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Abstracts

Christina Benninhaus: Brennende Sehnsüchte, heimliche Ängste – Kinderlosigkeit, Vererbung und Adoption im naturalistischen Roman um 1900, in: zeitenblicke 7 (2008), Nr. 3.

Unfruchtbarkeit war um 1900 ein bekanntes Phänomen. Es wurde sowohl in der medizinischen Fachpresse, wie in den biopolitischen Debatten des frühen 20. Jahrhunderts aufgegriffen. Dennoch sind Quellen, in denen sich Reaktionen auf die eigene Unfruchtbarkeit spiegeln, äußerst selten. In Anlehnung an Luc Boltanskis neue Studie über die Tabuisierung von Abtreibung setzt der folgende Beitrag bei eben jenem Schweigen an, das das Phänomen der Unfruchtbarkeit damals umgab und bis heute umgibt. Dieses diskursive Vakuum lässt sich, so meine These, als Ausdruck eines allgemein ambivalenten Verhältnisses zu Mutterschaft und Vaterschaft, Kinderlosigkeit und Adoption interpretieren. Mittels einer Analyse von Clara Viebigs Bestseller-Roman „Einer Mutter Sohn“ (erschienen 1906) kann die vielgestaltige zeitgenössische Bedeutung von Unfruchtbarkeit sichtbar gemacht werden. Der Roman kreist um die Frage des Stellenwerts der Veranlagung für die Entwicklung des Menschen. Dazu erzählt er die Geschichte eines kinderlosen bürgerlichen Paares, das den Sohn einer armen Witwe adoptiert. Aufgrund des klaren Bekenntnisses der Autorin zum Naturalismus gewähren das Buch und die Resonanz, die es erzielte, umfassende Einblicke in die damalige Wahrnehmung ungewollter Kinderlosigkeit. Als prägend für das zeitgenössische Verständnis von Unfruchtbarkeit erweisen sich dabei abgesehen vom medizinischen Befund vor allem Diskurse über die geschlechtsspezifische Bedeutung von Elternschaft, mögliche Vorzüge von Kinderlosigkeit und über die sozialen wie moralischen Probleme von Pflegeelternschaft und Adoption.

 

Anita Gertiser: Der Schrecken wohnt im Schönen: Darstellung devianter Sexualität in den Aufklärungsfilmen zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten der 1920er-Jahre, in: zeitenblicke 7 (2008), Nr. 3.

Als nach Ende des Ersten Weltkrieges eine epidemische Verbreitung der Geschlechtskrankheiten drohte, suchten die Mediziner die Gefahr durch eine systematische Aufklärung weiter Bevölkerungskreise zu bannen. Erklärtes Ziel der Ärzte war es, die Menschen objektiv und wissenschaftlich genau zu belehren und dadurch die Geschlechtskrankheiten von ihrer Stigmatisierung zu befreien. Filme spielten bei der Vermittlung der Kenntnisse eine zentrale Rolle. Sie hatten eine zweifache Aufgabe zu erfüllen: Über die handelnden Figuren sollte dem Zuschauer medizinisch-wissenschaftliches Wissen vermittelt werden. Zugleich sollten diese zu einem angemessenen sexuellen Verhalten animieren. Letzteres versuchte man in den Filmen über fiktionale Episoden zu erreichen, die erzieherisch wirken sollten. Doch gerade diesbezüglich griffen die Filmemacher auf frühere Konzepte der sittlich-moralischen Bekämpfungsstrategien zurück. Vor allem im Dispositiv der Infektion zeigt sich, dass Darstellung und Rezeption tradierten Mustern folgten. Der vorliegende Aufsatz konzentriert sich daher auf die mediale Inszenierung der Ansteckung. Wie gezeigt werden soll, war diese ganz eng an die Darstellung der Frauenfiguren geknüpft, die eine Schlüsselrolle bei der Übertragung der Krankheit spielten.

 

Heiko Stoff: Hormongeschichten. Wie sie in den Jahren 1928 bis 1954 von den Wissenschaftsjournalisten Walter Finkler und Gerhard Venzmer erzählt wurden, in: zeitenblicke 7 (2008), Nr. 3.

