag zu veranstalten, der ein Höhepunkt meines Jahrs als Gastdozent am DHI gewesen ist. Nur weil alle Referentinnen und Referenten (und ein zusätzlich gewonnener Autor) mir ihre Texte zügig zur Verfügung gestellt haben, ist es möglich geworden, die Tagungsakten so zeitnah zu veröffentlichen. Einen wesentlichen Beitrag dazu haben aber auch meine Mitarbeiterin Frau Dr. Julia Schmidt-Funke, die die Übersetzungen kritisch gegengelesen hat, und die Kölner zeitenblicke-Redaktion unter Leitung von Dr. Michael Kaiser geleistet. Last but not least danke ich meinem Kollegen am DHI Rom Dr. Jochen Johrendt, der mir die zur Bearbeitung meines Themas erforderlichen Wege ins (gar nicht so finstere) Mittelalter eröffnet hat.

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Bewusst habe ich mich zur Übersetzung der italienischen Texte ins Deutsche entschlossen. Auf diese Weise sollen die aus Sprachgründen sonst zumeist nur den Spezialisten zugängliche Welt der italienischen Territorien in der Frühen Neuzeit und die aktuellen Forschungsansätze der italienischen Historiographie einem weiteren deutschen Fachpublikum erschlossen werden.

Mainz, im März 2007

Matthias Schnettger

Empfohlene Zitierweise:

Matthias Schnettger : Päpstliches und kaiserliches Lehnswesen in der Frühen Neuzeit - einige Vorüberlegungen , in: zeitenblicke 6 (2007), Nr. 1, [10.05.2007], URL: https://www.zeitenblicke.de/2007/1/editorial/index_html, URN: urn:nbn:de:0009-9-8190

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