DiPP NRW
zeitenblicke
Direkt zum Inhalt
Sektionen

 

<1>

Die Geschichte des Films und die der Röntgenstrahlen überkreuzten sich erstmals im Jahr 1895: Im November dieses Jahres entdeckte Wilhelm Röntgen "eine neue Art von Strahlen" jenseits der Reichweite des Auges. [1] Ein paar Wochen später, am 28. Dezember, fand im indischen Salon des Grand Café in Paris die erste bezahlte Vorführung von Bildern des Kinematographen von Louis Lumière statt. Beiden Ereignissen wurde ein enthusiastischer Empfang bereitet. Binnen kürzester Zeit ergaben sich verschiedenste Anschlussmöglichkeiten und es entstand ein vielfältiger Anwendungsraum, in dem sich wissenschaftliche, kulturelle und wirtschaftliche Praktiken begegneten. [2] Röntgentechnik und Film trafen zum Jahreswechsel 1896/97 aufeinander, als der schottische Arzt John Macintyre einen Röntgenfilm anfertigte und als erster die kinematographische Methode in der Radiologie anwandte. [3] Die erste Vorführung seiner Filme fand im April 1897 vor der Glasgow Philosophical Society statt. Macintyre nutzte den über das akademische Interesse hinausgehenden Schauwert der Röntgenfilme und führte sie im gleichen Jahr als Spektakel der Ladies' Night in den Räumlichkeiten der Royal Society in London vor.

<2>

Im Zusammenspiel eröffneten Kinematographie und Röntgentechnik ein neues Paradigma der Visibilität und waren bald in die diagnostischen Verfahren der Sichtbarmachung eingebunden. [4] Ungeachtet des technischen Aufwands der Bildgebung mit Crookes’schen Vakuumröhren und fotografischen Platten sorgte zunächst die Röntgenfotografie für eine neue Repräsentationskultur des Körperinneren. [5] Die Röntgentechnik wurde sehr rasch an die medizinischen Visualisierungspraktiken der räumlichen Lokalisierung von Krankheiten angeschlossen, [6] und als Speicher- und Übertragungsmedien wissenschaftlicher Evidenz wurden fotografische und filmische Röntgenaufnahmen zur evidenzstiftenden Autorität bei der ärztlichen Diagnose. [7] Beide Medientechnologien waren maßgeblich an der Durchsetzung eines neuen medizinischen Blicks auf und in den Körper beteiligt, der seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zusehends von technischen Medien abhängig wurde. Ihre Karriere beschränkte sich jedoch keineswegs auf ihren wissenschaftlichen Gebrauch. Mehr als andere medizinische Visualisierungstechniken, Bildverarbeitungs- und Speichersysteme prägten die bildgebenden Verfahren der Röntgentechnik die Wahrnehmungskultur der Moderne. [8] Röntgenbilder faszinierten eine auf Illumination und Transparenz, auf Wahrheit und Anschaulichkeit fixierte Popularkultur aufgrund ihrer Verheißung, das Unsichtbare in seiner 'Unmittelbarkeit' sichtbar zu machen. [9] Im Unterschied zur fotografischen Aufnahme verfügten jedoch die Literatur und der Film über erzählerische Spielräume, mit denen den ungewöhnlich neuen Bildern vom Körperinneren ein ästhetischer Eigenwert zugewiesen werden konnte, der über die effektiv diagnostische Lesbarkeit und funktionelle Zweckmäßigkeit des Körperbaus hinausging.

<3>

Als erster griff der Romancier H. G. Wells das Röntgen-Paradigma auf und machte die Praxis der technischen Sichtbarmachung des Körpers zum literarischen Topos. Im Zentrum seines 1897 veröffentlichten Romans "The Invisible Man" steht ein moralisch korrupter Wissenschaftler, der seine Erfindungen zur unheilvollen Machtausübung zu nutzen beabsichtigt. Wells bediente sich einer Umkehrung der Logik der Röntgenstrahlen, um seine Neuorientierung des Körper- und Wahrnehmungskonzeptes zu plausibilisieren. Während es bei Röntgens Entdeckung um Strahlen ging, die weder refraktieren noch reflektieren, modellierte Wells in seiner Wissenschaftsliteratur einen Körper, der das normale Licht weder bricht noch zurückwirft. Im gleichen Jahr karikierte Georges Méliès in seinem einminütigen Film Les Rayons Roentgen (F 1897) die Faszination und Begeisterung, mit der in Frankreich das Röntgenverfahren aufgenommen wurde. In seiner Farce erzählt er die Geschichte eines Patienten, der vom Arzt geröntgt wird, worauf sich sein Skelett vom Körper löst und zu Boden fällt. Der erboste Patient beginnt mit dem Arzt zu streiten, bis der schließlich explodiert. Von Méliès inspiriert drehte der viktorianische Schauspieler Albert Smith wenige Monate später den Trickfilm The X-Ray Friend (1897). Dieser Film knüpfte erstmals ein narratives Band zwischen der neuen Röntgentechnik und einem erotischen und voyeuristischen Begehren zwischen ärztlichen Prozeduren und einem männlichen Forscherblick. Im Zentrum der Handlung steht ein junges Paar, welches sich auf einer Bank umarmt. Ein Wissenschaftler vom Typ eines 'Mad Scientist' schleicht sich an das Liebespaar heran, schaltet den Röntgenapparat ein und transformiert visuell das Liebespaar in zwei sich umarmende Skelette. Mit diesem Plot spielt der Film mit der sozialen Zensur von Sexualität im öffentlichen Raum und mit dem Image einer 'desillusionierenden' und 'todbringenden' Technologie.

<4>

Bereits wenige Monate nach der Entdeckung der 'neuen Art von Strahlen' geisterten im Januar 1896 Meldungen von rätselhaften "X-Strahlen" durch die Tagespresse und bald darauf zierten Röntgenbilder ihre Titelseiten. Röntgenbilder fungierten binnen kürzester Zeit als einflussreiche Kommunikationsmedien und wurden auf divergierende Weise rezipiert. Die geheimnisvollen "X-Strahlen" verloren in den Anwendungspraktiken politischer Interessen rasch ihren epistemischen Status und wurden als Symbole und Bildmetaphern sozialer Transparenz gebraucht. 1898 erschien in "Der neue Postillon" eine Karikatur, in der die Fahndung nach Anarchisten durch die Bundesanwaltschaft als röntgentechnische "Durchleuchtung" dargestellt wird (Abb. 1). Nachhaltiger als andere Bildtraditionen in der Wissenschafts- und Technikgeschichte etablierten populäre Aneignungspraktiken der Röntgenbilder eine Veränderung der Körper- und Krankheitswahrnehmung. Ihre Popularität war weniger in der Einführung der Technik selbst, sondern vielmehr darin begründet, dass die Bilder unterdeterminiert und daher für alle möglichen Lektüren zugänglich waren.