Wissenschaftserzählungen sind von großer Bedeutung für die Akzeptanz und Dauerhaftigkeit experimentell erarbeiteter Dinge. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde ein Zeitschriftenmarkt etabliert, welcher wissenschaftlichen Experten verschiedener Fachgebiete zur Veröffentlichung neuerer Forschungsergebnisse offen stand. Parallel dazu schrieben Journalisten in fein unterschiedenen Publikationsreihen und Monatsschriften an Wissenschaftsgeschichten, die nicht an die Regeln der wissenschaftlichen Gemeinschaft gebunden waren. Zwei bekannte Wissenschaftsjournalisten im deutschsprachigen Raum waren Walter Finkler und Gerhard Venzmer. Finkler, selbst Biologe, der sich jedoch durch eine Publikation über spektakuläre Kopftransplantationen bei Insekten wissenschaftlich diskreditiert hatte, veröffentlichte seit Ende der 1920er Jahre vor allem in den Publikationsorganen der sexualreformerisch orientierten Nacktkulturbewegung zu den neuesten Innovationen der Hormonforschung. In seinen lebendig erzählten Hormongeschichten reüssierten die Sexualhormone als Potentiale der physiologischen Optimierung. Der Österreicher Finkler proklamierte bis zu seiner Emigration im Jahre 1938 ein egalitäres und konsumistisches Anrecht auf die individuelle Verbesserung der biologischen Disposition durch hormontherapeutischen Einsatz. Venzmer hingegen, der in den viel gelesenen Kosmos-Heften publizierte, vertrat eine endokrine Typologie, die als unausweichliches Verhältnis von Disposition und Konstitution konzipiert war. Seine Publikationen der 1930er, 1940er und 1950er Jahre erklärten einerseits das komplexe Gefüge hormoneller Steuerungsvorgänge als quasi-industrielle Prozesse, um andererseits Klassifizierungen und Identifizierungen hierarchischer Differenzen zu konstituieren. Venzmers Hormongeschichten, welche sich in die nationalsozialistische Selektionslogik einpassten, postulierten in Deutschland bis in die 1950er Jahre hinein das Konzept der Sexualhormone als normgestaltende Botenstoffe.

 

Ramon Reichert: Erotisch-voyeuristische Visualisierungstechniken im Röntgenfilm, in: zeitenblicke 7 (2008), Nr. 3.

Das Zusammenspiel von Röntgen- und Kinotechnik führte um 1900 zur Verallgemeinerung und Popularisierung des klinischen Blicks in das verborgene Körperinnere des Menschen. Es waren jedoch weniger die technischen Rahmenbedingungen im Abbildungsvorgang, sondern spezifische Referenzbilder der klassisch-bürgerlichen Sexualmoral, die zur vordergründigen didaktischen Evidenzstiftung und Aufmerksamkeitssteigerung benutzt wurden. Erotisch-voyeuristische Kinotechniken popularisierten das männliche Blickregime unter die Haut und überlagerten das klinische Röntgenbild mit geschlechtlichen Inszenierungen.

 

Franz X. Eder: "Auf die 'gesunde Sinnlichkeit' der Nationalsozialisten folgte der Einfluss der Amerikaner": Sexualität und Medien vom Nationalsozialismus bis zur Sexuellen Revolution, in: zeitenblicke 7 (2008), Nr. 3.

