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Zusammenfassung

Mondäner Aperitif, Volksdroge, Inspirationsquelle der Boheme – kein Alkohol hat gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Zeitgenossen so sehr fasziniert wie der Absinth. Noch heute ist die "grüne Fee" eine mythische Figur. Der Beitrag geht zunächst der Geschichte des Produkts und seinen literarischen Repräsentationen im Kontext der Décadence in Frankreich nach, um dann seine Transkulturation in der spanischen und hispanoamerikanischen Literatur in den Blick zu nehmen. Dabei erweist sich, dass es außerhalb Frankreichs sehr viel weniger um die Übernahme von Konsumgewohnheiten ging als um die Aneignung ästhetisch-literarischer Entwicklungen, die gerade in der Außenperspektive untrennbar mit dem exzessiven Konsum des Kräuterlikörs verbunden schienen. So sind die literarischen Figurationen des Absinths in den spanischsprachigen Literaturen vor allem als in ihrem Kontext zwischen Provokation und Affirmation schwankende Auseinandersetzung mit der (europäischen) Moderne zu lesen.

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Ein heruntergekommenes, von Rauch und Stimmengewirr erfülltes Pariser Café. An einem der kleinen Marmortische diskutiert eine Runde ärmlich gekleideter Männer. Immer wieder ertönt aus ihrer Mitte der Ruf: "¡Eh, mozo, más ajenjo!". [1] Etwas weiter entfernt sitzt eine stark geschminkte Frau, die gedankenverloren mit einem Stück Würfelzucker spielt, auf dem Tischchen vor sich ein Glas mit einer grünen Flüssigkeit und eine Wasserkaraffe. Auf einer der Bänke an der Wand unter dem langen Spiegel betrachtet ein junger Mann die Szenerie und zeichnet ab und an in ein abgegriffenes Skizzenbuch. So oder ähnlich mag man sich die Szenen vorstellen, die Edgar Degas' berühmtem Ölbild L'Absinthe (1876-1877) und noch über 20 Jahre später Pablo Picassos Gemälde La buveuse d'absinthe (1901) als Modell dienten, [2] und die in jenen Jahrzehnten überall in Paris und der französischen Provinz zu beobachten waren.

Abb. 1

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Absinth, der gegen Ende des 18. Jahrhunderts in der Schweiz als "Allheilmittel" erfundene und seit Beginn des 19. Jahrhunderts in Frankreich hergestellte Kräuterlikör, [3] war im Fin de siècle der am meisten konsumierte hochprozentige Alkohol französischer Produktion. [4] Während des Algerienfeldzuges (1830–1847) hatten die französischen Truppen den Likör zur Vorbeugung gegen Fieber, Durchfall und zur Aufbereitung des Trinkwassers eingesetzt. Viele Soldaten sollten die neue Konsumgewohnheit, die sich deutlich von der dominierenden Weintrinkerei unterschied, beibehalten und allmählich auch in andere Kreise hineintragen. Der Dichter Alfred de Musset, der mit dem Roman La confession d’un enfant du siècle (1836) prototypisch die zerrissene Befindlichkeit, das als Krankheit begriffene Ungenügen seiner Generation an der nachrevolutionären Epoche gestaltet hatte, war 1857 der erste Absinth-Tote, über den berichtet wurde. In den 1870er Jahren konnte sich das Getränk dann in allen Schichten der französischen Gesellschaft durchsetzen. Die Gründe dafür sind vielfältig. Im deutsch-französischen Krieg von 1870/71 und in den Wochen der Pariser Kommune stieg der Alkoholkonsum insgesamt sprunghaft an [5] und sollte nie wieder auf das Vorkriegsniveau sinken. Während sich durch die Reblauskatastrophe der 1860er und 1870er Jahre der Wein stark verteuert hatte, kostete Absinth nicht viel, denn für seine Produktion wurde nun der billige Industriealkohol verwendet [6]. So war der Likör auch für die Unterschichten erschwinglich, wo er reichlich Abnahme fand. Getrunken wurde er vor allem in den débits de boissons, den Cafés, Cabarets und Bistros, die oftmals die einzigen Orte darstellten, an denen die Angehörigen der Arbeiterklasse eine gewisse Soziabilität leben und ein Minimum an Wärme und Komfort erfahren konnten. [7]

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Zugleich aber entwickelten auch die Mittel- und die Oberschichten eine Vorliebe für Absinth. Geänderte Konsumgewohnheiten – der Aperitif – und eine gezielte Werbung, die sich vor allem die neuen Möglichkeiten des Litographie-Plakats zunutze machte, ließen in diesen Kreisen Absinth zu einem echten Modegetränk werden. Zu den Konsumenten gehörten nun zunehmend auch Frauen, die in der Belle Époque zum Mittelpunkt des glanzvollen gesellschaftlichen Lebens stilisiert und als Zielgruppe in den Werbeplakaten und Werbepostkarten gesondert angesprochen wurden. Gerade hier wird in der Verbindung von Bild und Text die Verquickung unterschiedlicher verkaufsfördernder Konnotationen deutlich. Dem Absinth wurde nämlich nicht nur weiterhin eine generell animierende und gesundheitsfördernde Wirkung zugeschrieben, vor allem bei Appetitlosigkeit, Darmträgheit und Magenbeschwerden. Zugleich wurde auch immer wieder auf seine breite gesellschaftliche Akzeptanz und seine Modernität verwiesen. "Mais oui, ma chère, il est de très bon ton aujourd'hui, de prendre une 'Oxygénée Cusenier', mon docteur me l'a dit", heisst es etwa auf einer Postkarte, auf der man zwei bürgerlich-schick gekleidete junge Damen an einem Kaffeehaustischchen sieht. [8] Der französische Staatspräsident Sadi Carnot (1887-1894) gab seinen Namen für eine Marke her, auf anderen Plakaten waren bekannte Persönlichkeiten wie die Schauspielerin Sarah Bernard abgebildet. Im Verein mit der graphischen Gestaltung im Stil des "art nouveau" erschien der Absinthkonsum so als ein wahrhaft mondäner Habitus.