<5>

Wechseln wissenschaftliche Bilder ihren Kontext und werden von einem Laienpublikum rezipiert, verlieren sie ihren innerdisziplinären Zeichencharakter. Aufgrund ihrer vieldeutigen Referentialität und ihrer Anschlussfähigkeit an Bildtraditionen eignen sich vor allem Röntgenbilder dafür, nicht gelesen, sondern betrachtet zu werden. Röntgenbilder im Krankenhaus und im Kino beziehen sich auf diametral entgegengesetzte Wahrnehmungspraktiken. Im klinischen Lehrbuchwissen werden bis heute Röntgenbilder aus diagnostischen Motiven durch Handzeichnungen und ikonische Zeichen ersetzt, von denen man sich ein besseres Verständnis erhofft. Während der Arzt versucht, das Röntgenbild entlang bestimmter Regeln zu lesen, um eine "referentielle Genauigkeit" [10] sicher zu stellen, betrachtet das Kinopublikum Röntgenaufnahmen als Bilder in ihrer Gesamtheit. Anstelle des Lesens tritt die Betrachtung und mit dieser kulturellen Praxis löst sich das Wissenschaftsbild von seiner textuellen Verankerung. Die Kunst der Popularkultur besteht nun darin, aus Bildern, die sie selbst nicht herstellen kann, etwas zu machen, das der "popularen Produktivität" [11], aber nicht der wissenschaftlich-technologischen Produktivität entspricht. Im historischen Auftauchen "wildernder Praktiken" [12] und temporärer Entgrenzungsstrategien [13] lösen sich die wissenschaftlichen Bilder aus ihrem diskursgeschichtlichen Kontext und setzen sich zu eigenen und autonomen Bildobjekten zusammen. Medizinische Visualisierungen wie das Röntgenbild erhalten durch die Bedeutungsverschiebung im Prozess ihrer Popularisierung eine "artifizielle Präsenz" [14], womit sich ihr epistemischer Status ändert. An die Stelle der hermeneutischen Disziplin des Verstehens tritt eine imaginäre Anschlussfähigkeit im Prozess des Betrachtens: die Bilder können beliebig oft anders gelesen werden. Im Folgenden geht es weniger um die Konstruktion wissenschaftlicher Zeichen als vielmehr um die Befragung wissenschaftlicher Bilder vom Bild her. [15] Das eröffnet die Möglichkeit, den wissenschaftlichen Diskurs als Bildraum zu thematisieren, in dem die Genese geschlechtsspezifischer Konstruktionen nachgezeichnet werden kann.

<6>

Popularisierende Röntgenfilme steigerten ihre Nachfrage oft mit der Vision, die letzten "Geheimnisse des Lebens" jenseits einer oberflächlichen Geschlechtlichkeit sichtbar zu machen. Weil die Kinematographie der Sichtbarmachung aber konstitutiv in eine geschlechterpolitisch motivierte Bildpolitik involviert ist, kann sie nicht einmal im Ansatz auf ein einheitliches Bild des Menschen hinauslaufen. Röntgenblick und Kamerablick haben eine bemerkenswerte Gemeinsamkeit: beide sind männlich konnotiert. Die Inbesitznahme der Fähigkeit, mit Röntgenblick die Welt und die Röcke der Frauen zu durchdringen, ist bis heute ein ungebrochenes Privileg männlicher Superhelden. In dieser Hinsicht verwundert es umso mehr, dass die bisherige Literatur genderbasierte Repräsentationskulturen des Röntgenblicks weitgehend vernachlässigt hat. [16]

<7>

Die Ästhetisierung des Röntgenblicks zählt seit Röntgens Erfindung der 'anderen Strahlen' zu einem Gemeinplatz der Popularkultur [17] und findet sich in den unterschiedlichsten Medien und Medienformaten wieder: vom H.G. Wells Roman "The Invisible Man" von 1897, seiner Verfilmung im Jahr 1957 mit dem Titel Invisible Man (1957), dem Man with the X-Ray-Eyes (1963) bis zur Comic- und Filmfigur des Superman (1978). Der Prozess der Sichtbarmachung wird im populären "X-ray Cinema" [18] häufig geschlechtsspezifisch kodiert. Filmische Darstellungen und narrative Verfahren transportieren dabei alltagskulturelle Konzepte von Männlichkeit und Weiblichkeit. Um sichtbar zu werden, benutzt die Frau in The Invisible Man Puder aus ihrer Puderdose, den sie sich über den Körper streut, während der männliche Protagonist seinen Körper mit Rasierschaum überzieht. Exakt das selbe geschlechterspezifische Stereotyp wird auch in dem populärwissenschaftlichen Lehrfilm The Inside Story (USA circa 1955) angewandt, dessen Gegenstand der praktische Anwendungsbereich der Röntgenstrahlen ist.

