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1. Die ’Geisteswissenschaften’ sind ein wissenschaftstheoretisches Konstrukt. Es hat sie bis zum Ende des 19. Jahrhunderts als solche nicht gegeben, weder als Begriff noch der Sache nach. Sie wurden in einer bestimmten historischen Konstellation als gedachte Ordnung ursprünglich eigenständiger wissenschaftlicher Disziplinen erfunden. Die Bindekraft, welche die ’Geisteswissenschaften’ heute noch zusammenhält, ist schwächer geworden, es ist durchaus möglich, dass sie sich weiter lockert oder gar ganz schwindet. Ich halte das, um das sofort zu betonen, nicht für bedenklich, meine im Gegenteil, dass die Dekonstruktion der scheinbaren Einheit der Geisteswissenschaften die darunter vereinten Fächer zu neuer wissenschaftlicher Blüte führen könnte.

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Jahrhunderte lang wurden die Wissenschaften nach ihrer akademischen Repräsentation in Fakultäten eingeteilt. Diese Einteilung entsprang nicht wissenschaftstheoretischer Reflexion, sondern praktischen Bedürfnissen. Spätestens seit der Verfestigung des frühneuzeitlichen Fürstenstaates gehörten in Europa eine Theologische, eine Juristische und eine Medizinische Fakultät für jede Universität zum Standard. Das entsprach dem Bedürfnis, in einer komplexer werdenden Welt möglichst gut ausgebildete Theologen, Juristen und Mediziner zur Verfügung zu haben. Die Fächer der späteren Philosophischen Fakultät waren bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts den drei höheren Fakultäten nur als eine Art Studium generale vorgeschaltet. Ihr Handicap war ihre mangelnde Praxisbezogenheit. Diese wurde in Deutschland erst ermöglicht, als der preußische Reformstaat zu Anfang des 19. Jahrhunderts für seine Erneuerung neben wissenschaftlich geschulten Theologen, Juristen und Medizinern auch akademisch ausgebildete Lehrer benötigte. Es war der eigentliche Kern der Humboldtschen Universitätsreform, auch den Lehrern eine wissenschaftliche Ausbildung zukommen zu lassen. Weniger die reine Wissenschaftlichkeit, welche der vorherrschende philosophische Idealismus für die Universität einforderte, als vielmehr der garantierte Praxisbezug konstituierte die neuen Philosophischen Fakultäten.

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Ende des 19. Jahrhunderts kann man von der Gleichrangigkeit der Philosophischen Fakultät mit den anderen Fakultäten sprechen. Anders als die älteren war die Philosophische Fakultät jedoch ein höchst heterogenes Gebilde, das letzten Endes allein durch den Bezug auf die Fächer der Gymnasien zusammengehalten wurde. In den Philosophischen Fakultäten wurden nicht nur Deutsch- und Geschichtslehrer ausgebildet, sondern auch Mathematik-, Physik- und Chemielehrer. Dies führte zunehmend zu inneren Spannungen, welche die Einheit der Philosophischen Fakultäten ausgerechnet zu dem Zeitpunkt, um 1900, in Frage stellten, zu dem diese in Deutschland den seitdem nie wieder erreichten Gipfel ihrer wissenschaftlichen Weltgeltung erreichten. Die Ursache dafür war der scheinbar unaufhaltsame Aufstieg naturwissenschaftlichen Denkens, durch welchen alle anderen Fächer der Philosophischen Fakultät ins Hintertreffen zu geraten drohten. Diese suchten daher nach einer eigenständigen wissenschaftlichen Legitimation, welche sie gemeinsam von der naturwissenschaftlichen Weltsicht abhob. Es war dies die Stunde der ’Geisteswissenschaften’.

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2. Eine zentrale Rolle spielte in diesem Prozess der Selbstvergewisserung der Philosoph Wilhelm Dilthey. Er war es, der für die wissenschaftstheoretische Sammlung gegen das naturwissenschaftliche Denken den Begriff der ’Geisteswissenschaften’ prägte. Der Terminus wurde in Deutschland zwar schon seit dem Ende des 18. Jahrhunderts gelegentlich verwendet, Dilthey verband jedoch mit seinem 1883 erschienenen Buch “Einleitung in die Geisteswissenschaften“ ein wissenschaftstheoretisches Programm. Er machte keinen Vorschlag zu einer institutionellen Neugliederung der Philosophischen Fakultät, sondern ihm ging es um eine wissenschaftliche Sinnstiftung.