Abb. 2

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Im Absinthgenuss zur nachmittäglichen "grünen Stunde" war sich jedenfalls ganz Frankreich einig. Überall widmeten sich Bürger wie Arbeiter dem typischen Trinkritual: Auf das Glas mit einer kleinen Menge tiefgrünem Absinth wurde ein eigens zu diesem Zweck angefertigter perforierter Löffel gelegt, darauf ein Stück Würfelzucker. Langsam beträufelte man den Zucker mit kaltem Wasser und wartete darauf, dass die Flüssigkeit im Glas von klarem Grün in trübes Weiß umschlug. [9] In größeren Bars machten Absinth-Brunnen mit zahlreichen Wasserhähnen das Ritual zu einem wahrhaft gemeinschaftlichen Erlebnis.

Abb. 3

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Die Anti-Absinth- und Anti-Alkoholismusbewegung, die sich seit den 1860er Jahren formierte – und von der auch nationalistisch argumentierenden Weinlobby kräftig unterstützt wurde, galt Wein doch als ungefährlich und typisch französisch –, führte hingegen die verheerenden Auswirkungen des Absinthkonsums ins Feld und bediente sich dazu ebenfalls der Printmedien und der Plakatkunst. Medizinische Abhandlungen und populärwissenschaftliche Traktate beschrieben die (vorgeblich) durch Absinth hervorgerufenen Halluzinationen, [10] vor allem aber die körperlichen und sozialen Konsequenzen der Absinthismus genannten Absinthabhängigkeit: Krampfanfälle, körperlicher Verfall, Demenz, Paralyse, Schädigung des Nachwuchses, soziale Desintegration, früher Tod. Dabei wurde vielfach allein dem 'unreinen', weil aus Industriealkohol hergestellten Absinth angelastet, was aus heutiger Sicht allgemein als Krankheitsbild des chronischen Alkoholismus zu fassen wäre. Hinzu kamen 'sozialhygienische' Vorstellungen: im Absinthismus sah man einen der entscheidenden Gründe für den 'moralischen Verfall' der Arbeiterklasse, für den Geburtenrückgang und die Zunahme von Gewalt, Krankheit, Protest und Agitation in diesen Schichten. [11] Während Émile Zola die Verbreitung des Absinthismus in der Arbeiterklasse durch die miserablen Wohnverhältnisse im Verein mit den wenigen Vergnügungsmöglichkeiten erklärte und mit dem Roman L'Assommoir (1877) am Beispiel des Alkoholismus eine tragisch endende Fallstudie des Zusammenwirkens von hoffnungslosem Milieu und familiären Anlagen vorlegte, setzten die Anti-Absinthisten konsequent auf Kriminalisierung und Dämonisierung des grünen Likörs. [12] Die "fée verte" ("grüne Fee"), wie das Getränk ursprünglich in Anlehnung an die volkstümliche Figur der Zahnfee ob seiner Wirkung als Tonikum angepriesen wurde, verwandelte sich in eine grüne Hexe oder gar in den Tod. Zeitungsartikel, Bildergeschichten, Karikaturen und Heftchen boten das stereotype Bild des geistig-körperlichen wie sozialen Abstiegs, der jedem Absinthtrinker gewiss sei.

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Doch auch das Verbot des Absinths in der Schweiz, mit dem die Wahlbevölkerung 1907 auf den in allen Zeitungen sensationalistisch berichteten Mord des Alkoholikers Lanfray an seiner schwangeren Frau und seinen Töchtern reagierte, vermochte seine Beliebtheit in Frankreich nicht zu mindern. Erst 1915, unter dem Eindruck der Verluste im Ersten Weltkrieg, konnte unter Verweis auf die Schwächung der Truppe ein landesweites Verbot durchgesetzt werden. Bis dahin war Absinth eine wahre Volksdroge, die in den aristokratischen Salons genauso gern getrunken wurde wie in den Arbeiterlokalen und den halbseidenen Cabarets. Die Belle Époque, die 1914 in Blut und Schlamm unterging, war grün.

Absinth in der französischen Boheme

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Im heutigen Verständnis gilt Absinth jedoch vorrangig als die Künstlerdroge des Fin de siècle. In der Tat, viele der Künstler und Schriftsteller, die sich aus Überzeugung oder mangels besserer Möglichkeiten in der Welt der Boheme angesiedelt hatten und als Vertreter einer dezidiert antibürgerlichen Avantgarde in Kunst und Literatur verstanden, sprachen der grünen Fee gerne zu. Der günstige Preis wird den Konsum des Likörs in der notorisch unter Geldmangel leidenden Künstler- und Schriftstellergemeinde befördert haben. Auch das Trinkritual, das vielfach als Initiationsritus in das Künstlerleben zelebriert wurde, mag eine besondere Anziehung ausgeübt haben, ebenso natürlich die Annahme, Absinth habe halluzinogene Wirkungen.