Röntgenstrahlen (1937) und The Inside Story (1955)

<8>

Im Jahr 1937 drehte der Schweizer Regisseur und Kameramann Martin Rikli einen seiner zahlreichen populärwissenschaftlichen Filme: Röntgenstrahlen. Weitere naturwissenschaftliche Lehrfilme folgten in den nächsten Jahren. Sie trugen Titel wie Radium (1939/40), Vom Schießen und Treffen (1940) oder Windige Probleme (1941) und sollten den seit den Anfängen des Kulturfilms staatlicherseits geförderten und gewünschten Anspruch erfüllen, Wissenschafts- und Technikbilder zu popularisieren. Röntgenstrahlen entstand im Auftrag der Berliner Ufa-Kulturabteilung und in Zusammenarbeit mit Robert Janker, der ein indirektes Verfahren entwickelt hatte, Röntgenstrahlen auf einem Schirmbild sichtbar zu machen und in eine kinematographisch brauchbare Leuchtstärke zu transformieren. [19] Im Auftrag der "Reichsstelle für den Unterrichtsfilm" drehte der Bonner Professor für Chirurgie und Ordinarius für Radiologie, Janker, bereits seit 1936 fünf medizinische Röntgen-Lehrfilme zum menschlichen Skelettsystem, zum Verdauungssystem und zu Herz und Atmung. Die medizinischen Lehrfilme von Janker wurden im Rahmen von Vorlesungen und im Unterricht allgemeinbildender Schulen vorgeführt. Begleitend zu den Filmvorführungen verfasste Janker zwei Broschüren zum "Verdauungssystem" und zur "Herztätigkeit und Atmung beim Menschen" [20], aus denen die Lehrperson während der Vorführung der stummen Filme vorzulesen hatte. In den Begleittexten beschrieb Janker die technische Nutzung der "neuen Strahlen" zur Sichtbarmachung des Körperinneren:
"Dieser Fortschritt beruht auf der Eigenschaft der neuen Strahlen, undurchsichtige Körper zu durchdringen, und ähnlich wie das Licht die photographische Schicht zu verändern bzw. Fluoreszenzkörper zum Leuchten zu bringen." [21]

<9>

Die Akzeptanz der obligatorisch als Beiprogramm vor dem Hauptfilm gespielten Kurzfilme war jedoch beim Publikum nicht sehr groß. Die ohne filmische Anreize gedrehten Lehrfilme von Janker konnte die Ufa-Kulturabteilung nicht als Beiprogramm im Kino einsetzen und beauftragte daher Martin Rikli, die Filme von Janker für die Sehkonventionen im Kino zu adaptieren und dementsprechend nach den Prinzipien von Attraktion und Sensation zu überarbeiten. Um die Zuseher für Wissenschaftsdiskurse zu begeistern, führte Rikli das Thema der Röntgentechnik eng an die Alltagskultur heran. [22] Von Janker übernahm er die Methode des indirekten Verfahrens und filmte die Bilder der mit Röntgenstrahlen durchleuchteten Körper vom Leuchtschirm mit einem lichtstarken Objektiv ab. Zu Beginn knüpfte Rikli zwar an die Lehrfilmtradition an und behandelte die technische Erfindung der Röntgenstrahlen durch Wilhelm Röntgen im Jahr 1895 (Abb. 2), doch bald verließ er den engen akademischen Rahmen ihrer Anwendungsgebiete in den Bereichen der Medizin, Technik und Kunst und inszenierte im Filmstudio der Universitätsklinik in Bonn gewöhnliche und alltägliche Tätigkeiten vor der Kamera: das Laufen von Mäusen im Laufrad, eine Katze beim Fressen, ein Ei legendes Huhn, das Blasen einer Trompete, das Spielen einer Harfe, das Gehen mit genagelten Schuhen, Sprechvorgänge und das Schreiben eines Briefes. 'Sensationsbilder' wie die Aufnahmen mit einem Schwertschlucker ließen sich aus technischen Gründen nicht realisieren. [23] Riklis Film über die Röntgenstrahlen wurde bei den Filmfestspielen in Venedig uraufgeführt und erhielt dort den ersten Preis für den besten wissenschaftlichen Film. [24]

<10>

In diesem mit Synchronton aufgenommenen Bilderreigen ist auch eine Frau beim Schminken zu sehen. Die Aufnahme zeigt eine junge, blonde Frau im Profil, die in einen Handspiegel blickt und sich ihre Lippen rot schminkt (Abb. 3). Auf diese Realfilmaufnahme folgt eine Röntgenaufnahme der gleichen Szene, mit welcher die markanten Bildelemente durch schwarze Schatten hervorgehoben werden: der Spiegel, der Lippenstift, der Ehering, die Knochen der weiblichen Darstellerin (Abb. 4). Die in der Realfilmaufnahme dominierende weiße Gesichtsfarbe vor schwarzem Hintergrund verwandelt die Röntgenaufnahme in ein schemenhaftes Schwarz. Mit diesem Einstellungswechsel werden nicht einfach die Farben Schwarz und Weiß getauscht, sondern die Röntgenaufnahme transformiert die gesamte körperliche Präsenz des weiblichen Gesichts in eine immaterielle Silhouette.

<11>

Visuelle Popularisierungen der Röntgentechnik rekurrierten wiederholt auf das Motiv der Frau beim Schminken, das bereits im Bildband "Durchleuchtete Körper" [25] abgedruckt wurde. Dieses Sujet durchläuft in populärwissenschaftlichen Lehrfilmen eine Bildkarriere und findet sich in einer ähnlichen Einstellung im Film The Inside Story (USA 1955), der von einer Gruppe von Radiologen in Rochester hergestellt und von Paramount produziert wurde. Wie die Filmhistorikerin Lisa Cartwright in "Screening the Body" nachweist, hat sich neben vielen anderen kleineren Gruppen in den USA und Kanada ein 'Rochester Team' Mitte der 1940er Jahre formiert, um gemeinsam medizinisch-diagnostische und unterhaltsam-populäre Filme herzustellen. [26] Während des Zweiten Weltkrieges schloss sich der Arzt, Filmproduzent und Avantgardefilmer James Sibley Watson, dessen eigene Arbeiten vom Rikli-Film Röntgenstrahlen beeinflusst wurden, dem erlesenen Klub der Radiologen an. In ihrem 21-minütigen Dokumentarfilm Dr. Watson's X-Rays (USA 1990) kontextualisiert die feministische Filmemacherin Barbara Hammer die Röntgen-Experimentalfilme von Watson mit genderbezogenen Recherchen und interviewt in diesem Zusammenhang Cartwright. [27] Watson bildet also das entscheidende Scharnier für die Bildmigration der schminkenden Frau. Durch ihn konnte das Radiologenteam in Rochester die Arbeiten der deutschen Röntgenkinematographie rezipieren. In ihrer Arbeit über Watson erwähnt Cartwright allerdings lediglich die Arbeiten von Robert Janker. Obwohl sie selbst Stills der schminkenden Frau aus The Inside Story in ihrem Buch abbildet, die das Motiv aus Röntgenstrahlen nachstellen (Abb. 5, 6), findet der Name Martin Rikli keine Erwähnung. [28] Es geht hier aber nicht darum, dem Namen Rikli in der Filmgeschichtsschreibung den ihm 'gebührlichen' Platz zuzuweisen, sondern im Gegenteil darum, sich über die Kontinuitäten männlicher Signifizierungspraktiken Klarheit zu verschaffen. Welche Funktion hat die Frau beim Schminken für die kulturgeschichtliche Kodierung von Weiblichkeit? Welchen Stellenwert hat dabei der männliche Röntgenblick? Zunächst beweist die Bildmigration der Schminkszene, dass Gender-Stereotypen in der Wissenschaftsinszenierung einen über mehrere Jahrzehnte andauernden fixen Bezugspunkt bilden und damit die Ordnung von Geschlechterverhältnissen visuell stabilisieren. Diese Ordnung ist vermittels der Dyade von männlichem Sehen (Röntgenblick) und weiblichem Gesehen-Werden asymmetrisch strukturiert. Ihren Kommentar zur schminkenden Frau in The Inside Story beschränkt Cartwright auf den treffenden Satz:
"In another reel, a woman gazes into a compact as she applies lipstick, her image gradually dissolving into an X ray. In this case, the X ray preserves rather than strips away signs of sexual difference (in the form of her feminine accoutrements – the compact and lipstick tube) along with her bones." [29]