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Unter Berufung auf Hegel und die idealistische Tradition der deutschen Philosophie stellte Dilthey die Einheit der in der Philosophischen Fakultät vereinten wissenschaftlichen Disziplinen radikal in Frage. Den naturwissenschaftlichen Disziplinen unterstellte er, auf das Allgemeine, das Gesetzmäßige aus zu sein, während die geisteswissenschaftlichen Fächer vermeintlich das Individuelle, das jeweils geschichtlich Gewordene erfassten. Die Naturwissenschaften suchten angeblich zu ’erklären’, während die Geisteswissenschaften darauf aus seien zu ’verstehen’. In methodischer Hinsicht konstruierte Dilthey damit einen Gegensatz von positivistischer Pragmatik und historischer Hermeneutik. So problematisch diese Antithetik war, vermittelte sie doch den unter dem Begriff der ’Geisteswissenschaften’ subsumierten Fächern ein gemeinschaftliches Sonderbewusstsein, das sich fatalerweise bald in ein Überlegenheitsgefühl verwandeln sollte.

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Schon für Dilthey ergab sich für die ’Geisteswissenschaften’ daraus eine Sonderstellung, dass sie seiner Auffassung nach nicht nur auf einer anderen, sondern auf der besseren Seite der Wissenschaft standen. Das naturwissenschaftlich-technische Denken wurde von ihm nicht nur als anders wahrgenommen, sondern als feindlich. Von da aus war es nicht weit, es als ’westliches’ Denken zu denunzieren, das dem angeblich organischen und völkischen Denken der Geisteswissenschaften entgegengesetzt sei. Die Erfindung der ’Geisteswissenschaften’ gehörte damit in den historischen Zusammenhang der ’Deutschen Ideologie’, welche bekanntlich das Kernstück des deutschen Nationalismus war.

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In der Zeit des Nationalsozialismus wurde die so gedachte Ordnung der Geisteswissenschaften vollends problematisch. Ich erinnere nur an den von Paul Ritterbusch organisierten “Kriegseinsatz der Geisteswissenschaften“, in dessen Rahmen sich seit 1940 insgesamt etwa 600 deutsche Professoren für Hitlers Kriegspropaganda vereinnahmen ließen. Nach meiner Auffassung wurde dadurch das Konstrukt der ’Geisteswissenschaften’ endgültig diskreditiert. Zumindest hätte man deshalb erwarten können, dass darüber nachgedacht werde, ob der Begriff tatsächlich noch als Gegenbegriff gegen den der Naturwissenschaften sinnvoll sei. Das Gegenteil war jedoch der Fall.

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Die Nachkriegszeit war Jahrzehnte lang von angestrengten Versuchen geprägt, die “Aufgabe“, die “Bedeutung“ oder die “Erneuerung“ der Geisteswissenschaften zu betreiben. Der Höhepunkt dieser Rekonstruktionsbemühungen wurde 1960 mit dem Buch von Hans-Georg Gadamer über “Wahrheit und Methode“ erreicht. Gadamer erneuerte die Hermeneutik Diltheys, indem er die Sprache als das nach seiner Vorstellung alle geisteswissenschaftlichen Forschungen verbindende Medium der Erkenntnis bezeichnete. Das wurde schon damals aus sozialgeschichtlicher Perspektive kritisiert. Erst recht wurde Gadamers hermeneutischer Ansatz von der neueren Diskurstheorie kritisiert, die den scheinbar feststehenden Text bekanntlich im interaktiven Diskurs auflöst.

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Eine wissenschaftstheoretisch überzeugende Begründung für die Einheit der Geisteswissenschaften ist seitdem, soweit ich sehe, nicht mehr geliefert worden. Allenfalls könnte man noch die Kompensationstheorie Hermann Lübbes, wonach die Geisteswissenschaften dadurch verbunden seien, dass sie die Modernisierungsschäden ausglichen, welche die Technik- und die Naturwissenschaften verursachten, als eine solche ansehen. Es handelt sich hierbei freilich um eine kleinmütige Ortsbestimmung der Geisteswissenschaften, da diesen damit kein wissenschaftliches Eigengewicht mehr zugebilligt wird, sondern sie nur noch als defizienter Modus der Moderne wahrgenommen werden.