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Doch eine ganze Reihe dieser Bohemiens beließ es nicht beim gelegentlichen Absinthgenuss, sondern machte den schrankenlosen öffentlichen Absinthismus zur Lebensform, zum sinnfälligen Ausdruck der Opposition gegen bürgerliche Werte und Konventionen. Für die Lebenspraxis entscheidend war aber wohl nach gewisser Zeit die schlichte Abhängigkeit vom Alkohol. Da bot der hochprozentige Likör das beste Preis-Leistungsverhältnis. Dichter wie Paul Verlaine und Alfred Jarry, Maler wie Henri Toulouse-Lautrec und Vincent van Gogh waren bekannte "absintheurs". Ihre unter dem Einfluss der grünen Fee verübten Exzesse skandalisierten die Öffentlichkeit. Die wüsten Trinkgelage von Verlaine und seinem jungen Geliebten, dem Dichter Arthur Rimbaud, die schließlich in Verlaines Mordversuch an Rimbaud gipfelten, oder Jarrys Fahrradtouren durch Paris, für die er sich zu Ehren des Absinth nackt auszog und am ganzen Körper grün bemalte, bildeten beliebte Klatschthemen.

Abb. 4

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Zu der eigentümlichen Doppelfunktion des Absinth als Volksdroge und bürgerlich-mondänem Aperitif, die dank Werbung und Anti-Alkohol-Bewegung im öffentlichen Bewusstsein des Fin de siècle präsent war und dem Konsum eine schillernde Zweideutigkeit verlieh, kam so eine weitere, nicht weniger ambivalente Semantisierung des Produkts hinzu. Absinth, "la fée verte", die in den Werbeplakaten gern als verführerische und lebenslustige junge Frau personifiziert wurde, erfuhr eine Umdeutung, die den seit der "schwarzen Romantik" verbreiteten Topos der Femme fatale aufgriff und zum Bild der verderbenbringenden Muse übersteigerte. Ihrer gefährlichen Anziehung erlag vor allem der "poète maudit", der "verfemte Dichter", der meinte, sich im Dienst der Kunst mit Leben und Werk gegen die bürgerliche Gesellschaft stellen zu müssen – und von ihr folglich abgelehnt wurde. Mit dem Absinth selbst hatte diese Vorstellung jedoch kaum noch zu tun, ebenso wenig wie mit den literarischen Texten der Autoren, die bald als Hauptvertreter der Literatur des Fin de siècle galten. Dabei war ihnen der moderne literarische Drogendiskurs nicht fremd, im Gegenteil, sie trieben ihn voran und verbanden ihn in enger Weise mit der Suche nach einem neuen Dichtungskonzept.

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Schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts hatten Samuel Taylor Coleridge, im Vorwort zu seinem Gedicht Kubla Kahn (1816), und Thomas De Quincey mit Confessions of an English Opium-Eater (1821), den Drogenrausch als besondere und besonders ertragreiche künstlerische Inspirationsquelle gefeiert. [13] Für die französischen Dichter der sogenannten Décadence [14] und des Symbolismus war die mögliche ästhetische Innovationskraft des im Drogenrausch erfahrbaren Ausnahmezustandes denn auch ein entscheidender Faktor, sich das Thema literarisch anzueignen. Weder die durch die fortschreitende Rationalisierung aller Lebensbereiche überzivilisierte, banale Wirklichkeitskonstruktion der bürgerlichen Gesellschaft noch das darin gefangene Gefühlsleben des Subjekts boten ihnen den notwendigen Raum für poetische Imagination. Der Drogenrausch hingegen versprach den Eintritt in andere Welten ebenso wie eine geschärfte Wahrnehmung der Moderne und ihrer Abgründe. Im Club des hachichins hatten sich bereits zur Mitte des Jahrhunderts Autoren wie Théophile Gautier, Alexandre Dumas, Gérard de Nerval und Charles Baudelaire zusammengefunden, um gemeinsam Haschisch zu rauchen und/oder entsprechende Erlebnisse dichterisch zu gestalten.

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Liköre, so Baudelaire in seinem Prosaband Les paradis artificiels. Opium et hachich (1860), zerschlügen allerdings die geistige Kraft und seien nicht geeignet, den außergewöhnlichen, "paradiesischen" Zustand künstlich zu erzeugen. Es mag nicht zuletzt an Baudelaires ausdrücklicher Ablehnung des Alkohols als Zugang zu einer spezifisch modernen Dichtungspraxis gelegen haben, dass die Schriftsteller der Décadence und des Symbolismus, die sich wie Verlaine, Rimbaud, Jules Laforgue und andere als seine Nachfolger, wenn nicht gar als seine Schüler betrachteten, zwar Absinth tranken, jedoch selten darüber schrieben. [15] Wenn, dann beschworen sie den Rausch als Ergebnis einer aufs Höchste gespannten ästhetisch-intellektuellen Bewusstheit aber eben nicht des Alkohol- oder Drogenkonsums. Schon in Baudelaires berühmten Prosagedicht "Enivrez-vous" werden so neben dem Wein gerade Poesie und Tugend als Hauptquellen der als Dauerzustand erstrebenswerten Trunkenheit gefeiert.

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Die Suche nach den künstlichen Paradiesen, nach dem Unbekannten, ist so auch in Rimbauds berühmtem Gedicht "Le bateau ivre" (1871) eine Suche in der Sprache, eine ständige Grenzüberschreitung ihrer semantischen, lexikalischen und phonisch-rhythmischen Möglichkeiten. Bezeichnenderweise scheint in einer Strophe noch die Absinth-Erfahrung auf, doch wird sie sofort in die Sprachreise des Dichter-Schiffs aufgehoben:

Plus douce qu'aux enfants la chair des pommes sûres,
L'eau verte pénétra ma coque de sapin
Et des taches de vins bleus et des vomissures
Me lava, dispersant gouvernail et grappin.