Im deutschsprachigen Raum kam es schon in den 1940er bis frühen 1960er Jahren – trotz der insgesamt sexualrepressiven öffentlichen Meinung – zu einer 'positiven' Sexualisierung und prosexuellen Anreizung durch Diskurse und Medialisierungen. Vorbereitet wurde diese Entwicklung durch die pronatalistische Ausrichtung der nationalsozialistischen Sexualideologie. In der heterosexuellen Begierde bzw. ihrer Pflege und Befriedigung unter 'Ariern' sah das NS-Regime ein Potential zur politischen Befriedung, zur Stabilisierung der Familie und zur alltäglichen Realisierung der NS-Gesellschaftsideologie sowie der sie durchziehenden Geschlechterdifferenz. In den 1950er Jahren galten Erotik und Sex als Inbegriff des (wenn auch noch zukünftigen) besseren Lebens, als leicht verfügbare Erlebnismöglichkeit und Verheißung des “American way of life“ sowie der näher rückenden Konsumgesellschaft nach westlichem Vorbild. Trotz der christlich-konservativen Familiennorm und einer auf den ehelichen Koitus zugeschnittenen Sexualmoral hatten Männer und Frauen ohne größere Schwierigkeiten Zugang zu erotischen und sexuellen Informationen und Anregungen zur Erotisierung der Ehe. Das galt auch für Verhütungsmittel, erotische Literatur und Fotos, die durch den Versandhandel in Millionen Haushalte gelangten. Die fortschreitende Sexualisierung des Konsumierens, die Popularisierung der Kinsey-Reports durch Zeitungen und Illustrierte und die Erotisierung der Eheratgeberliteratur machten den Sex schon vor der sogenannten “Sexuellen Revolution“ zu einem heißen Thema. Auch die Verbreitung der Pille und die ersten Aufklärungsfilme trugen zu seinem positiven 'Image’ bei. Ab Mitte der 1960er Jahre mutierte die sexuelle Liberalisierung und gleichzeitig kontrollierte Erzeugung und Vermarktung von sexuellen Bedürfnissen rasch zu einer 'Sexwelle’. Die “sexuelle Revolution“ der späten 1960er und der 1970er Jahre war so gesehen (auch) die nachträgliche Liberalisierung einer Sexualordnung, die sich im Verhalten und den Einstellungen vieler Menschen schon seit Jahren 'revolutioniert’ hatte.

 

Sabine Maasen und Annika Wellmann: Sex im Boulevard. Die Konstruktion (sexual-)wissenschaftlichen Wissens in der schweizerischen Boulevardzeitung Blick 1980-2000, in: zeitenblicke 7 (2008), Nr. 3.

Am Beispiel der schweizerischen Boulevardzeitung 'Blick' geht der Artikel der Frage nach, wie während der 1980er und 1990er Jahre in einem populären Massenmedium Wissen über das Sexuelle hervorgebracht wurde und was seine Spezifizität ausmacht. Es zeigt sich, dass die Angebote der Wissensvermittlung in diesem Medium während dieses Zeitraums nicht nur zunahmen, sondern dass sie sich überdies auf die Form der Beratung und die Sozialfigur der beratend tätigen Journalistin konzentrierten. Auf diese Weise verbinden sich therapeutische, sexualwissenschaftliche und psychoanalytische Diskurse in einem informierend-orientierenden Modus der Kommunikation. Sexualberatung im Boulevard unterstützt im Wesentlichen zwei Imperative: Optimierung von Sex und vertrauensvolle Sexualpartnerschaft. Die Spezifizität des so konstituierten Wissens besteht dabei in Folgendem: Autorisiert durch wissenschaftliches Wissen und professionelle Expertise setzt sich partnerschaftliche Sexualität als Norm und normal durch. Darüber hinaus hält es die LeserInnen dazu an, sich in sexuellen ebenso wie in anderen Dingen mit Hilfe von Beratung selbst zu führen.

 

Julia Helene Diekämper: Die Reproduktion als Wille und Vorstellung. Reproduktionsmedizin in den Printmedien Ende des 20. Jahrhunderts, in: zeitenblicke 7 (2008), Nr. 3.