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3. Dass sich die immer noch unter dem Etikett der ’Geisteswissenschaften’ subsumierten Disziplinen nicht mehr auf ein gemeinsames Fundament zurückführen lassen, war freilich nicht nur eine Frage der wissenschaftstheoretischen Begriffsbildung. Entscheidend scheint mir vielmehr zu sein, dass sich die ehemals geisteswissenschaftlichen Fächer seit dem 19. Jahrhundert selbst tiefgreifend verändert haben. Nicht Gemeinsamkeit, sondern Differenz zeichnet sie heute aus. Soweit ich sehe, gibt es im Wesentlichen drei wissenschaftsimmanente Ursachen für das Auseinanderdriften der ehemals als geisteswissenschaftlich etikettierten Disziplinen.

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Zum Ersten hat sich der Prozess der fachlichen Ausdifferenzierung, der jeder wissenschaftlichen Disziplin inhärent ist, in den letzten Jahrzehnten außerordentlich beschleunigt. Die ehemals geisteswissenschaftlichen Fächer näherten sich in dieser Hinsicht den naturwissenschaftlichen an, für welche die permanente Generierung von neuen Disziplinen ohnehin charakteristisch ist. Die fachliche Ausdifferenzierung führte (und führt) permanent zur Etablierung neuer Teilfächer.

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Die Philosophischen Fakultäten waren davon schon frühzeitig betroffen. Man hat sie geradezu als “Brennpunkt der institutionellen Differenzierung“ bezeichnet. Als Erste schied die Kameralistik, also die Verwaltungswissenschaft des 18. Jahrhunderts, aus der Philosophischen Fakultät aus. Sie entfaltete sich im 19. Jahrhundert als Staatswissenschaft und mündete schließlich in die moderne Nationalökonomie. Zunächst noch außerhalb der Universitäten in Handelshochschulen angesiedelt, erreichte die Nationalökonomie im 20. Jahrhundert Fakultätsrang. Bei der Wiedereröffnung der Kölner Universität im Jahre 1919 war die Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Fakultät, um ein Beispiel zu geben, schon das Flaggschiff. Frühzeitig kündigte die Wirtschaftswissenschaft den hermeneutischen Methodenkonsens der Geisteswissenschaften auf und verschrieb sich mathematischen Verfahren wie der Grenznutzentheorie und der Wahrscheinlichkeitsrechnung. Heute ist die Ökonometrie das Rückrat sowohl der Volks- als auch der Betriebswirtschaft.

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Die Wirtschaftswissenschaften vereinten sich in der Regel mit der Soziologie, die sich von der Philosophie emanzipiert hatte, in neuen Fakultäten. Die Mathematisierung der Soziologie ging zwar erheblich langsamer voran als die der Wirtschaftswissenschaft, jedoch hat sich in der empirischen Sozialforschung das Denken in theoretischen Modellen gegenüber allen Ansätzen einer historischen Hermeneutik durchgesetzt. Ähnlich wie die Soziologie haben sich auch die Pädagogik und die Psychologie längst von ihrer Mutterdisziplin, der Philosophie, abgenabelt. Auch sie haben sich methodisch von den historischen und philologischen Fächern der alten Philosophischen Fakultät weit entfernt und bewegen sich in Richtung eigener Fakultäts- bzw. Fachbereichsgründungen.

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Den aus der Philosophischen Fakultät heraustretenden Disziplinen stehen solche gegenüber, die sich erst neuerdings etabliert, dabei jedoch häufig die innere Einheit älterer Fächer in Frage gestellt haben. Letzteres gilt vor allem für die Linguistik, die in den großen philologischen Fächern, also der Romanistik, Anglistik, Slawistik und besonders der Germanistik eine beträchtliche wissenschaftliche Sprengkraft entfaltet hat. Der ’linguistic turn’ hat ja nicht nur die wissenschaftlichen Methoden verändert, sondern im Fächerkanon der Philosophischen Fakultät auch zu institutionellen Ausdifferenzierungen beigetragen. Das hat den Philologien große wissenschaftliche Impulse gegeben, jedoch, soweit ich sehe, im Kern auch die Einheit dieser Fächer in Frage gestellt.