<12>

Diese Einschätzung aufnehmend, möchte ich nachfolgend näher auf die kulturgeschichtliche Dimension zwischen instrumenteller Sichtbarmachung, Geschlechterkonstruktion und Bildtraditionen eingehen. Eine Mediengeschichte der medizinischen Visualisierung, die sich vermittels der Bildanalyse der kulturalistischen Perspektive zuwendet, fragt nach dem Geschlecht des Visuellen und versteht daher Bildkritik als Machtanalyse kultureller Praktiken.

Die Vanitas-Allegorie

<13>

Die Konfrontation von Leben und Tod stellt ein Leitmotiv in der Geschichte der medialen Repräsentation der Röntgenstrahlen dar. Wenige Monate nach Röntgens Erfindung wurde das Röntgenbild der Hand der russischen Zarin veröffentlicht. Die Medienspezifik des Röntgenbildes machte ein Menschbild salonfähig, das auf steinerne Knochen und schattenhafte Organe reduziert war. Mit dem Sujet des durchleuchteten Körpers erzeugten technische Bilder eine Todesnähe. Damit schienen sie der Individualität des Menschen diametral entgegenzustehen und ihm jeglichen Anschein von Innerlichkeit zu nehmen.“ Die Röntgentechnik beanspruchte den Status einer von Klasse und Stand unabhängigen Universaltechnik. Die medientechnisch evozierten Bilder des sterblichen Menschen schockierten die Öffentlichkeit. Erstmals stand eine Medientechnik zur Verfügung, welche die Porträtierten von ihrer sozialen Herkunft, ihrem Status und ihrer Körperlichkeit loslöste.

<14>

Seit den ersten Veröffentlichungen in der Tagespresse entfesselten sich am Röntgenbild Wahrnehmungsdiskurse vom todgeweihten Körper und der sozial nivellierenden Wirkung von Röntgenstrahlen. Ein medientechnisches Dispositiv wie das Röntgenbild wurde kurzerhand zum Memento-mori-Motiv der Moderne. Im Zeitalter der Medialisierung des Alltags wurde die Röntgenszene in Thomas Manns "Der Zauberberg" umgehend dem literarischen Kanon zugerechnet, wenn es um die Imagination des Todes ging. Die Hauptfigur des Romans, Hans Castorp, sah sich "durch die Kraft des Lichtes [...] zersetzt, vertilgt, zu nichtigem Nebel gelöst". [30]

<15>

Populärwissenschaftliche Filme wie Röntgenstrahlen und The Inside Story versuchten hingegen die latente Todesbedrohung, die vom Röntgenblick und seinen medialen Derivaten ausging, im Changieren zwischen Unterhaltung und Spezialwissen zu besänftigen. In ihrer Bildstrategie versuchten die Filme, die 'Verstrahlung' und ihr symbolisches Potenzial zur sozialen Nivellierung wieder rückgängig zu machen. Dabei sollten bedrohliche Wissenschafts- und Technikbilder sukzessive abgebaut und mit vertrauten Motiven, Emblemen und allegorisch-bildlichen Darstellungen verflochten werden. Die Wiedereinsetzung affirmativer Wissenschafts- und Technikbilder rekurrierte auf bewährte Bildtraditionen und gebrauchte dabei stereotype Frauenbilder. Sowohl Röntgenstrahlen als auch The Inside Story zeigen eine Szene, in der eine Frau zu sehen ist, die ihre Lippen schminkt und dabei in den Spiegel blickt. Eine darauffolgende Einstellung zeigt ein Röntgenbild derselben Frau, die im Unterschied zur vorangegangenen Aufnahme den Blick auf die Knochen der Hand und des Schädels freigibt. Beide Darstellungen spielen auf die Ikonographie der Vanitas und das vieldeutige Symbol des Spiegels an, wie sie von den schönen Künsten seit der Antike tradiert werden:
"Nicht nur Wissenschaften und Künste, Staats- und Tugendideale, sondern auch Orts-, Raum- oder Zeit-Vorstellungen wurden jahrhundertlang in Körperbildern – und damit zwangsläufig geschlechtsspezifisch repräsentiert und propagiert. Die 'Ikonologien' [...] wie sie seit dem 16. Jahrhundert publiziert wurden, haben die Übersetzungscodes von Zeichen und Bedeutung systematisch reguliert und die allegorischen Rätsel lexikalisch verfügbar gemacht. So wurde ein Arsenal von geläufigen Personifikationen zusammengestellt, andere wurden neu geschaffen." [31]

