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Bisher ungeahnte Dimensionen des Flüchtlings- und Vertriebenenproblems entstanden im Zusammenhang des Zweiten Weltkrieges, der schätzungsweise 50-60 Millionen Menschen zu Flüchtlingen, Vertriebenen, Deportierten oder Displaced Persons machte. Seit 1938 kam es zu Fluchtbewegungen vor den Truppen des nationalsozialistischen Deutschland, das mit dem Angriff auf die Staaten Ost- und Südosteuropas die demographischen Verhältnisse des Kontinents nachhaltig veränderte. Die massiven Umsiedlungsprozesse von einheimischer Bevölkerung in den besetzten Staaten, Rückführungen von 'Volksdeutschen' und die Verschiebung und Vernichtung der europäischen Juden stehen dabei in einem direkten kausalen Zusammenhang nationalsozialistischer 'Lebensraumpolitik'. Zwangsmigrationen bildeten auch einen Teil der sowjetischen Bevölkerungspolitik während des Krieges, die u.a. polnische, ukrainische, weißrussische und deutsche Menschen zu Vertriebenen machte. Die Vorstellung 'nationaler Homogenisierung' zur Vermeidung internationaler Konflikte hatte bereits in der Zeit zwischen Erstem und Zweitem Weltkrieg sukzessive an Bedeutung gewonnen und entwickelte sich für fast alle internationalen politischen Akteure vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkrieges zum Erfolg versprechenden Instrument staatlicher Bevölkerungspolitik. Gegen Kriegsende und in der frühen Nachkriegszeit entwickelte sich die größte Zwangsmigrationsbewegung: die Vertreibung der Deutschen aus den ehemaligen Ostgebieten des Deutschen Reiches und aus den deutschen Siedlungsgebieten in Ost-, Ostmittel- und Südosteuropa.

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Während des Kalten Krieges wurden die Zwangsmigrationsprozesse selektiv tradiert und politisch instrumentalisiert. Während die deutschen Vertriebenen in ihrem Hauptaufnahmeland – der Bundesrepublik Deutschland – als klassische Opfergruppe zusammen mit den Kriegs- und Bombengeschädigten den Mythos von Deutschland als einer Opfergesellschaft manifestierten, blieben die übrigen europäischen Migrationsprozesse der Vergangenheit und Gegenwart in der Nachkriegszeit zumeist unberücksichtigt. Erst die Auseinandersetzungen um das ostpolitische Vertragswerk der sozial-liberalen Koalition, das das außenpolitische Paradigma der Westbindung um die Ostverbindung ergänzte, führten auch zu einer verstärkten, wenngleich fragmenthaften nationalen und bilateralen Auseinandersetzung mit dem Problem der Zwangsmigrationen nach 1938.

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Die weltpolitische Wende, die durch das Ende des Ost-West-Konfliktes nach 1989 markiert ist, bewirkte innerhalb des politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Transformationsprozesses in den ehemaligen Ostblockstaaten ebenso wie in ganz Europa eine wesentliche Veränderung des Diskursklimas in Bezug auf Flucht und Vertreibung: auch beeinflusst vom Phänomen der Vertriebenen im ehemaligen Jugoslawien im letzten Jahrzehnt hat die Thematik der erzwungenen Migrationen langsam aber nachhaltig Eingang in breitere nationale und internationale, politische und öffentliche Diskussionszusammenhänge gefunden.