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Schließlich gibt es noch neue Disziplinen, die erst kürzlich in den Fächerkanon der Philosophischen Fakultät aufgenommen worden sind, die aber von vornherein nicht in das klassische Bezugssystem der ’Geisteswissenschaften’ passten. Das gilt etwa für die Medienwissenschaft, die das seit langem dahindümpelnde Fach der Theaterwissenschaft auf bemerkenswerte Weise durch Film- und Fernsehwissenschaft erweitert und mit neuem wissenschaftlichen Elan versehen hat. Auch die Kommunikationswissenschaft ist hier zu nennen, durch welche die alte Zeitungswissenschaft nicht nur mit einem neuen Label versehen wurde. Mit dem alten Konstrukt der ’Geisteswissenschaften’ können diese neuen Fächer nur wenig anfangen, sie stehen den empirischen Sozialwissenschaften näher als diesen.

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4. So wie beschleunigte Ausdifferenzierungsprozesse zum Erscheinungsbild des Fächerspektrums der Philosophischen Fakultät gehören, ist die disziplinäre Entwicklung heute von methodischen Grenzüberschreitungen geprägt. Wenn sich die Wirtschafts- und Sozialwissenschaften auf die Mathematik zu bewegt haben, so war das eine solche Grenzüberschreitung. Ähnliches gilt für die Linguistik, die sich als Psycholinguistik und Soziolinguistik bewusst aus dem hermeneutischen Horizont der Philologien herausbewegt. Die Psychologie überschreitet mit ihrer boomenden Teildisziplin Klinische Psychologie die Grenzen zur Medizin. Auch die Klassische Archäologie, die Ethnologie und die Vor- und Frühgeschichte kommen heute ohne naturwissenschaftliche Methoden nicht mehr aus. Schon gibt es bezeichnenderweise Professuren für Naturwissenschaftliche Archäologie. Auch die Geschichtswissenschaft, insoweit sie sich mit dem Problem der Erinnerungskulturen befasst, kann schließlich heute nicht mehr an den Erkenntnissen der Gehirnneurologie vorbeigehen. Mit ihrem sozialgeschichtlichen Ansatz hatte sie sich schon sozialwissenschaftlichen Methoden geöffnet.

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Immer handelt es sich um denselben Vorgang: Die sich einstmals so scharf von den Naturwissenschaften und der Mathematik abschottenden geisteswissenschaftlichen Disziplinen suchen heute nicht nur deren Nähe, sondern bedienen sich sogar unbefangen ihrer Methoden. Statt systematischer Abgrenzung ist heute eher die methodische Annäherung die Regel, sodass die Grenzen zwischen naturwissenschaftlichen und geisteswissenschaftlichen Disziplinen häufig verschwimmen. Das bedeutet nicht, dass die einzelnen Disziplinen sich nicht mehr in ihrem wissenschaftlichen Know-how unterscheiden; die seit der Erfindung der Geisteswissenschaften übliche Blockbildung kann jedoch zugunsten eines disziplinären Pluralismus aufgegeben werden. Anstatt von den Naturwissenschaften und den Geisteswissenschaften sollte besser nur noch von einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen die Rede sein.

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5. Schließlich sind die Disziplinen der Philosophischen Fakultät heute davon geprägt, dass die Einzelforschung gegenüber der koordinierten Gruppenforschung zurücktritt. Es gehört zwar nach wie vor zu den Klischees wissenschaftspolitischer Auseinandersetzungen, dass die sogenannten Geisteswissenschaftler ihre Bücher in Einsamkeit und Freiheit schrieben, während die sogenannten Naturwissenschaftler in kollektiven Veröffentlichungen ihre Forschungsergebnisse hervorbrächten und präsentierten. Wenn man an großwissenschaftliche Forschungsinstitute wie zum Beispiel das Max-Planck-Institut für Biochemie in Martinsried mit seinen etwa 900 Mitarbeitern denkt, könnte man in der Tat zunächst auf die Idee kommen, dass hier wissenschaftliche Einzelleistungen gar nicht mehr möglich sind. Mit Rudolf Huber hat jedoch 1988 einer der zwölf Direktoren dieses Instituts höchst individuell den Nobelpreis bekommen. Ganz offensichtlich entspringt die Annahme eines naturwissenschaftlichen Kollektivismus der falschen Wahrnehmung sogenannter Geisteswissenschaftler.

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Schon längst ist die koordinierte Gruppenforschung im Übrigen auch in bestimmten Bereichen der geisteswissenschaftlichen Disziplinen ganz selbstverständlich. Das gilt vor allem für die großen Editionsunternehmungen wie die Monumenta Germaniae Historica oder die Institute, die sich mit den Werkausgaben bedeutender Persönlichkeiten wie Hegel, Goethe, Marx oder Heidegger befassen. Dasselbe gilt für sozialgeschichtliche Forschungen, bei denen große Datenmengen verarbeitet werden müssen. Ohne Gruppenarbeit in einem wissenschaftlichen Team kann hier gar nichts erreicht werden.