<16>

Die Allegorie als literarisches und visuelles Verfahren ist seit der griechischen und römischen Antike bekannt. Der Begriff "Allegorie" bedeutet wörtlich "Anderssagen" (lateinisch alia oratio; griechisch allos, anders und agoreúein, in der Öffentlichkeit sagen) und meint eine "andere" Bedeutungsschicht, die parallel zur wörtlichen Bedeutung existiert. In allgemeiner Hinsicht kann die Allegorie als eine sinnliche oder verstandesmäßige Verbildlichung eines abstrakten Begriffs aufgefasst werden. Allegorische Visualisierungen zielen auf Klarheit, Anschaulichkeit und Plausibilität allgemeiner Vorstellungen und Ideen. Selbst für Hegel, der in seiner Theorie der Ästhetik die Allegorie als eine unzureichende Form der künstlerischen Darstellungsweise betrachtete, bestand ihre Leistung darin, allgemeine abstrakte Zustände oder Eigenschaften als Subjekt darzustellen:
"Ihr […] Geschäft besteht deshalb darin, allgemeine abstrakte Zustände oder Eigenschaften sowohl aus der menschlichen als auch der natürlichen Welt - Religion, Liebe, Gerechtigkeit, Zwietracht, Ruhm, Krieg, Frieden, Frühling, Sommer, Herbst, Winter, Tod, Fama - zu personifizieren und somit als ein Subjekt aufzufassen." [32]

<17>

Neben den bekannten Allegorien in der Mythologie und den schönen Künsten personifizierten weibliche Figuren auch technische Erfindungen – eine visuelle Kultur, die sich im ausgehenden 19. Jahrhundert größter Beliebtheit erfreute. Dazu gehört das Gemälde Elektrizität von Ludwig Kandler, das er 1883 im Auftrag der Firma Schuckert malte. Es zeigt eine vom Himmel zur Erde schreitende "Lichtträgerin", die von telefonierenden Putti begleitet wird und wissenschaftlichen Fortschritt und Machtanspruch repräsentiert. Mit den kulturellen und historischen Zusammenhängen, aus denen heraus die Weiblichkeitsallegorien geschaffen wurden, konnte die unbegrenzte und unbewältigte Technik als 'vertraut' und 'domestiziert' in Szene gesetzt werden. Kandlers "Lichtträgerin" wurde in der Öffentlichkeit euphorisch aufgenommen und löste eine immense Nachfrage nach Weiblichkeitsallegorien aus. [33]

<18>

Eine motivgeschichtliche Bildanalyse der symbolisch und allegorisch argumentierenden Röntgenfilme macht Mechanismen der Übertragung von der Wissenschaft in die Populärkultur sichtbar und wirft ergänzend die Frage nach einem didaktischen Wissensraum auf, den Filme unterschiedlicher Zeiten und unterschiedlicher nationaler Zugehörigkeit frequentieren, um Wissen für ein Laienpublikum zu kommunizieren. Die Suche nach einer Domestizierung des mit vieldeutigen Todesmetaphern gesättigten Röntgenbildes führte im Versuch, die Röntgentechnik symbolisch zu verorten, zur traditionellen Weiblichkeitsallegorie der Vanitas. In "Monuments and Maidens. The Allegory of the Female Form" schreibt Marina Warner über die Repräsentation imaginärer Gemeinschaftlichkeit durch Weiblichkeitsallegorien:
"Die weibliche Gestalt wird tendenziell wahrgenommen als allgemein und universell, mit symbolischen Hintergedanken. Die männliche hingegen als individuell, selbst dann, wenn sie dazu benutzt wird, eine verallgemeinernde Vorstellung zum Ausdruck zu bringen." [34]

<19>

In der allegorischen Darstellung geht es folglich um eine Allgemeingültigkeit, mit der normative Prinzipien als handlungsanleitend inszeniert werden. Der weibliche Körper wird als ein Vehikel von Idealen stilisiert, um das Bedrohungsbild mortifizierender Röntgenstrahlen in einer weiblichen Allegorie zu verlebendigen. Als Bildmotiv von Vanitas-Allegorien etablierten sich seit Jahrhunderten die sogenannten Toiletteszenen, die eine dem zeitgemäßen Schönheitsideal entsprechende Frau vor dem Spiegel zeigten. In seiner moralischen Verwendung wurde der Spiegel in den Allegorien der Sünden stets negativ eingesetzt und konnotierte 'Unkeuschheit', 'Eitelkeit' und 'Stolz', die an die 'Schönheit', 'Jugendlichkeit', 'Begehrlichkeit' und 'Selbstverliebtheit' der Frau gekoppelt waren. Dabei überwog die 'selbstgefällige Eigenbetrachtung' die kontemplative Funktion des 'Sich-Widerspiegelns'. Durch die Verknüpfung der Vanitas-Allegorie mit dem Spiegelmotiv wurde ein Frauenbild entworfen, in dem sich ein 'eitler' Selbstbezug als schöner Schein entlarven sollte. Spiegelszenen kommunizierten stets auch eine normative Vanitas-Idee: Die in den Spiegel blickende Frau gelangt zu der Erkenntnis, dass er als Medium keines ihrer Bilder speichern kann. Diese Versuchsanordnung leitet das Motiv der Vergänglichkeit vom Scheitern ab, ein Bild der Frau herzustellen, das Bestand hat.

<20>

Im Unterschied zur Verflüchtigung weiblicher Identität in der Virtualität des Spiegelbildes, wird in der Ikonographie des Röntgenbildes erst mit dem technischen Vollzug der Röntgenstrahlen die Vergänglichkeit des Frauenkörpers nachgewiesen. Die Röntgentechnik wird von ihrem wissenschaftlichen Gebrauchskontext gelöst und zur moralischen Instanz stilisiert. Die Röntgenaufnahme wird zur Instanz der moralischen Entlarvung und sorgt in visueller Hinsicht für eine medientechnisch hergestellte Entkörperlichung der Frau. Der männliche Röntgenblick, der selbst nicht dem Gezeigten zugehörig ist, vollzieht eine Demonstration und zeigt den Körper der Frau als sterbliche Hülle ohne Beständigkeit. Mit der filmischen Inszenierung eines quasi-göttlichen Röntgenblicks, dem sich nicht bloß der Frauenkörper, sondern alle Lebensphänomene und Gegenstände als durchlässig (und willfährig) darbieten, wird die geschlechtliche Ordnung zwischen dem abwesenden männlichen Blick und dem durchleuchteten Körper der Frau zusätzlich aufgewertet. Dem männlichen Blick korrespondiert ein Weiblich-Werden der gesamten Serie von Röntgenbildern.