Projektbeschreibung

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Diese Debatten über Zwangsmigrationen wurden in einem komparativen, länderübergreifenden Projekt des Collegium Carolinum, das sich in einem Forschungsschwerpunkt "Gedächtnis und Erinnerung" auch der Untersuchung von Geschichtskulturen widmet, analysiert.
Im Zentrum der Untersuchungen des Projektes, das im Rahmen des Forschungsverbundes Ost- und Südosteuropa verankert war, stand die vergleichende Analyse der über die Zwangsmigrationen der Jahre 1938 bis 1950 in Polen, der Slowakei, Slowenien, Tschechien und Ungarn geführten Debatten, wobei der zeitliche Schwerpunkt auf den Jahren seit 1989 lag. Deutschland und Österreich dienten als weitere Vergleichsfälle, die im Zug der Projektarbeiten um zwei weitere Staaten, nämlich Italien und Kroatien, ergänzt wurden. Bei mehreren Tagungen, Workshops und Einzelvorträgen wurde daher der Anspruch, die Debatten über die bislang fast ausschließlich reflektierten Fälle Polen und Tschechien hinaus zu behandeln, weitgehend verwirklicht.

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Die Leitfragen des Projektes orientierten sich ursprünglich an der Unterscheidung von binnennationalen, bilateralen und europäischen Narrativen, Trägergruppen, Milieus und diskursiven Strukturen. Diese Fragen erwiesen sich jedoch bei der Projektarbeit in Teilen als zu schematisch, so dass die Debatten um die Zwangsmigrationen der Jahre 1938-1950 deshalb vielmehr als Teil eines Transformationsprozesses verstanden wurden, der an europäischen Vorgaben orientiert ist. Die ursprünglich im Fokus gelegene trans- und übernationale Vernetzung der Diskurse war jedoch weit weniger gegeben, als zu Projektbeginn – angesichts der öffentlichen Eskalation in den Jahren 2002 und 2003 – zu vermuten war. Relevanter für die Projektarbeit war die Analyse nationaler Deutungs- und Erinnerungshorizonte und ihrer innenpolitischen Instrumentalisierung.

Projektergebnisse

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Was die Einzelergebnisse des Projekts betrifft, kann festgehalten werden, dass die Ausgangsthese, wonach die Diskussionen in den untersuchten Ländern sowohl hinsichtlich der Funktionalisierung des Themas als auch in Bezug auf die Intensität und den Grad an Meinungspluralisierung stark voneinander abweichen, im Laufe der Projektarbeit bestätigt werden konnte.
Die Diskurse über Zwangsmigrationen 1938-1950 erwiesen sich in den untersuchten Ländern als weitgehend national strukturiert. Das bedeutet, dass die eigene sprachnational definierte Gruppe im Zentrum des Narrativs stand und im Rückgriff auf tradierte Geschichtsbilder aus ihrer Sicht die Chronologie der Ereignisse festgelegt, Kausalitätsbeziehungen hergestellt und Opfer-Täter-Zuordnungen vorgenommen wurden. Diese nationalen Diskurse waren zwar durch einzelne Themen (z.B. "Zentrum gegen Vertreibungen") und diskursive Ereignisse (etwa das Interview Miloš Zemans Ende Januar 2002 im österreichischen Magazin "Profil") aufeinander bezogen, entwickelten sich jedoch davon abgesehen weitgehend autonom. Ganz allgemein kann festgehalten werden, dass die jeweiligen nationalen Diskurse identitätsbildend ausgerichtet waren: Der Versuch, den „negativen Erinnerungshaushalt“ zu entlasten, korrespondierte mit der Anstrengung, unkritische Selbstbilder zu verfestigen, nicht zuletzt in Form positiv aufgeladener Opfergedächtnisse.

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Leitend für die Dynamisierung und Abschwächung der Debatten waren in erster Linie innenpolitische Motive (v.a. Wahlkämpfe). Die transnationale Verkettung der Debatten über Zwangsmigrationen im Frühjahr 2002 erscheint aufgrund der Detailanalyse daher eher als Ausnahme.