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Schon seit den 1980er Jahren haben schließlich die von der Deutschen Forschungsgemeinschaft ersonnenen Sonderforschungsbereiche, Graduiertenkollegs, Forschergruppen und Graduate Schools den Trend zur Großforschung gerade auch in den geisteswissenschaftlichen Disziplinen enorm beschleunigt. Ein Blick auf die Ausgabenstatistik der DFG zeigt, dass die Steigerungsraten für die ’Geisteswissenschaften’ seit 1990 fast ausschließlich auf die Bewilligung für koordinierte Programme fallen, die Einzelforschung stagniert demgegenüber.

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Der Weg von der Einzelforschung zur projektbezogenen Gruppenforschung, wie sie in den naturwissenschaftlichen Disziplinen längst üblich ist, ist damit auch bei den geisteswissenschaftlichen Disziplinen längst vollzogen. Es handelt sich hierbei um einen irreversiblen wissenschaftsgeschichtlichen Prozess. Sicherlich wird es weiterhin einzelne herausragende Wissenschaftler geben, die auf sich allein gestellt ihre Forschungen betreiben. Aber dieser Einzelforscher wird auch in den ’Geisteswissenschaften’ nicht mehr den Ton angeben. Wer unbedingt an dem einstmaligen Ideal individueller Forschung festhalten will, kann sich im Einzelfall vielleicht noch dem allgemeinen Trend zur koordinierten Gruppenforschung entziehen, ganze Disziplinen dürften damit jedoch Existenzprobleme bekommen. Das gilt vor allem für manche der sogenannten kleinen Fächer, die schon heute stark unter gesellschaftlichem Rechtfertigungsdruck stehen. Sie können sich keinesfalls darauf verlassen, in der universitären Nischenexistenz weiter zu existieren, in der sich manche von ihnen eingerichtet haben, sondern sie müssen sich darum bemühen, mit den Fächern Schritt zu halten, die den Schritt in die moderne Wissensgesellschaft erfolgreich getan haben.

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6. Es fällt schwer, angesichts dieses Befundes noch an die Einheit der sogenannten Geisteswissenschaften zu glauben. Die vorgeblichen Gemeinsamkeiten der geisteswissenschaftlichen Disziplinen sind aus terminologischen, institutionellen und methodischen Gründen längst fragwürdig geworden. Wer das Konstrukt der Geisteswissenschaften in Frage stellt, muss freilich wissen, was er in wissenschaftstheoretischer Hinsicht an dessen Stelle setzt. Die reine Dekonstruktion der vermeintlichen Einheit der ’Geisteswissenschaften’ wäre allzu billig, wenn nicht gleichzeitig Alternativen für eine Stärkung der darunter subsummierten Fächer aufgezeigt würden. Ich sage dies als Vorsitzender einer Stiftung, welche den Terminus der ’Geisteswissenschaften’ im Namen trägt. Doch bin ich mir erstens durchaus bewusst, dass der Name “Stiftung Deutsche Geisteswissenschaftliche Institute im Ausland“ unreflektiert einem alten Denken verpflichtet ist. Ich habe deshalb auch, allerdings vergeblich, versucht, der Stiftung mit dem Namen Reinhart Kosellecks eine universalwissenschaftliche Ausrichtung zu geben, etwa mit dem Titel “Reinhart-Koselleck-Stiftung für wissenschaftliche Forschung im Ausland“.

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Zweitens fördert die Stiftung nicht den Zusammenhalt der Geisteswissenschaften, ihr Zweck besteht ausschließlich darin, das Forschungsprofil der an der Stiftung beteiligten Disziplinen zu stärken. Von 2009 an werden sechs historische, zwei orientalistische, ein japanologisches und ein kunsthistorisches Institut zu der Stiftung gehören. Darunter sind zwei neue Institute, das Deutsche Historische Institut in Moskau und das Orientinstitut in Istanbul; das Deutsche Forum für Kunstgeschichte in Paris ist erst vor kurzem in die Stiftung integriert worden. Die Geschichtswissenschaft, die Orientalistik und die Kunstgeschichte, die schon zwei von der MPG getragene Auslandsinstitute in Rom und Florenz vorweisen kann, stellen damit unter Beweis, dass sie zu den lebendigen, ihre außeruniversitären Forschungskapazitäten im In- und Ausland ausbauenden Disziplinen gehören. Zu diesen können etwa auch noch die Klassische Archäologie (mit der Großorganisation des Deutschen Archäologischen Instituts) und die Ethnologie (mit dem Max-Planck-Institut in Jena) gezählt werden. Allesamt weisen diese Fächer den Weg, der nach meiner Auffassung in Zukunft jenseits der Geisteswissenschaften gegangen werden sollte.

