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Abstracts

Annerose Menninger: Tabak, Kaffee, Tee und Schokolade in Wissenskulturen der Frühen Neuzeit, in: zeitenblicke 8 (2009), Nr. 3.

Vier durch ihre Inhaltsstoffe und physiologischen Eigenschaften verwandte Konsumartikel wurden in Übersee entdeckt und entwickelt: in Arabien, China und Altmittelamerika die Heißgetränke Kaffee, Tee und Schokolade, in Altamerika Rauch-, Schnupf- und Kautabak. Dabei erstaunt nicht nur die Tatsache, dass diese Kulturen unabhängig voneinander dieselben Herstellungstechnologien für deren Konsum entwickelt haben, die bis heute auch den Konsum der genannten Artikel in Europa bestimmen. Noch mehr erstaunt die Parallelität der Konsumkonzepte. In jeder überseeischen Ursprungskultur galten die Substanzen als Heil- und Genussmittel. Mit ihrer Übernahme und Verbreitung in Europa in der Frühen Neuzeit, wobei europäischen Reisenden im interkulturellen Wissenstransfer eine Schlüsselbedeutung zukam, setzte ein Rezeptionsprozess ein, der sich europaweit über medizinische Schriften und Laienzeugnisse rekonstruieren lässt. Für die Verbreitung und Akzeptanz der fremden Konsumartikel in der europäischen Gesellschaft spielten Vertreter der Schulmedizin eine zentrale Rolle. Sie propagierten die fremden Konsumgüter als effektive Arzneien und halfen damit Geschmackshürden der bitteren Konsumartikel zu überwinden. Dies glückte allerdings nur, weil sie sich aufgrund ihrer physiologischen Eigenschaften plausibel in die medikale Kultur Europas mit ihren für die Frühe Neuzeit spezifischen Krankheits-, Gesundheits- und Therapiekonzepten, die erst im 19. Jahrhundert durch Innovationen in der Medizin (Zellularpathologie, Mikrobiologie, neue Operationsmethoden) abgelöst wurden, integrierten ließen. Dabei dominierte ihre Bedeutung als Heilmittel, wenngleich sie auch schon in der Funktion, die ihren Konsum heute motiviert, empfohlen wurden: als stimulierende und soziale Genussmittel. Der Einfluss der medizinkundigen Propagandisten spiegelt sich in Reaktionen der Obrigkeiten, in Werbedrucken erster Kaffeehauseigner sowie in Enzyklopädien bis hin zu Konsummotiven von Laien in deren Selbstzeugnissen. Darüber hinaus lässt sich belegen, dass die medizinkundigen Propagandisten auch bis heute in der europäischen Alltagskultur lebendigen Innovationen zur Etablierung verhalfen (Kaffeehauskultur, Frühstückssitte, Kaffee- und Teesurrogaten).

 

Katharina Niemeyer: "Fée verte" – "hada verde" – düstere Muse. Absinth in der Boheme des Fin de siècle, in: zeitenblicke 8 (2009), Nr. 3.

Mondäner Aperitif, Volksdroge, Inspirationsquelle der Boheme – kein Alkohol hat gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Zeitgenossen so sehr fasziniert wie der Absinth. Noch heute ist die "grüne Fee" eine mythische Figur. Der Beitrag geht zunächst der Geschichte des Produkts und seinen literarischen Repräsentationen im Kontext der Décadence in Frankreich nach, um dann seine Transkulturation in der spanischen und hispanoamerikanischen Literatur in den Blick zu nehmen. Dabei erweist sich, dass es außerhalb Frankreichs sehr viel weniger um die Übernahme von Konsumgewohnheiten ging als um die Aneignung ästhetisch-literarischer Entwicklungen, die gerade in der Außenperspektive untrennbar mit dem exzessiven Konsum des Kräuterlikörs verbunden schienen. So sind die literarischen Figurationen des Absinths in den spanischsprachigen Literaturen vor allem als in ihrem Kontext zwischen Provokation und Affirmation schwankende Auseinandersetzung mit der (europäischen) Moderne zu lesen.

 

James Mills: Cannabis and the Cultures of Colonialism: Government, medicine, ritual and pleasures in the history of an Asian drug (c. 1800 – c. 1895), in: zeitenblicke 8 (2009), Nr. 3.

