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Der deutsche Anthropologe und Naturwissenschaftler Robert Lehmann-Nitsche trug während seiner Forschungs- und Lehrtätigkeit in Argentinien seine Ergebnisse über Kultur, Archäologie, Ethnologie und Folklore in einer Sammlung zusammen, welche zum heutigen Zeitpunkt im Iberoamerikanischen Institut (IAI) der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Berlin, sowie in Teilen im Ethnologischen Museum SMB, Berlin, aufbewahrt wird. Der einzigartige Fundus aus Bild-, Schrift- und Audiodokumenten ist bislang weitgehend unbearbeitet geblieben, doch es bestehen aktuell verschiedene Projekte zu ausgewählten Fragestellungen. Insbesondere für die noch junge Disziplin der Historischen Bildforschung bietet der Nachlass außerordentlich gute Voraussetzungen zur Erforschung der fotografischen Quellen und ihrer Kontextualisierung mit Hilfe der Korrespondenz und eignet sich außerdem hervorragend für einen Vergleich der Ergebnisse mit denen weiterer Projekte.

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Der am 9. November 1872 in Radonitz, Posen, geborene Robert Lehmann-Nitsche studierte in München und Hamburg Naturwissenschaften, Anthropologie und Medizin. Als Fünfundzwanzigjähriger übernahm er die Leitung der Abteilung für Anthropologie am Museo de la Plata in La Plata. Zudem wurde ihm die Organisation der Lehre dieses Faches in Argentinien angetragen. Lehmann-Nitsche hielt sich während seiner gesamten Schaffensperiode in Argentinien auf, betätigte sich als Forscher, als Kustos und in der universitären Lehre. Auf seinen zahlreichen Reisen in den Jahren 1900 bis 1926 trug er Material über Kultur und Lebensweisen der verschiedenen ethnischen Gruppen zusammen. Seine Beobachtungen arbeitete er wissenschaftlich auf, seine Publikationen belaufen sich auf insgesamt über 350 Werke. Er beschäftigte sich vorzugsweise mit Themen aus den Bereichen Folklore, Ethnologie und Ethnolinguistik. Seine Witwe, Juliane Dillenius, verkaufte dem IAI Teile des umfangreichen Nachlasses nach Lehmann-Nitsches Tod (8. April 1938 in Berlin).

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Der im IAI befindliche Teil des Nachlasses umfasst circa 5.500 Blatt Korrespondenz, daneben Manuskripte, Notizen und Zeitungsausschnitte. Zudem lagern hier schätzungsweise 2.200 Bilddokumente (Fotografien, Fotonegative, Postkarten) sowie die Biblioteca Criolla, eine in ihrem Umfang einzigartige Sammlung von Trivialliteratur in Form sog. folletos, sehr günstige und massenhaft produzierte Heftchen. Das Ethnologische Museum bewahrt Wachswalzen mit Musikaufnahmen auf; bald sollen diese in Teilen auf CD verfügbar sein. Das IAI konnte dank der Unterstützung durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) im Sommer 2007 mit der wissenschaftlichen Erschließung des Nachlasses beginnen. Parallel dazu sollen in einem wissenschaftlichen Projekt an der Universität zu Köln die Fotografien und die Korrespondenz im Hinblick auf zentrale Fragestellungen zum Imaginarium deutscher Wissenschaftler zu Südamerika ausgewertet werden.

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Die Aufarbeitung der fotografischen Dokumente ist Gegenstand der Historischen Bildforschung. Diese beschäftigt sich mit Bildquellen inklusive Fotografien und kann kulturelle Eigenheiten und Stereotypen bei Motivwahl, Bildgestaltung und zeitgenössischer Rezeption aufdecken. Der Nachlass Lehmann-Nitsche ist für die Historische Bildforschung aus zwei Gründen interessant: Zum einen unterscheiden sich die Fotografien in der Ausgestaltung der Motive; zum anderen lassen sie sich durch die vorhandene Korrespondenz weitgehend kontextualisieren, was in solch hohem Maße bei fotografischen Quellen nur selten möglich ist.

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Robert Lehmann-Nitsche erwarb und machte auch selbst Fotografien und Negative, die Mitglieder indigener Gruppen sowie Landschaftsaufnahmen zeigen. Im IAI liegen beispielsweise Fotoserien aus dem Nordwesten Argentiniens, aus der Stadt San Pedro de Jujuy, sowie von einer Reise in den Süden des Landes, nach Patagonien, die von Lehmann-Nitsche selbst aufgenommen wurden. Besonders die Portraitserie indigener Zuckerrohrarbeiter in Jujuy sticht daraus hervor, da hier die Personen, obwohl diese den zeitgenössischen Abbildungskonventionen entsprechend posieren, stark individuelle Züge zeigen.

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Ganz anders hingegen die Postkartenserie La Colección Boggiani de Tipos indígenas de Sudamérica Central, die Lehmann-Nitsche nach dem Tod des Fotografen Guido Boggiani herausgegeben hat. Diese Abbildungen zeigen, entsprechend der sogen. Typen-Darstellung, ausschließlich entindividualisierte Stereotypen, anhand derer sich die Vorurteile der einheimischen Käuferschaft gegenüber diesen ethnischen Gruppen rekonstruieren lassen. Solche Fotografien und Postkarten sollten es den interessierten Zeitgenossen ermöglichen, sich mittels Bildtafeln ein in ihren Augen naturgetreues Abbild der ethnischen Realität ihres Heimatlandes zu konstruieren.