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Meine These ist, dass die Zukunft der sich ehemals zu den Geisteswissenschaften rechnenden Fächer nur in der Rückbesinnung auf ihren jeweiligen Charakter als eigenständige wissenschaftliche Disziplinen liegen kann. Anstatt auf der Suche nach einer größeren Einheit sich unter dem Dach der ’Geisteswissenschaften’ immer nur an andere Fächer anzulehnen und sich in dieser Umklammerung gegenseitig zu lähmen, sollten die ehemals geisteswissenschaftlichen Fächer die disziplinäre Abgrenzung von anderen Fächern suchen. Interdisziplinarität soll damit nicht ausgeschlossen werden, aber diese setzt erst einmal, und das ist ganz in den Hintergrund getreten, Disziplinarität voraus. Sie kann jedenfalls nicht aus einem Einheitsbrei von scheinbar übereinstimmenden Methoden und Forschungsansätzen erwachsen.

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7. Die disziplinäre Selbstvergewisserung muss natürlich von jedem Fach selbständig geleistet werden. Ich kann das deshalb hier nicht weiterverfolgen. Jedoch will ich abschließend einige formale Kriterien benennen, die bei der disziplinären Konstruktion eines Faches beachtet werden sollten. Zum Ersten müssen sich die Fächer intensiv damit befassen, ob ihre disziplinäre Einheit überhaupt noch gegeben ist. So werden sich die philologischen Fächer fragen müssen, ob die Integration der Linguistik gelungen ist. Die Klassischen Altertumswissenschaften müssen sich, sofern sie überhaupt noch als solche präsent sind, fragen, ob das neohumanistische Ideal ihres Verbundes sie noch zusammenhält.

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Jedes Fach muss sich zum Zweiten fragen, ob es noch die Fähigkeit zu disziplinärer Ausdifferenzierung besitzt. Das ist nahezu ausgeschlossen, wenn ein Fach an einer Universität durchweg nur mit einer einzigen Professur vertreten ist. Der Anspruch solcher Orchideenfächer wie der Sinologie, der Indologie oder der Turkologie jeweils für eine ganze Kultur in ihrer historischen Entwicklung zuständig zu sein, scheint mir fragwürdig. Es müssen schon mehrere Professorenstellen sein, um heute ein Fach noch als zukunftsfähig anzusehen. Man wird deshalb nicht an einem Austausch mit anderen Universitäten vorbeikommen. Es müssen nicht alle Fächer an allen Universitäten vertreten sein, die sogenannte Volluniversität war immer ein fragwürdiges Konstrukt.

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Drittens müssen die Fächer im Zuge einer disziplinären Profilschärfung darauf achten, ein einheitliches Lehrmodell zu erhalten. Durch die Einführung der BA- und MA-Studiengänge scheint mir diese Einheitlichkeit extrem gefährdet zu sein, da sich vor allem die sogenannten kleinen Fächer an allen Universitäten jeweils in verschiedene Studiengänge eingefügt haben. Ihr eigenes Profil droht dadurch zu verschwimmen. Aber auch große Fächer wie zum Beispiel die Germanistik haben schon lange darauf verzichtet, an einem einheitlichen und für alle Universitäten verbindlichen propädeutischen Programm festzuhalten. Die Suche nach neuen Lehrformen darf aber nicht dazu führen, dass die Propädeutik eines Faches überall anders gelehrt wird und in den Masterstudiengängen die forschungsorientierten Lehrveranstaltungen verschwinden. Jede wissenschaftliche Disziplin muss sich auch in Zukunft daran messen lassen, ob sie ihre wissenschaftlichen Erkenntnisse in der Lehre systematisch vermittelt.