Der Aufsatz untersucht Einstellungen gegenüber Cannabis, die ihre Spuren in den kolonialen Archiven Britisch-Indiens hinterließen. Dabei werden sowohl europäische als auch asiatische Blickpunkte auf die Zubereitung jener Pflanze identifiziert und geschichtlich kontextualisiert. Einerseits wird hier argumentiert, dass selbst in Gesellschaften, die bereits seit langem Erfahrungen mit Cannabis gesammelt hatten, kulturelle Praktiken und Verständnisformen im Umgang mit dieser Droge niemals homogen und statisch waren. Andererseits wird deutlich, dass selbst dort, wo die Methoden moderner Staatsgewalt das Thema Cannabis fokussieren, diese nicht mehr Übersichtlichkeit schaffen als lokale Kulturkonstruktionen, die aus Erfahrung erwachsen sind. Die Schlussfolgerung lautet daher, dass sich Cannabis einer einfachen Ortsbestimmung in jedwedem kulturellen System entzieht, teils da die Substanz in ihren Auswirkungen auf die menschliche Physiologie komplex und unberechenbar ist, und teils da ihre Eigenschaften sie in ein häufig ungewisses oder unbeständiges Verhältnis zu Wertesystemen, Herrschaftsformen und sozialen Organisationen stellen.

 

Xavier Paules: The successful demonisation of opium during the 1920s and 1930s in China and the end of opium culture, in: zeitenblicke 8 (2009), Nr. 3.

Opiumkonsum kam in China zu Beginn des 18. Jahrhunderts auf und endete mit der von der kommunistischen Partei orchestrierten Abschaffungskampagne zu Beginn der 1950er Jahre. Die Phase zwischen 1920 und 1940 war gekennzeichnet vom Verfall der zentralen Machtorgane in China, was zu einem erneuten Anstieg des Opiumkonsums führte, obwohl die Droge noch in der Endphase des chinesischen Kaiserreiches dank einer Bekämpfungsaktion (1906-1912) fast vollständig verschwunden war. Trotz politischer und wirtschaftlicher Bedingungen in den 1920er und 1930er Jahren, die an sich sehr günstig für den Opiumverbrauch waren, scheint dieser jedoch in jenem Zeitraum deutlich unter dem Niveau der Jahrhundertwende gelegen zu haben, die den absoluten Höhepunkt des Opiumkonsums markiert hatte. Der Beitrag zeigt, dass hierfür ein entscheidender Imagewandel des Opiums in der Bevölkerung verantwortlich war: Es gelang durch eine ebenso massive wie kluge Propaganda, die ambivalente und tendenziell sogar eher positiv besetzte Vorstellung von Opium, wie sie bis dahin innerhalb der chinesischen Bevölkerung vorgeherrscht hatte, vollkommen zu invertieren. Opium wurde systematisch mit den Missetaten des Imperialismus in Verbindung gebracht, die in der Öffentlichkeit verbreiteten Vorzüge des Opiumkonsums wurden gezielt diffamiert und das Opium-Rauchen als Symbol der ärmsten Gesellschaftsschichten stigmatisiert.

 

Monika Arnez: From Tobacco to Kretek: A Success Story about Cloves, in: zeitenblicke 8 (2009), Nr. 3.

Die Kretek-Industrie ist im Laufe ihrer historischen Entwicklung zum zweitgrößten Arbeitgeber in Indonesien nach der indonesischen Regierung avanciert. Schätzungen für die Anzahl an Beschäftigten in dieser Branche liegen zwischen 4 und 17 Millionen Menschen und umfassen Bereiche wie Anbau, Handel, Transport, Werbung und Produktion der Nelkenzigaretten. Aufgrund der ökonomischen Bedeutung der Kretek-Industrie ist die indonesische Regierung von ihr abhängig. Der Beitrag zeichnet die historische Entwicklung der kretek, der indonesischen Nelkenzigaretten, unter Berücksichtigung spezifischer (markt)-ökonomischer, sozialer, politischer und Gender-Aspekte nach. Dabei wird insbesondere folgenden Fragen nachgegangen: Welche Faktoren haben dazu beigetragen, dass der Habitus des Betelkauens zunehmend durch das Rauchen von (Kretek)-Zigaretten ersetzt wurde? Welche wesentlichen Stationen hat die Kretek-Zigarette seit ihrer Erfindung durchlaufen und welche Auswirkungen hatten Faktoren wie Mechanisierung, politische Intervention und Werbung auf die weitere Entwicklung der Industrie? Welches Image haben Kretek-Zigaretten heute und welche Strategien verfolgt die Kretek-Werbung, um ihre Produkte so effektiv wie möglich am Markt zu platzieren? In welcher Verbindung steht das heutige Image von Kretek-Zigaretten mit einer Veränderung oder Bestätigung traditioneller Gender-Rollen?

 

Hans Esselborn: "Das Bewusstsein als Blätter, die Worte als Gifte." Hubert Fichtes Darstellung der Trance in den afroamerikanischen Religionen in Brasilien, in: zeitenblicke 8 (2009), Nr. 3.