Bild 1

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Die fotografischen Quellen der Reise Lehmann-Nitsches nach Patagonien, die ebenfalls in Form einer Postkartenserie ediert wurden, sind hingegen weniger eindeutig. Sie zeigen die Landschaft, einzelne Seehäfen und Mitglieder verschiedener sozialer Gruppen, darunter auch Indigene, welche teils typisierend, teils eher individuell aufgenommen wurden. Verschiedene Aufnahmen zeigen Kleingruppen von Indigenen, welche sich bereits nach europäischer Art kleiden, jedoch weiter in ihrem angestammten Lebensraum oder aber in Missionsstationen der Salesianer wohnen.

Bild 2

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Der Bildbestand des Nachlasses vermittelt also z.T. gegensätzliche Aussagen: einerseits die ethnologisch genaue Wiedergabe einer vorgefundenen Gesellschaft, andererseits die Bedienung eines Massenpublikums mit rassistischen Vorurteilen. Die Bildinhalte sollen nun mit der Korrespondenz und weiteren Dokumenten des Nachlasses in Beziehung gesetzt werden. Dabei wird folgender Frage nachgegangen: Weshalb fertigte Lehmann-Nitsche die Aufnahmen im jeweiligen Stil an? Ebenso ließe sich auch in interdisziplinärer Zusammenarbeit ein Vergleich der fotografischen mit den Audioquellen ziehen. Hierbei gilt es beispielsweise zu beantworten, ob die Aufzeichnung visueller und auditiver Eindrücke der indigenen Kulturen Argentiniens einer übergreifenden Methodik folgen, so wie sie zwanzig Jahre nach Lehmann-Nitsches Wirken von Oswald Menghin in Argentinien praktiziert wurde. Die Tonaufnahmen aus den Jahren 1905 bis 1909, mit denen Lehmann-Nitsche musikalische Beiträge unterschiedlicher indigener Volksgruppen in der Region um La Plata aufzeichnete, bearbeitet derzeit der Musikethnologe Miguel García, Buenos Aires.

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Zum weiteren Bearbeitungsstand des Nachlasses sei die Arbeit der argentinischen Literaturwissenschaftlerin Gloria Chicote, La Plata, erwähnt. Sie wertet aktuell die Biblioteca Criolla aus. Diese Sammlung umfasst, wie oben erwähnt, einen weltweit einzigartigen und nahezu vollständigen Querschnitt durch die zeitgenössische Trivialliteratur in Form sog. folletos, billige und massenhaft produzierte Heftchen. Die große Nachfrage nach solchen folletos ergab sich aus der fortschreitenden Alphabetisierung der Bevölkerung und der damit einhergehenden Entstehung literarischer Märkte für triviale Textproduktionen. Die Biblioteca Criolla erlaubt nun die Untersuchung der Veränderung gesamtgesellschaftlicher Lesegewohnheiten im Zuge der Alphabetisierungskampagnen als Beispiel für einen kulturellen Wandlungsprozess innerhalb einer von Einwanderung geprägten Gesellschaft um die vorletzte Jahrhundertwende. Die literarischen Nachlassanteile sind bereits in die bibliothekarischen Bestände des IAI aufgenommen und damit der internationalen Forschung zugänglich gemacht worden.

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Die Erschließung und Katalogisierung des Nachlasses von Robert Lehmann-Nitsche durch das IAI in Berlin sowie die zukünftige Verfügbarkeit dieser Daten über das Internet werden bei der Beantwortung solcher interdisziplinärer Forschungsfragen an jenes Konvolut zusätzlich von großem Nutzen sein. Die digitale Inventarisierung der verschiedenartigen Quellen als museale Sammelbestände kann von den laufenden Projekten sofort genutzt werden und erleichtert auch deren internationale wie interdisziplinäre Verknüpfung. Eine gemeinsame Vorstellung der Ergebnisse im Anschluss an die Forschungsarbeiten würde eine gute Möglichkeit auch für IAI und DFG darstellen, die Fortschritte ihrer Bemühungen um den Nachlass Lehmann-Nitsche zusammenfassend beurteilen zu können.

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Auswahlbibliografie:
Patricia Arenas: Antropología en la Argentina. El aporte de los científicos de habla alemana, Buenos Aires (Institución Cultural Argentino-Germana) 1991.
Demetrio Brisset: La fotografía etnográfica: Algunas problemas, in: Anales del Museo Nacional de Antropología, Heft 5 (1998), 159–186.
Adolfo Prieto: El discurso criollista en la formación de la Argentina moderna (Editorial Sudamericana, Colección Historia y cultura), Buenos Aires 1988.

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Links zum Thema:
Ibero-Amerikanisches Institut der Stiftung Preußischer Kulturbesitz (Berlin) http://www.iai.spk-berlin.de.
Web-Museum der Salesianer auf Feuerland, Argentinien: http://www.misionrg.com.ar/museo.htm.

Autorinnen

Prof. Dr. Barbara Potthast
Kathrin Reinert, Dipl. Reg. Wiss.
Iberische und Lateinamerikanische Abteilung des Historischen Seminars der Universität zu Köln
Albertus- Magnus-Platz
D-50923 Köln
e-mail: barbara.potthast@uni-koeln.de
e-mail: kathrin_reinert(at)gmx.net

Empfohlene Zitierweise:

Barbara Potthast / Kathrin Reinert : Der Nachlass Robert Lehmann-Nitsche. Erschließung und Bearbeitung eines medial breit gefächerten Bestands , in: zeitenblicke 7, Nr. 2, [01.10.2008], URL: https://www.zeitenblicke.de/2008/2/projektskizze/index_html, URN: urn:nbn:de:0009-9-15412

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