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Im Vergleich zur Transformation in Wirtschaft und Recht waren die meisten Debatten insgesamt durch eine nachholende Selbstvergewisserung gekennzeichnet, die ein Gesellschaftsbild entwarf, das eher Gruppenvorstellungen der frühen 1950er Jahre entsprach: Selbst in kritischen Debattenbeiträgen wurde die eigene nationale Gesellschaft nicht als staatsbürgerliche, sondern als ethnisch-kulturelle Gemeinschaft definiert. Vielfach suggerierten Debattenbeiträge, dass ethnisch-kulturelle Differenz potentiell immer von destabilisierender Wirkung sei und die Zwangsaussiedlungen durch das herbeigeführte Ergebnis insgesamt als positiv bewertet werden könnten.
Auffallend gering war in den untersuchten Debatten demgegenüber die Thematisierung von Außenfaktoren jenseits bilateraler Kontexte. So fielen z.B. in den meisten Beispielfällen direkte Bezugnahmen auf die z.T. zeitgleich stattfindenden Ereignisse in Ex-Jugoslawien oder den europäischen Integrationsprozess erstaunlich marginal aus.

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Wenn das Ergebnis des Projektes in Hinblick auf den europäischen Integrationsprozess bewertet werden soll, so ergeben sich durch die Projektarbeit einige Perspektiven auf eine Didaktik transnationaler Erinnerung. Soweit festgestellt werden konnte, erfüllten bislang gesamteuropäische Verweise eher eine Funktion als Legitimationsmittel zur Stützung eigener innen- bzw. identitätspolitischer Positionen. Von einer integrierten transnationalen Sicht auf Zwangsmigration als einem europäischen Diskurs kann demgegenüber erst in Ansätzen gesprochen werden.

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Was die Bedeutung der Debatten über Zwangsmigration für den Integrationsaspekt betrifft, kommt das Projekt zu dem Ergebnis, dass es für eine gesamteuropäische Erinnerung und Darstellung von Zwangsmigrationen zweckmäßig wäre, Opfer- und Täterbilder zu individualisieren und ihre hermetische nationale Zuordnung zu hinterfragen, andererseits einen vergleichenden regionalen Zugang zu stärken, der es auch ermöglichen würde, bisher marginalisierte Gruppen verstärkt in die Betrachtungen mit einzubeziehen.

Weiterführung der Ergebnisse

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Als besonders Gewinn bringend für die Projektarbeit hat sich die Teilnahme an verschiedenen Gesprächen und Konzeptionierungsrunden erwiesen, die sich mit Fragen der didaktischen Aufbereitung des Themas Zwangsmigrationen und den geschichtspolitischen Facetten auseinander setzten. Hier liegt wahrscheinlich auch der potentiell nachhaltigste Effekt in Bezug auf die Praxisrelevanz des Projekts: wie bereits die Mitarbeit an Weiterbildungskursen für bayerische Lehrer gezeigt hat, ist die Nachfrage nach einer adäquaten Versorgung mit Basiswissen im internationalen Vergleich enorm groß. Die geplante didaktisch orientierte Aufbereitung des Materials kann dazu beitragen, dass ein grundsätzliches Ziel des Projekts erreicht wird, das wiederum direkt mit den wissenschaftlichen Projektinhalten verknüpft ist: den Dialog zu suchen und ihn nicht einfach als gegeben anzunehmen.
Die geschilderten Ergebnisse haben zur Entwicklung eines neuen Forschungsprojekts geführt, das sich mit deutschen, slowakischen und tschechischen Opferdiskursen beschäftigen wird und damit zentrale Aspekte des hier vorgestellten Projekts aufnimmt und weiter diskutiert.

Autor:

K. Erik Franzen
Collegium Carolinum
Hochstr. 8
81669 München
erik.franzen@extern.lrz-muenchen.de

Empfohlene Zitierweise:

K. Erik Franzen : Zwangsmigrationen im Kontext des Zweiten Weltkrieges , in: zeitenblicke 6 (2007), Nr. 2, [24.12.2007], URL: https://www.zeitenblicke.de/2007/2/projekt_franzen/index_html, URN: urn:nbn:de:0009-9-12438

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