Et dès lors, je me suis baigné dans le Poème
De la Mer, infusé d'astres, et lactescent,
Dévorant les azurs verts; où, flottaison blême
Et ravie, un noyé pensif parfois descend. [16]

Trunkenheit wird im weiteren Fortgang des Gedichts zur reinen Chiffre des Ausnahmezustands, zu dem nur der Dichter fähig und aufgerufen ist, und an dem er am Ende doch scheitern muss. Die Anspielungen auf den Absinth – das grüne Wasser, das von "Blauweinflecken" reinigt; der "milchige Strahl" und der "Grünhimmel", die das lyrische Ich verschlingt – sind nurmehr ein Element der "Rhythmen und Delirien" der folgenden Strophe, die die Reise durch das Gedicht des Meeres prägen.

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Die allermeisten literarischen Texte über die grüne Fee und ihre Wirkungen stammen in Frankreich jedoch bezeichnenderweise von Autoren aus der damaligen 'zweiten Reihe', die ihren kargen Lebensunterhalt häufig mit Beiträgen für humoristische Zeitschriften aufbesserten. Dazu gehört etwa der Dichter und Journalist Raoul Ponchon, dessen uninspiriertes "Sonnet de l’ Absinth" (1886) den Likör feiert, weil er "me fait supporter la vie/ En m’habituant à la mort". [17] Ähnlich auch das als Chanson beliebte melancholische "Lendemain" von Charles Cros, Erfinder und Dichter und wie Ponchon ein bekannter Absintheur. Blumen und Frauen können nur eine Weile Vergnügen bereiten, der Absinth aber bleibt. Das von Ponchon stammende Gedicht "Five o’clock Absinthe" bietet hingegen in derb-komischem Stil eine Anweisung für das Trinkritual und gipfelt in dem Vergleich des Likörs mit einer jungen Braut: Beide müssen vorsichtig für den Genuss "zubereitet" werden. Der Humorist Alphonse Allais thematisiert andere Wirkungen. In seiner Kurzerzählung "Absinthes" (1885 in der eigenen Zeitschrift des berühmten Cabarets Le chat noir veröffentlicht), lässt er einen erfolglosen Schriftsteller beim Absinth das Pariser Straßenleben ungefiltert wahrnehmen und vom einzigartigen, unvergesslichen und erfolgreichen Buch phantasieren. Am Ende wird aber doch nur ein weiterer Absinth bestellt.

Abb. 5

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Diese und die ähnlich gelagerten Texte französischer Autoren geben bei Licht besehen jedoch genauso wenig her für das Bild der "düsteren Muse", die Künstler und Dichter ins Verderben reißt, wie das Werk eines Baudelaire oder Verlaine, in dem das Thema kaum auftaucht. Warum gerann also gerade der Absinthmissbrauch mit seinen tatsächlichen und vermeintlichen Begleiterscheinungen schon den Zeitgenossen zum Inbegriff der Pariser Bohème und ihrer Kunst? Eine wesentliche Rolle hat wohl in der Tat der öffentliche und halböffentliche Klatsch gespielt, der in den Medien, das heißt vor allem in den Gesellschaftsnachrichten der Zeitungen und den Artikeln und Karikaturen der Zeitschriften, ein gewisses Echo fand. Skandalträchtige Selbstinszenierung, mediale Präsenz und Selbstvermarktung konnten dabei am Ende derart in eins fließen, dass der inzwischen mittellose Verlaine sich seinen Absinth von Touristen bezahlen ließ, für die das wiederum zum obligatorischen Parisbesuchsprogramm gehörte. Nicht weniger wichtig für die Stilisierung der "grünen Fee" zur düsteren Muse der Boheme war nämlich ein anderer, ebenso 'moderner' Faktor: die wachsende Internationalisierung von Produkten, Lebensstilen, Berichterstattung, Bilderwelten und, last but not least, literarischen Entwicklungen. [18]

Abb. 6

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So erklärt sich jedenfalls zum großen Teil auch die Übernahme des Themas – weniger des Getränks selber – außerhalb Frankreichs, wo sich das Bild der "grünen Fee" und des ihr verfallenen Künstlers untrennbar mit dem Paris-Diskurs sowie der Auseinandersetzung um und mit der ästhetischen Moderne verband. Zwar wurde Absinth in Spanien, in Lateinamerika und in den USA, hauptsächlich in New Orleans, durchaus getrunken, keinesfalls aber in den Dimensionen, die in Frankreich an der Tagesordnung waren. Dennoch war der grüne Likör dort präsent, und das eben bezeichnenderweise zunächst und vor allem in Texten über das Pariser Leben und die Künstlerfiguren der Bohème. [19] In Theodore Childs Artikel "Characteristic Parisian Cafés", der 1889 im weitverbreiteten Harper’s New Monthly Magazine erschien und auch als eine Art Kneipenführer für die nächste Parisreise betuchter Nordamerikaner dienen konnte, kommen allfälliger Absinthgenuss und Spätformen der Bohème als vergleichsweise harmlose und keineswegs zwangsweise miteinander verbundene touristische Sehenswürdigkeiten vor; in Marie Corellis Erfolgsroman Wormwood. A Drama of Paris (1890) hingegen, der Geschichte eines jungen Mannes aus gutem Hause, der dem Absinth bis zur Selbstzerstörung verfällt, ist es gerade ein Pariser Dichter, der dem tragischen Helden die überwältigende Wirkung der grünen Fee verführerisch schildert:

A nectar, bitter-sweet - like the last kiss on the lips of a discarded mistress - is the secret charm of my existence; green as the moon's light on a forest pool it glimmers in my glass; eagerly I quaff it, and, as I drink, I dream. Not of foolish things. No! Not of dull saints and smooth landscapes in heaven and wearisome prudish maids; but of glittering bacchantes, nude nymphs in a dance of hell, flashing torrents and dazzling mountain-peaks, of storm and terror, of lightning and rain, of horses galloping, of flags flying, of armies marching, of haste and uproar and confusion and death! [20]