<21>

Die Vanitas-Allegorie im Lehrfilm fungiert über ihren geschlechterspezifischen Kontext hinausgehend auch als rhetorische Kommunikationsfigur zur Steigerung der Aufmerksamkeit. Filme wie Röntgenstrahlen und The Inside Story benutzen die Wiedererkennung der weiblichen Personifikation der Eitelkeit und Vergänglichkeit aus dem Fundus der europäischen Kunst- und Kulturgeschichte für eine didaktisch motivierte Aufmerksamkeitssteuerung des Betrachters. Auf einer anderen Ebene betrachtet, sollte mit dem Aufbau einer kulturellen Semantik der Vanitas-Allegorie die Verwandlung des durch die Röntgentechnik hergestellten abstrakten Körperbildes in ein vertrautes Bildmotiv vollzogen werden.

<22>

Eine weitere Aufnahme in Röntgenstrahlen zeigt eine Hand im Röntgenblick. Was auf dem Schattenbild nicht sichtbar ist, wird durch den Zwischentitel (und in einer späteren Fassung durch den Off-Kommentar) explizit als "Damenhand" bezeichnet: die Skeletthände erhalten somit eine geschlechtsspezifische Zuordnung. Wilhelm Conrad Röntgen hat durch die Motivwahl einer Hand (inklusive Ehering!) seiner Frau Berta eine stilprägende Bildikone etabliert, die in der Folge als Referenzaufnahme wiederholt nachgeahmt wurde und damit einen Wiedererkennungseffekt evozierte. Hände avancierten seit den ersten Veröffentlichungen von Röntgenbildern in wissenschaftlichen Abhandlungen und populären Zeitschriften zu einem außerordentlich geschätzten Sujet: "Für die Wahl der Hand sprechen einerseits technische Gegebenheiten wie die kurze Expositionszeit und die Vorraussetzungen für scharfe Schattenkonturen." [35] Röntgenblicke unter die Haut ermöglichen dem klinischen Blick des Arztes, was bislang dem Anatomen vorenthalten war: einen sezierenden Einblick in das verborgene Körperinnere des Menschen. Es waren jedoch nicht nur technische Konstellationen im Abbildungsvorgang, die zur breiten Anerkennung des Sujets führten, sondern es war der geschlechtsspezifische Bezugsrahmen, mit dem die visuelle Repräsentation des Körperinneren auf vertraute Weise repräsentiert und – mit einer zusätzlichen narrativen Dramatisierung versehen – in Szene gesetzt wurde. Seit Röntgens Bildmotivik der Ehefrau verorten Diskurse in wissenschaftlichen Abhandlungen und populären Zeitschriften Röntgenbilder in geschlechtsspezifischen Kontexten und gehen dabei von einem aktiven Sehen aus, das der männlichen Expertenkultur zugeordnet ist, und einem passiven Gesehen-Werden, mit dem der weibliche Körper als Materie, Bau und Funktion objektiviert wird.

<23>

Diese Beispiele zeigen, dass die visuelle Repräsentation der Röntgenaufnahme sowohl in der Fotografie als auch im Film nicht dem Konstruktionsmodus einer biologisch "determinierten" Geschlechterdifferenz folgen kann, da die Bilder selbst keine eindeutig lesbaren Geschlechtszeichen demonstrieren. Einer der ersten Versuche, die Röntgenaufnahme zu popularisieren, stammt von Röntgen selbst: seine "Damenhand" mit Ehering bezieht seine didaktische Evidenzstiftung erst aus der Überlagerung mit dem Bildervorrat klassisch-bürgerlicher Sexualmoral.

<24>

Wie die Bildkarriere der "Damenhand" veranschaulicht, ist der medizinische Blick auf die weibliche Anatomie immer auch ein Effekt männlicher Konstruktionsprozesse von Geschlechterordnungen. Dabei wird im Röntgenfilm die Frau als Wissensobjekt des männlichen Blicks mit medienspezifischen Techniken festgeschrieben. Auf mehreren Ebenen benutzt der Röntgenfilm populäre Techniken des narrativen Kinos, die darauf abzielen, die durch die weibliche Körperlichkeit "bedrohte" männliche Subjekt- und Sprecherposition in ihrer Bild- und Beschreibungsmacht "wiederherzustellen". Mit der Schiebeblende und der Kreisform stilisiert der Lehrfilm die Röntgenaufnahmen vom Inneren des menschlichen Körpers zu imaginären Räumen perfekter Organisiertheit. Die Kreisform dient vor diesem Hintergrund nicht nur der Steigerung der Aufmerksamkeit und der didaktischen Blickführung, sondern eröffnet auch Anspielungen an das voyeuristische Blickregime des erotischen Kinos. Die im Röntgenfilm häufig eingesetzte Kreisform überlagert den wissenschaftlich-mikroskopischen Blick ins Körperinnere mit dem erotischen Blick des männlichen Voyeurs, der durch imaginäre Öffnungen hindurch "immer tiefer" in den weiblichen Innenraum eindringt. Lehrfilme wie Röntgenstrahlen und The Inside Story übersetzen die populärwissenschaftliche Wahrnehmungssensation der Röntgenaufnahme für ein massenkulturelles Sehen, indem es die Realfilmaufnahme narrativ, ikonografisch und tricktechnisch bearbeitet. Es entstehen multimediale Vorstellungsräume und medienspezifische Stile der Wissensrepräsentation, die den wissenschaftlichen Diskurs der Röntgendiagnostik als erotisch-voyeuristisches Genießen eines männlichen Forschers in Szene setzen, der mit dem filmischen Apparat den weiblichen Körper abtastet, durchleuchtet und symbolisch penetriert.