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Schließlich ist bei der disziplinären Profilschärfung der ehemals geisteswissenschaftlichen Fächer noch ein vierter Gesichtspunkt zu beachten. Die Hochschulpolitik der deutschen Bundesländer ist schon seit längerem darauf ausgerichtet, die Universitäten überwiegend zu Lehranstalten zu machen und die Forschung außerhalb der Universität zu fördern. Die bemerkenswerte Exzellenzinitiative der Bundesregierung hat diesen Trend teilweise aufgehalten, teilweise aber noch verstärkt. Wenn am Ende nur neun oder zehn der deutschen Universitäten als Forschungsuniversitäten anerkannt werden, so darf sich der große Rest erst recht nur noch als Lehruniversität verstehen. Der Trend zur Amerikanisierung der deutschen Hochschullandschaft wurde damit verstärkt. Den großen und in Europa meist einzig bekannten amerikanischen Forschungsuniversitäten stehen in den USA die Provinzuniversitäten gegenüber, an denen nicht geforscht werden kann, ja nicht geforscht werden darf. Unter den etwa 2.500 amerikanischen Hochschulen mit Masterprogrammen kann nur an gut 250 Universitäten ein Doktorgrad verliehen werden, nur 100 davon können wiederum ausdrücklich zu den research universities gezählt werden. Es ist deshalb wenig sinnvoll, das amerikanische Modell in dieser Hinsicht nachzuahmen, wie das in der Öffentlichkeit aus Unkenntnis der wahren Verhältnisse immer wieder gefordert wird.

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Stattdessen sollte man sich in Deutschland stärker auf die historisch seit langem gewachsenen Forschungsstrukturen besinnen. Wir haben in Deutschland, anders als in den USA, ein duales Forschungssystem. Neben der Forschung an den Universitäten gibt es gleichgewichtig ein enormes außeruniversitäres Forschungspotential. Dies entstand im Kern schon vor dem Ersten Weltkrieg mit der Gründung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, der heutigen Max-Planck-Gesellschaft; es wurde nach dem Zweiten Weltkrieg nochmals enorm ausgeweitet. Davon profitierten nicht nur die naturwissenschaftlichen und technischen Fächer, sondern auch die ’geisteswissenschaftlichen’. Wenn es um die disziplinäre Profilschärfung geht, sind deshalb nicht nur die Universitäten angesprochen, sondern in gleichem Maße auch die außeruniversitären Forschungseinrichtungen. Diese Letzteren sind auf die Universitäten angewiesen, weil sie nur von diesen ihre Mitarbeiter herholen können. Die Universitäten brauchen andererseits um so mehr das außeruniversitäre Forschungspotential, je mehr sie nur noch auf die Lehre festgelegt werden. Hier können und müssen also gemeinsame Formen der Kooperation gefunden werden, die den in der Lehre erstickenden Fächern an der Universität neue Forschungsperspektiven öffnen und den außeruniversitären Institutionen den wissenschaftlichen Nachwuchs sichern.
Ich plädiere damit nicht für eine Verschmelzung der beiden Forschungsbereiche, möchte vor dieser vielmehr ausdrücklich warnen. Das für Deutschland so charakteristische und häufig übersehene duale Forschungssystem sollte unbedingt erhalten, aber den Erfordernissen der modernen Wissensgesellschaft angepasst werden.

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Je weiter die disziplinäre Neubesinnung der ehemals als geisteswissenschaftlich etikettierten Fächer voranschreitet, desto mehr dürfte die diffuse, theoretisch nie zu Ende gedachte Berufung auf die Einheit der Geisteswissenschaften ein Ende finden. Selbstbewusste und ihrer selbst sichere Disziplinen wie die Geschichtswissenschaft bedürfen schon heute keiner Anlehnung an vorgeblich geistesverwandte Fächer, sie stehen für sich selbst. Das Ende der Geisteswissenschaften könnte so der Anfang selbstbewusster wissenschaftlicher Disziplinen sein.

Autor

Prof. Dr. Wolfgang Schieder
Vorsitzender des Stiftungsrats der Stiftung "Deutsche Geisteswissenschaftliche Institute im Ausland"
Kronprinzenstraße 24
53173 Bonn
schieder@stiftung-dgia.de

Empfohlene Zitierweise:

Wolfgang Schieder : Geisteswissenschaften - und kein Ende? , in: zeitenblicke 8, Nr. 1, [09.04.2009], URL: https://www.zeitenblicke.de/2009/1/schieder/index_html, URN: urn:nbn:de:0009-9-17354

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