Die moderne, 'dekadente' französische Literatur mit ihren "morbiden", "unmoralischen" Themen als Ausfluss des Absinthrausches von Autoren, die nurmehr "obszöne" Phantasien hervorbringen und damit die Jugend verführen [21] – auf ein trivialeres Klischee ließen sich Dichtung und Dichterleben des Pariser Fin de siècle kaum degradieren. Gleichzeitig aber schimmert hier doch auch etwas von der Faszination durch, die von der grünen Fee als Chiffre eines die bürgerliche Wohlanständigkeit verachtenden Lebens und Schreibens ausging – und die manchen jungen Dichter außerhalb Frankreichs in seinem Bestreben, an die Pariser Moderne Anschluss zu finden, beindrucken sollte. Insbesondere im spanischsprachigen Raum, der gegen Ende des 19. Jahrhunderts einen Modernisierungsprozess eigener Prägung zu erleben begann, wandelte sich der Absinthgenuss so von einem unterschiedlich besetzten Konsumverhalten in ein literarisch-künstlerisches Transkulturationsobjekt, dem das Wissen um die fremde Herkunft eingeschrieben blieb. Denn nicht der Absinth selbst wurde in nennenswertem Umfang importiert oder in Lizenz produziert, sondern die Rede darüber. Aus der grüne Fee wurde die "hada verde" und schließlich die "musa sombría", die dann ganz ohne Rückverweis auf den französischen Likör für die Neuorientierung der spanischsprachigen Literatur stehen konnte.

Absinth und Literatur in Spanien und Lateinamerika

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In Madrid hatte sich schon in den 1850er Jahren eine am Modell der namengebenden Scènes de la vie de bohème (1849) von Henri Murger orientierte Schriftstellergruppierung herausgebildet, die zwar in hohen Dosierungen dem Alkohol zusprach, dem Absinth dabei aber keine besondere Rolle einräumte. [22] Erst um die Jahrhundertwende erlangte der grüne Likör zumindest literarisch eine dem Morphium und dem Haschisch – damals ebenfalls freiverkäufliche Drogen –, vergleichbare Bedeutung als – gefährliche – Inspirationsquelle. Beispielhaft für eine noch ganz dem französischen Anti-Absinth-Diskurs verpflichtete Darstellung einer Irrsinn, Verderben und Tod bringenden Droge, zu der der Dichter in seiner Verzweiflung Zuflucht sucht, ist das Gedicht "Última noche de Edgardo Poe" [Die letzte Nacht von E.A. Poe] (1894) des heute vergessenen Manuel Reina. In einer der ersten Strophen heißt es:

De repente, fantástica, surge
del vaso de ajenjo
una virgen de túnica verde
y rostro siniestro.

Sus pupilas están apagadas
como un astro muerto,
y en sus lívidos labios la risa
parece un lamento.

Es la virgen la horrible Locura
que abraza al bohemio,
y se lanza con él a un abismo
terrorífico y negro. [23]

Fast meint man, Magnains Bild vor sich zu sehen, nicht zuletzt ob der ähnlichen moralischen Ausrichtung, die in Reinas Gedicht auch Poes Werk meint. Während so jedoch auch und vor allem Distanz zur modernen französischen Lyrik markiert wird – Baudelaire hatte Poe bewundert und übersetzt und ihn so überhaupt erst in Europa bekannt gemacht –, klingt das einige Jahre später bei jüngeren spanischen Dichtern schon ganz anders. Francisco Villaespesa etwa stellt sich mit seinem Gedicht "La musa verde" [Die grüne Muse] (1906) ganz in die Tradition Baudelaires, wenn er das lyrische Ich ausrufen lässt:

Es tu hora sombría, ¡oh Baudelaire! Fumamos
opio, se bebe ajenjo, y, embriagados, soñamos
con tus artificiales paraísos perdidos… [24]

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In der Lebenspraxis war der Absinth durchaus verbreitet und geriet folglich auch ins Visier der spanischen Anti-Alkohol-Bewegung. Jedoch wurde keiner der spanischen Bohemiens als Absinthabhängiger bekannt. Wohl mit Recht lässt sich der in einer Reihe spanischer Texte thematisierte Absinthrausch als ein mehrheitlich imaginärer kennzeichnen, der vor allem die Vertrautheit mit Paris und den aktuellen künstlerischen Strömungen dokumentieren sollte. Darin äußert sich ein 'imaginäres Begehren', das bezeichnenderweise nicht auf die Droge selbst, sondern auf ihre symbolische Funktion als Distinktionsmerkmal einer bestimmten, spezifisch modernen Lebens- und Dichtungspraxis zielt. Kritisch beurteilt diese Verknüpfung schon Rubén Darío, der aus Nicaragua stammende Begründer und Hauptvertreter des Modernismo. Diese um die Mitte der 1880er Jahre in Hispanoamerika entstandene literarische Bewegung nahm sich dezidiert vor, die spanischsprachige Literatur grundlegend zu erneuern, sie gegenüber modernen internationalen Strömungen zu öffnen und dadurch aus ihrer Provinzialität herauszuführen. Die anfängliche Orientierung an der Literatur der französischen Décadence galt folglich nicht nur als Zeichen von Modernität gegenüber den konservativ geprägten und entsprechend leicht zu schockierenden Gesellschaften in Spanien und Lateinamerika, sondern auch als Ausweis der kulturellen Gleichrangigkeit mit dem Zentrum der Moderne. [25] Für eine Reihe von Schriftstellern geriet das allerdings zu einer fragwürdigen Pose. Inzwischen selbst zum Alkoholiker geworden, erinnert sich Darío 1910 deshalb durchaus ironisch an Alejandro Sawa, Madrids bekanntesten Bohemien, und seine Paris-Leidenschaft:

¿Por qué ese tipo solar, hijo de padre griego y de madre sevillana, y que pasó sus primeros años al amor de la luminosa Málaga, amaba tanto a París, en donde el sol se muestra tan esquivo y una bruma del color del ajenjo opaliza los otoños? No es único el caso suyo, y la razón podría explicarla el heleno Papadiomantopoulos [i.e. Jean Moréas]. El hecho es que él siempre tenía presente su visión luteciana. No hablaba dos palabras sin una cita o reminiscencia francesa. Exponía contento sus literarios recuerdos, sus intimidades con escritores y poetas.
erlaine a cada paso y ante todo; [26]

Deutlich wird in Daríos Prolog nicht nur, wie sehr aus hispanischer Perspektive Absinth, Paris und seine avanciertesten Dichter zu einer Einheit verschmolzen waren, sondern auch, welchem Zweck die ständige Anspielung auf diese Trias dient. Denn so wie der Absinthkonsum in Frankreich je nachdem als Ausweis mondäner Lebensart oder als Signum antibürgerlicher Kunst- und Lebenspraxis fungieren konnte, wird für spanischsprachige Autoren der diskursive Verweis auf die Pariser Konsumgewohnheiten zum Modernitätsmerkmal, wenn auch nur innerhalb der Madrider Literaturszene. Um 1900 war sie von der Polemik um den Modernismo bestimmt, in der die Bohemiens – echt oder gespielt – die Rolle der an Frankreich orientierten, 'modernen' Minderheit übernahmen, oftmals ohne sich wirklich auf die ästhetischen Neuerungen des Modernismo einzulassen. So betont Darío mit seiner Kritik an Sawas Frankophilie nicht allein, dass er genauso vertraut mit den Pariser Verhältnissen ist, sondern auch, dass er im Unterschied zu Sawa, der eben kein Modernist war, die Pose durchschaut hat.

Abb. 7

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Eine letzte Volte dieser Selbstinszenierung findet sich in dem berühmten Theaterstück Luces de bohemia [Lichter der Boheme] (1919/1924) von Ramón del Valle-Inclán: Die Hauptfigur Max Estrella – Alejandro Sawa nachempfunden – trinkt mit Darío in einem Café Absinth; beide erinnern sich an die vergangenen Tage von Paris, woraufhin prompt Verlaine stumm an ihnen vorbeihinkt. Nicht nur die Erscheinung Verlaines erscheint so als Ausgeburt absinthgeschwängerter Phantasmagorien, sondern die gesamte Szene oder, genauer, auch die Erinnerung an die eigenen Paris- und Modernitätserfahrungen ist folglich nichts anderes als eine dem Absinthrausch geschuldete Illusion zweier notorischer Säufer. Mit echtem Drogenkonsum hat das nun wirklich nichts mehr zu tun. Absinth dient hier nurmehr als schillernde Metapher, entweder für die inneren Abgründe des modernen Dichters oder, auf einer Metaebene, für die fehlende Authentizität einer Selbstinszenierung, die den Absinthismus als pars pro toto für Dichtung und Lebensstil der bewunderten französischen Vorbilder verwendet.

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Ähnliches gilt für die hispanoamerikanische Literatur. In Lateinamerika blieb Absinth überwiegend ein französisches Importprodukt, sein Konsum war weniger erschwinglich und verbreitet als es die Texte glauben machen könnten. Als der junge Rubén Darío 1887 im überschaubar-provinziellen Santiago de Chile seinen noch überwiegend romantisch geprägten Gedichtband Abrojos [Mühsal] publizierte, hatte er den "bitteren Absinth", von dem er schrieb, wohl gerade erst gekostet. [27] Nur in den seit Ende des 19. Jahrhunderts in einem rasanten Modernisierungsprozess begriffenen Großstädten – allen voran Buenos Aires und Mexiko-Stadt – bildete sich für einige Jahre eine künstlerische Boheme heraus, in der auch der exzessive Alkohol- und Drogenkonsum zum Lebensstil gehörte. [28] Der Morphiumentzug von José Juan Tablada, dessen Gedicht "Misa negra" [Schwarze Messe] 1892 den Decadentismo in Mexiko begründet hatte, wurde zur Zeitungsnachricht; [29] andere Autoren nahmen ebenfalls mehrere Drogen gleichzeitig. [30] Allerdings spielte der Absinth in der Praxis dabei keine besonders herausgehobene Rolle, es sei denn, die Dichter verfielen dem Likör während ihrer langjährigen Paris-Aufenthalte, wie das bei Darío der Fall war, der sich allerdings hütete darüber zu schreiben.

Abb. 8

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Dennoch fand das Motiv der "hada verde" weit über die materielle Kenntnis des Likörs hinaus Verbreitung. Schon 1887, also lange vor den spanischen Dichterkollegen, veröffentlichte der mexikanische Dichter und Journalist Manuel Gutiérrez Nájera sein berühmtes Gedicht "El hada verde. Canción del bohemio" [Die grüne Fee. Lied des Bohemiens], in dem alle Topoi des Pariser Absinth-Diskurses aufgerufen werden: die der Boheme-Literatur und der Anekdoten – Mussets fataler Absinthismus – ebenso wie die der Absinth-Gegner – die drohende Demenz –, die hier jedoch auch ins Positive, das heißt ins Gefährlich-Faszinierende gewendet werden:

¡En tus abismos, negros y rojos,
fiebre implacable mi alma se pierde,
y en tus abismos miro los ojos,
los verdes ojos del hada verde!

Es nuestra musa glauca y sombría,
[...]

En las pupilas concupiscencia;
juego en la mesa donde se pierde
con el dinero, vida y conciencia,
en nuestras copas, eres demencia
¡oh, musa verde!