<25>

Zwischen dem wissenschaftlichen Wissen im Lehrbuch und dem populären Wissen im Film gibt es eklatante geschlechtsspezifische Unterschiede. Die visuelle Welt im Lehrbuch unterscheidet sich radikal von der populären Diegese im Lehrfilm, mit der medizinische Gebrauchskontexte entkoppelt werden. Das Lehrbuchwissen über die Anwendungen der Röntgenkinematographie repräsentiert eine sozial abgeschlossene Welt männlicher Autoren, Experten und Probanden. Abbildung 7 zeigt die "Herstellung einer Röntgen-Serienaufnahme mit dem Groedel'schen Apparat" und stammt aus dem Lehrbuch "Wissenschaftliche Kinematographie" (1920) von Franz Paul Liesegang. Das Bild ist in Kontexte eines Expertenwissens und visueller Plausibilität eingegliedert:
"Der Patient lehnt sich gegen die Vorderwand, an der sich die Belichtungsstelle befindet, an. Nachdem er mittels des verstellbaren Fußbrettes auf die richtige Höhe eingestellt und die Röntgenröhre hinter ihm (in etwa 60 cm Abstand vom Fenster) zentriert ist, wird der Motor in Gang gesetzt. Die Platten bewegen sich vorwärts. Im Moment, wo wir die Deckkassette abfallen hören, schließen wir den Primärstromkreis." [36]

<26>

Die in den Lehrbüchern zur Röntgenkinematographie abgedruckten Gebrauchsillustrationen dienen der Veranschaulichung von Funktionen, Abläufen, Anlagen, Faktoren, Aufgaben, Zweckmäßigkeiten und Anordnungen. Bilder werden in diesem Kontext zur Demonstration wissenschaftlichen Wissens eingesetzt. Die in den Lehrbüchern abgebildeten Versuchsleiter und Probanden sind ausnahmslos männlichen Geschlechts. Frauenfiguren im Film werden demgegenüber zur Steigerung des Unterhaltungswertes und zur Ästhetisierung des Themas eingesetzt. Frauenfiguren im Lehrfilm sollen die Blicke des Publikums auf sich ziehen, die Aufmerksamkeit steigern und den Schauwert erhöhen.

<27>

Innerhalb der gesamten Filmproduktion von Forschungs- und Lehrfilmen werden die Funktionen weiblicher und männlicher Figurenillustrationen grundsätzlich verschieden in Szene gesetzt. Bilder männlicher Probanden erfüllen in der Regel die Funktion von Wissenschaftsbildern, welche als formalisiertes Wissen in die medizinische Diagnostik integriert werden. Mit der Verwendung männlicher Versuchsobjekte zeigt man die allgemeingültigen Regeln bei der systematischen Vorgehensweise auf und macht auf die Entwicklung wissenschaftlicher Standards aufmerksam. Diese Zweckwidmung vollzieht sich in den unterschiedlichsten Anwendungsbereichen. So experimentierten etwa die beiden Sprachforscher Viktor Gottheiner und Eberhard Zwirner seit den späten 1920er Jahren mit Röntgenaufnahmen, um die Anatomie der Sprechbewegungen bei männlichen Probanden zu visualisieren. [37] Weibliche Repräsentationen röntgentechnischer 'Errungenschaften' weisen einen spezifischen bildtheoretischen Status auf; mit ihnen werden Wissenschaftsbilder zu Bildobjekten transformiert. [38] Als Bildobjekte unterbrechen die weiblichen Allegorien den klinischen Bezug zu Daten, Signalen und Symptomen. Mit ihrem Objektstatus rückt an die Stelle des Entzifferns von Regeln und Regelmäßigkeiten und des wissenschaftlichen Lesens die ästhetische Betrachtung. Folgerichtig repräsentiert das männliche Subjekt die Sphäre der Wissenschaft und das weibliche Subjekt die Sphäre der Kunst und des guten Geschmacks. Der männliche Proband ist ein Aktant anatomischen Wissens und besitzt die Fähigkeit der Selbstbeherrschung. Ihm gegenüber besitzt das weibliche Subjekt keinen Wissensstatus, weder vor noch hinter der Kamera. Der Allegorese des Röntgenblicks entspricht eine Identifizierungspolitik. Sie ordnet den oberflächlichen Blick den Attributen der weiblichen Sphäre zu. Im Unterschied zu Vanitas-Allegorien in der Malerei erübrigen sich im Röntgenfilm Imaginationen einer weiblichen Bewusstwerdung. Den Reflexionsprozess übernehmen in populärwissenschaftlichen Filmen wie Röntgenstrahlen und The Inside Story die Röntgenstrahlen. Sie sind es, die das 'falsche Bewusstsein' der Frauenfigur entlarven. Im Prozess der Popularisierung medizinischer Visualisierung kommt es zu Bedeutungsverschiebungen, in welchen das Bildobjekt 'Frau' als gesellschaftliches Symbol vorgeführt und auf der Grundlage der Medientechnik moralisch sanktioniert wird.

Abb. 1

Abb. 2-4

Abb. 5 und 6

Abb. 7

Autor

Univ. Ass. Dr. phil. Ramón Reichert
Kunstuniversität Linz
Institut für Medien/Medientheorie
Reindlstraße 16-18
A-4020 Linz
ramon.reichert@ufg.ac.at



[1] Wilhelm Conrad Röntgen: Eine neue Art von Strahlen, Würzburg 1895.

[2] In ihrem Buch "Screening the Body" untersucht Lisa Cartwright die von Röntgenstrahlen und Kino maßgeblich geprägte Repräsentationskultur der Moderne und widmet sich im 5. Kapitel unter dem Titel "Decomposing the Body: X Rays and the Cinema" der "historical convergence of the cinema and radiography". Screening the Body. Tracing Medicine's Visual Culture, Minneapolis / London, 107f.

[3] John Macintyre: Application of Röntgens Rays to the Soft Tissues of the Body, in: Nature 54/10 (1896), 451-454, hier: 37.

[4] Siehe zur Mediengeschichte der Röntgentechnik Monika Dommann: Durchsicht, Einsicht, Vorsicht. Eine Geschichte der Röntgenstrahlen 1896-1963, Zürich 2003.

[5] Siehe zur Kulturgeschichte der Röntgentechnik Bernike Pasveer: Knowledge of Shadows: The Introduction of X-Ray Images in Medicine, in: Sociology of Health and Illness 11/4 (1989), 360-381; Barron H. Lerner: The Perils of the 'X-Ray Vision': How Radiographic Images Have Historically Influenced Perception", in: Perspectives in Biology and Medicine 35 (1992), 382-397.

[6] Siehe Linda J. Ramsey: Early Cineradiography and Cinefluorography, in: History of Photography 7/4 (1983), 311-322.