Dieser Beitrag analysiert Medienbeiträge über die Reproduktionsmedizin aus der ZEIT und dem SPIEGEL der Jahre 1992 bis 2005. In diesem Zeitraum war die Aufregung um das erste “Retortenbaby“ Louise Brown längst verklungen, und es stellt sich die Frage, wie die Medien mit einer etablierten und gesellschaftlich anerkannten Reproduktionsmedizin umgehen. Diese Frage untersuche ich in Bezug auf die alte Verbindung von Sexualität und Fortpflanzung. So gilt es die Beobachtung zu erklären, dass in der Berichterstattung Sexualität kaum auftaucht und Fortpflanzung aufgrund dessen als planbarer, technischer und de-sexualisierter Akt verhandelt wird, der sowohl von biologischen als auch gesellschaftlichen Determinationen emanzipiert erscheint. Meine These lautet dagegen, dass diese Trennung nur oberflächlich existiert und Sexualität und Fortpflanzung subkutan verbunden bleiben.

 

Barbara Orland: Virtuelle Schwangerschaften. Medienhistorische Einordnung aktueller Formate pränataler Bildgebung, in: zeitenblicke 7 (2008), Nr. 3.

Weltweit strahlten Fernsehkanäle in den letzten Jahren Dokumentarfilme über die vorgeburtliche Entwicklung menschlichen Lebens aus. Mit Hilfe neuester Technik wie 3D- und 4D-Ultraschall, Computergrafik und digitaler Animationstechnik, so versprachen die Produzenten, sollten spektakuläre neue Einblicke in den Uterus möglich werden. Anliegen meines Beitrags ist es, diese „virtuellen Schwangerschaften“ in eine jahrhundertealte Mediengeschichte pränataler Bildgebung einzuordnen und kritisch zu diskutieren. Die Schwangerschaft ist ein per se antivisuelles Phänomen, das immer dann Fragen nach Authentizität, Glaubwürdigkeit und sichtbaren Beweisen aufgeworfen hat, wenn die Technikentwicklung bisherige Ansichten in Frage stellte. Neueste Filmproduktionen müssen sich wie ihre Vorgänger diesen Wechselwirkungen zwischen Visualisierungstechnik, Bildtraditionen und den Kontingenzen leiblicher Erfahrung stellen. Wie ich zeigen möchte, wird digitalen Filmproduktion dadurch Evidenz verliehen, dass sie konsequent eingeführte visuelle Standards vorgeburtlicher Bildgebung verwenden. Figürliche Schemata des Ungeborenen, Embryonenmodelle, die bildliche Montage von Entwicklungsstadien und das Narrativ einer Zeitreise sind lange eingeführte Bildstandards, die helfen, die Spannungen zwischen Dokumentation und Fiktion im digitalen Film weitgehend aufzulösen.

 

Stefanie Duttweiler: Frequently asked questions: Sexualberatung im Internet, in: zeitenblicke 7 (2008), Nr. 3.

Wie wird Sexualität im Internet problematisiert und verhandelt? Dies ist die Frage, die im Folgenden ausgelotet werden soll. Dabei geht dieser Beitrag von der theoretischen Vorannahme aus, dass die Kommunikationsbedingungen die Redeweisen über Sexualität fundamental prägen: Das heißt, die Form der Kommunikation (hier: die Beratung), die Materialität der Kommunikation (hier: das Medium Internet) sowie das Format der Kommunikation (hier: E-mail und Foren) beeinflussen den Diskurs über Sexualität. Alle diese Kommunikationsbedingungen strukturieren die Möglichkeiten, Sexualität als öffentliches Thema zu problematisieren und damit zugleich die private Weise, über die eigene Sexualität und sich selbst zu sprechen. Manche Dinge lassen sich unter diesen Bedingungen aussprechen, ja es wird geradezu verlangt, anderes wird dagegen eingeschränkt oder verunmöglicht. Die zu verfolgende These lautet daher: Das Zusammenspiel der Form der Beratung, des Mediums Internet und der dort möglichen Formate der Kommunikation strukturiert die Diskurse und lässt sexuelle Probleme lösbar erscheinen. Damit verändert sich Sexualität, respektive abweichende Sexualität von einem fixen Kern der Identität zu etwas, das einen mehr oder weniger zentralen Platz in der unendlichen Reihe möglicher Angriffspunkte der Selbstverbesserung einnimmt.

 

Erstellt von: RedaktionZB
Zuletzt verändert: 2008-12-19 10:42 AM