Schon immer wurden der Verlust und die Überschreitung des eigenen Bewusstseins durch Drogenkonsum als religiöse Verschmelzung mit dem Göttlichen sowie als künstlerisch enthusiastischer Inszenierungszustand aufgefasst. In Zeiten von LSD und Cannabis war es eine alternative Weltsicht und Lebensweise, die Hubert Fichte bewog, zu reisen und sich intensiv mit afroamerikanischen Kultformen in Brasilien und der Karibik zu beschäftigen. So wie in den Werken "Xango", "Petersilie" ("Parsley") und "Explosion" beschrieben, dient das hybride Gemisch auf afrikanischen Naturreligionen wurzelnder Kulturen als Beispiel der Flucht vor unterdrückender Zivilisation und moralischen Ansprüchen. Fichtes Studien in Lateinamerika wie auch sein Gedankenaustausch mit Gelehrten und Geistlichen nehmen die Vodun oder auch die Orixá und ihren von Musik, vor allem Trommelspiel, Tieropfern und gemeinschaftlichen Festen dominierten Kult in den Blick. Zugleich untersucht er bestimmte Pflanzenarten, die für jene Zeremonien benötigt werden. Nach zahlreichen mühevollen Nachforschungen, Beobachtungen und der Teilnahme an rituellen Feierlichkeiten erkennt Fichte, dass der Zweck der Drogeneinnahme hier im "Abschalten des Bewusstseins" besteht, um den Weg in die Trance zu ebnen, somit die Realität hinter sich zu lassen und schließlich ganz in den spirituellen Raum einzutauchen. Erstaunlicherweise mutmaßt er jedoch, dass der ausschlaggebende Effekt nicht von den pflanzlichen Wirkstoffen ausgeht, sondern vielmehr auf die arkane Verwendung ihrer jeweiligen Namen zurückzuführen sei. Demnach werde die chemische Manipulation von Körper und Bewusstsein ergänzt durch soziale und spirituelle Praktiken, die mit dem magischen Gebrauch von Sprache einhergingen. Fichte nähert sich dabei der europäischen Interpretation von Drogen als künstlerischen Stimulansmitteln. In den 1920er Jahren propagierte und schilderte etwa Gottfried Benn in seinen Essays und Gedichten die Idee kreativer Gestaltungskraft hervorgehend aus psychischer Regression durch Sex, Berauschung und Drogen.

 

Jakob Tanner: Kurze Geschichte und Kritik der Drogenprohibition im 20. Jahrhundert, in: zeitenblicke 8 (2009), Nr. 3.

Bedeutungsinhalte und Konsummotive von Drogen haben sich in der Geschichte wechselseitig verändert. Das gilt auch für Substanzen, die heute unter dem Begriff hard drugs firmieren. Den Auftakt für deren weltweite Prohibition markierte die erste internationale Opiumkonvention von 1912. Gründe für dieses Abkommen sind zum einen im 19. Jahrhundert zu suchen. Die Briten intensivierten seit den 1820er Jahren den Opiumhandel mit China, der zwischen 1839 und 1860 in zwei Opiumkriege mündete, mit denen die Legalisierung des Opiums in China erzwungen wurde. Zum anderen tauchten in den um 1900 rasch wachsenden Städten der westlichen Welt Drogenkonsumenten auf, unter denen bestimmte Gruppen stigmatisiert bzw. als soziales Problem betrachtet wurden: so in den USA nicht etwa Morphinisten aus der Oberschicht, sondern Opium rauchende, chinesische Migranten und urbane Jugendgruppen, die unter anderem Heroin konsumierten. Unter dem Eindruck der Folgen des in China massenkonsumierten Opiums und der Angst vor einem expandierenden Drogenkonsum in der eigenen Gesellschaft formierte sich in den USA, Großbritannien und anderen europäischen Ländern im ausgehenden 19. Jahrhundert eine Anti-Opium-Bewegung, die auf ein globales Verbot von Opiaten, Kokain und später auch Cannabis hinarbeitete. Im Verlauf des 20. Jahrhunderts wurde das Prohibitionsregime zunehmend ausgebaut, was die Entstehung von hochprofitablen Schwarzmärkten förderte. Über Jahrzehnte konzentrierte sich die Bekämpfung des Drogenhandels auf repressive Maßnahmen und kulminierte seit den beginnenden 1970er Jahren im war on drugs. Wiederum wurden dabei nicht etwa Kokainkonsumenten aus wohlsituierten Kreisen problematisiert, sondern wegen ihrer Drogenabhängigkeit sozial gescheiterte Existenzen. Nicht zuletzt der Einsicht geschuldet, dass der Kurs dieser Prohibitionspolitik weitgehend kontraproduktiv war, sind seit einiger Zeit neue Ansätze erkennbar. Sie diffamieren Drogenkonsumenten nicht mehr als soziale Außenseiter, sondern setzen auf harm reduction. Dabei gewinnt auch die Erkenntnis an Boden, wie omnipräsent unterschiedlichste Drogen in unseren Gesellschaften sind und wie willkürlich die Grenzlinie zwischen legal und illegal in der Vergangenheit gezogen wurde.

Erstellt von: RedaktionZB
Zuletzt verändert: 2009-12-23 11:06 AM