[7] C. Kästle / H. Rieder / J. Rosenthal: Über Röntgenkinematographie, in: Röntgentaschenbuch 3 (1911), 46-53; zum Aspekt der Autorisierung der Röntgendiagnostik im akademischen Feld siehe Tal Golan: The Authority of Shadows: The Legal Embrace of the X-Ray, in: Historical Reflections 24 (1998), 437–458.

[8] Lisa Cartwright / Brian Goldfarb: Radiography, Cinematography and the Decline of the Lens, in: Jonathan Crary / Sanford Kwinter (Hg.): Incorporations, New York 1992, 190–201.

[9] Gabriele Werner: Heemskerck, Röntgen und der Beweischarakter von Reproduktionstechniken", in: Ulrike Bergermann / Claudia Breger / Tanja Nusser (Hg.): Techniken der Reproduktion. Medien - Leben - Diskurse, Königstein, Taunus 2002, 67-82.

[10] Umberto Eco: Einführung in die Semiotik, München 1972, 213.

[11] John Fiske: Lesarten des Populären, Wien 2000, 17.

[12] Michel de Certeau: Kunst des Handelns, Berlin 1988, 293-314.

[13] Siehe zum Konzept der Deterritorialisierung Gilles Deleuze / Félix Guattari: 1000 Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie, Berlin 1997, 291.

[14] Lambert Wiesing: Artifizielle Präsenz. Studien zur Philosophie des Bildes, Frankfurt a. M. 2005.

[15] Thomas Y. Levin: Iconology at the Movies: Panofsky's Film Theory, in: Yale Journal of Criticism 9/1 (1996), 27-55.

[16] Siehe die exzeptionelle Untersuchung von Kay Hoffmann: Unbekannte Bildwelten. Technische Innovationen und ästhetische Gestaltung, in: Peter Zimmermann / ders. (Hg.): Geschichte des dokumentarischen Films in Deutschland, Band 3, "Drittes Reich" 1933-1945, Stuttgart 2005, 176-197.

[17] Zu diesem Fragekomplex wurden in den letzten Jahren zahlreiche Untersuchungen veröffentlicht. Allen voran zählt heute das Buch "Screening the Body" (1995) von Cartwright zu den unverzichtbaren Standardwerken für die Aufarbeitung der visuellen Kultur im Spannungsfeld von Röntgentechnik und Kino, Geschlechterpolitik und Wissenskultur (siehe Anm. 2). In der Frage nach dem Stellenwert der geschlechterspezifischen Repräsentationspolitik des Röntgenfilms beschränken sich ihre Analysen auf die historische Diskurs- und Mediengeschichte im lokalen und nationalen Kontext der Filme. Welche Bilder sind es in diesem Zusammenhang, auf die über längere Zeiträume hinweg rekurriert wird? Und inwiefern fixieren immer wiederkehrende Motive die Verfestigung einer bestehenden sozialen Ordnung und die Tradierung stereotyper Geschlechterrollen? Um diese Fragen beantworten zu können, müssen meines Erachtens, über den Ansatz von Cartwright hinausgehend, zusätzliche bildanalytische Methoden und Perspektiven herangezogen werden.

[18] Cartwright (wie Anm. 2), 108.

[19] Hoffmann (wie Anm. 16), 187-189.

[20] Robert Janker: Verdauungssystem, Berlin 1936; ders.: Herztätigkeit und Atmung beim Menschen, Berlin 1936.

[21] Robert Janker: Herztätigkeit und Atmung (wie Anm. 20), 2.

[22] Kerstin Stutterheim: Röntgenstrahlen und Küchenzauber. Kulturfilme der zwanziger und dreißiger Jahre von Martin Rikli, in: Filmblatt 10/27 (2005), 33-39.

[23] Martin Rikli: Ich filmte für Millionen, Berlin 1942, 268.

[24] Ebd., 270.

[25] Karl Döhmann: Durchleuchtete Körper, Zürich 1931.

[26] Cartwright (wie Anm. 2), 139.

[27] Zu den Avantgardefilmen von Watson siehe ebd., 134-149.

[28] Ebd., 138-142.

[29] Ebd., 139.

[30] Thomas Mann: Der Zauberberg (1924), Frankfurt a. M. 1996, 304.

[31] Sigrid Schade / Monika Wagner / Sigrid Weigel (Hg.): Allegorien und Geschlechterdifferenz. Studien zur Literatur- und Kulturgeschichte, Köln u.a. 1994, 3.

[32] Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik I, Gesammelte Werke 13, Frankfurt a. M. 1986, 388.

[33] Siehe Monika Schwarzenberger: Ludwig Kandler (1856-1927). Ein Deggendorfer Maler wird entdeckt, Ausstellungskatalog, Deggendorf 2003.

[34] Marina Warner: In weiblicher Gestalt. Die Verkörperung des Wahren, Guten und Schönen, Reinbek 1989, 35.

[35] Monika Dommann: Einsicht, Durchsicht, Vorsicht. Eine Geschichte der Röntgenstrahlen 1896-1963, Zürich 2003, 258.

[36] Franz Paul Liesegang: Wissenschaftliche Kinematographie, Leipzig 1920, 150.

[37] Siehe Viktor Gottheiner / Eberhard Zwirner: Die Verwendung des Röntgentonfilms für die Sprachforschung, in: Fortschritte auf dem Gebiete der Röntgenstrahlen 47 (1933), 455-462.

[38] Lisa Cartwright: Women, X-rays, and the Public Culture of Prophylactic Imaging, in: Camera Obscura 29 (1992), 18-54.

Empfohlene Zitierweise:

Ramón Reichert : Erotisch-voyeuristische Visualisierungstechniken im Röntgenfilm , in: zeitenblicke 7, Nr. 3, [2008], URL: https://www.zeitenblicke.de/2008/3/reichert/index_html, URN: urn:nbn:de:0009-9-16370

Bitte setzen Sie beim Zitieren dieses Beitrags hinter der URL-Angabe in runden Klammern das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse. Zum Zitieren einzelner Passagen nutzen Sie bitte die angegebene Absatznummerierung.

Lizenz

Jedermann darf dieses Werk unter den Bedingungen der Digital Peer Publishing Lizenz elektronisch über­mitteln und zum Download bereit­stellen. Der Lizenztext ist im Internet abrufbar unter der Adresse http://www.dipp.nrw.de/lizenzen/dppl/dppl/DPPL_v2_de_06-2004.html