Son ojos verdes los que buscamos,
verde el tapete donde jugué,
verdes absintios los que apuramos,
y verde el sauce que colocamos
en tu sepulcro, pobre Musset. [31]

Mit diesem und ähnlichen Gedichten konnte sich Gutiérrez Nájera als dekadenter und eben deshalb als spezifisch moderner und kosmopolitischer Autor profilieren. Der Anspruch der mexikanischen und anderer hispanoamerikanischer Modernisten auf Gleichrangigkeit mit der Entwicklung in der französischen Metropole verfolgte jedoch eine ambivalente, auf die spezifischen Erfordernisse des heimischen Kontextes zielende Aneignung der dekadenten Modelle, die vor allem ob ihrer literarisch-künstlerischen Avantgarde-Funktion und ihrer anti-spanischen Orientierung in die eigene Kultur übersetzt wurden. Die Ambivalenz zeigt sich nicht zuletzt in einer gewissen Ironie, die mitunter gerade in der Übererfüllung entsprechender Topoi fassbar ist. Im vorliegenden Fall wird so die absinthtypische Farbe Grün zum Symbol für das Düster-Abgründige und deshalb Verlockende einer antibürgerlichen Dichtungspraxis, die als Ausweis von kultureller Modernität dem Selbstverständnis und dem grundsätzlichen Fortschrittsglauben des bürgerlichen Publikums doch wiederum entgegenkam.

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Der Absinthkonsum und seine Bedeutung für Werk und Lebensführung des modernen, das heißt dekadenten Künstlers hatte sich um 1900 in vielen lateinamerikanischen Ländern zur Formel neue Dichtung = Boheme = Absinth verfestigt, bei der es reichte, eines der Glieder zu aktualisieren um den Leser die anderen assoziieren zu lassen. Mindestens so entscheidend wie die Vermittlung französischer Texte war dabei die zwischen seriöser Information und Klatsch changierende Berichterstattung einer wachsenden Zahl hispanoamerikanischer Schriftsteller-Journalisten, die Paris zu ihrem zumindest vorübergehenden Wohnort gemacht hatten. Gegen Mitte der 1890er Jahre erschienen so in der modernistischen Literaturzeitschrift Revista Azul in Mexiko Übersetzungen von Baudelaires berühmtem Prosagedicht "Enivrez-vous" und von einer Erzählung über die schrecklichen Folgen des Absinthkonsums aus der Feder der Brüder Goncourt; der Guatemalteke Enrique Gómez Carrillo beschrieb in Artikeln für große lateinamerikanische Tageszeitungen das Pariser Leben und, ganz besonders, Pariser Künstlerpersönlichkeiten, darunter eben auch Verlaine und seine Absinthabhängigkeit. [32] Noch im 1915 publizierten Lyrik- und Kurzprosaband El cencerro de cristal [Die Kuhglocke aus Kristall] des Argentiniers Ricardo Güiraldes, dem späteren Schöpfer des Gaucho Don Segundo Sombra, erscheint der Likör als unverzichtbare Zutat Pariser Szenen, bevölkert von tragischen Prostituierten und betrunkenen Dichtern und Künstlern. Sie sind Ausgestoßene, die nurmehr gemildert durch die grünlich-weiße Wahrnehmung die Welt ertragen können, wobei ihre exzessive Verweigerungshaltung durch ironische Übersteigerung und entsprechende Verweise auf die einschlägigen Referenzautoren als literarisch vorgeformte Pose wenn nicht entlarvt, so doch angedeutet wird. [33] Der Modernismo hatte in Lateinamerika sehr bald andere Wege eingeschlagen und die Orientierung an der Literatur der französischen Décadence war von anderen Referenzen abgelöst worden.

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So sank der Absinth recht schnell auf die Rolle der trivialen Zutat einer vorwiegend literarischen, gelegentlich auch lebensweltlichen Selbststilisierung herab, die im Rückblick als typische und kurzlebige Erscheinung der vorgeblich peripheren Situation der lateinamerikanischen Literatur- und Kulturszene gebrandmarkt wurde. In seinen Erinnerungen beschreibt Tablada dieses Phänomen in plastischer Eindringlichkeit. Dabei sieht er in der lateinamerikanischen Übernahme des exzessiven Drogenkonsums immerhin noch den Ausweis einer Ehrlichkeit, die dem französischen Vorbild gefehlt hätte, und wiederholt damit lange nach den Ereignissen einen beliebten Topos der Dekadenz-Kritik:

La influencia de lo que en el poeta Baudelaire hay de morboso, fue para la juventud de mi generación el verdadero mal de las Galias [= Syphilis]…

Incapaces de discernir el artificio en la descarriada moral del gran poeta, fuimos más sinceros que él y desastrosamente intentamos normar no sólo nuestra vida literaria, sino también la íntima, por sus máximas disolventes […]

El simple hecho de que Baudelaire hubiera llamado a alcoholes, drogas y estupefacientes los paraísos artificiales iluminó las vulgares tabernas con esplendores de apoteosis luciferina y las transformó a nuestros ojos, en templos para la misteriosa iniciación artística. [34]

Inzwischen war der Absinth jedoch längst nur noch der am ehesten greifbare Restbestand einer Vorstellung der Boheme, die kaum noch Erinnerung an die ursprünglichen ästhetischen Zielsetzungen enthielt. Im berühmten Gedicht "El brindis bohemio" [Der Trinkspruch des Bohemiens] (1928) des ansonsten vergessenen mexikanischen Dichters Guillermo Aguirre y Fierro, in dem sechs "lustige Bohemiens" gemeinsam die Sylvesternacht verbringen und einer von ihnen den obligatorischen Trinkspruch für eine lange Lobrede auf die Mutter nutzt – was natürlich die anderen beinahe zu Tränen rührt –, wird der Likör in einer Reihe mit Rum und Whisky genannt. Die herausragende Stellung am Ende des Verses verdankt sich offensichtlich den lautlichen Eigenschaften. Absinth ist am Ende eben doch vor allem Alkohol:

Pero en todos los labios había risas,
inspiración en todos los cerebros,
y, repartidas en la mesa, copas
pletóricas de ron, whisky o ajenjo. [35]

<23>

Die wechselhafte Geschichte der literarisch-künstlerischen Absinth-Aneignung in Frankreich und im spanischsprachigen Raum stellt zweifellos einen ganz besonderen Fall von Drogenrezeption und -transkulturation dar. Nie zuvor und bislang nie wieder danach war der Konsum einer Droge so eng an eine ganz bestimmte kulturelle Konstellation und ihr Selbstverständnis gebunden, nie zuvor und nie wieder ist eine einzelne Droge mindestens genauso intensiv in ihren medialen Repräsentationen konsumiert worden wie im lebensweltlichen Alltag. [36] Für seine internationale Verbreitung war eben diese Stilisierung des Absinths zum Inbegriff eines Lebensstils und, untrennbar damit verbunden, einer literarisch-künstlerischen Entwicklung ausschlaggebend – und um deren Transkulturation ging es. Damit wird die Geschichte der materiellen wie imaginären Absinth-Verbreitung zu einem Paradebeispiel für die besonderen Bedingungen und Möglichkeiten der Entwicklung von Konsumgewohnheiten in der Moderne: Modernisierung, Internationalisierung und Medialisierung sind die entscheidenden, ineinandergreifenden Faktoren in einem Prozess, dessen Dynamik sich nicht allein, aber doch in hohem Maße der komplexen Interaktion zwischen den unterschiedlichen nationalen bzw. regionalen Kontexten verdankt. Dabei spielt die Spannung zwischen (vermeintlichem) Zentrum und Peripherie zunächst eine wichtige Rolle, die jedoch zunehmend von der Eigendynamik kultureller und künstlerischer Entwicklungen abgelöst wird. Im Fall des Absinths folgen so auf die provokante Stilisierung des Konsums zur düsteren Muse einer neuen ästhetischen Orientierung die Historisierung dieses Topos und die Kritik an seiner 'Uneigentlichkeit', seiner rein rhetorischen Funktion. Schließlich kommt es zur Rückführung auf die materiellen Aspekte des Produkts, das damit zum beinahe normalen Alkohol wird.

<24>

Aber noch ein weiteres Moment macht die Absinth-Verbreitung zu einem ziemlich einzigartigen Fall: die Tatsache, dass hier eine einzige Droge und ihr exzessiver Konsum im Schnittpunkt ganz unterschiedlicher Diskurse und Wertsphärenbereiche stehen, im Spannungsfeld von Diskursen und medialen Praktiken, die eben nicht nur miteinander in Konkurrenz um die Bedeutung und Bewertung des Produkts und seiner Verwendung treten, sondern gerade durch ihr Zusammenwirken dieses Produkt in ein Symbol – und schließlich in einen Mythos – verwandeln. Ohne das Zusammenspiel von Werbung, bürgerlichem Anti-Absinth-Diskurs, ästhetischem Modernisierungsprojekt und dem entsprechenden literarischen Drogeninteresse wäre der an sich unspektakuläre Kräuterlikör höchstwahrscheinlich nie zur Künstlerdroge der Pariser Boheme aufgestiegen. Die damit einhergehende mediale Stilisierung des Absinths zur Inspirationsquelle einer antibürgerlichen und darin modernen Literatur und Kunst – die das Konsumprodukt gleichsam 'umetikettiert' – ermöglicht die Internationalisierung der symbolischen Bedeutung im Kontext der Transkulturation ästhetischer Modernisierungsprojekte. Während das Produkt dann für Jahrzehnte aus den Regalen verschwand, konnte die grüne Fee so auf beiden Seiten des Atlantiks als düstere Muse weiterleben.

Autorin:

Prof. Dr. Katharina Niemeyer
Romanisches Seminar
Universität zu Köln
D-50923 Köln
katharina.niemeyer@uni-koeln.de



[1] Eine solche Szene wird beschrieben in der 1888 veröffentlichten Erzählung "El pájaro azul" in: Rubén Darío: Azul…, Madrid 1979, 76-80. Eigene Übersetzung: "Eh, Kellner, mehr Absinth!".

[2] Noch berühmter und damals ob seiner künstlerischen Neuerungen skandalträchtiger ist das Gemälde Le Buveur d’absinth (1859, Endfassung 1872) von Éduard Manet, das jedoch im Vergleich zu anderen Bildern das Augenmerk gerade nicht auf die Trinksitten lenkt.

[3] Die traditionelle Absinthrezeptur bestand aus einer Mischung alkoholischer Auszüge vor allem aus Anis, Fenchel, Zitronenmelisse und Wermut (Artemisia absinthum) sowie hochprozentigem Alkohol, typischerweise um die 70%. Die tiefgrüne Farbe erklärt sich durch den hohen Chlorophyllgehalt. Zur Kulturgeschichte des Absinths: Doris Lanier: Absinthe. The Cocaine of the Nineteenth Century. A History of the Hallucinogenic Drug and Its Effects on Artists and Writers in Europe and the United States, Jefferson 1995; Jad Adams: Hideous Absinthe. A History of the Devil in a Bottle, Madison 2004. Die zahlreichen Publikationen von Marie-Claude Delahaye, Gründerin des Musée de l’absinthe in Auvers-sur-Oise, richten sich hingegen an ein sehr allgemeines Publikum. Eine kritische Übersicht zur bislang wenig systematischen Absinth-Forschung bietet die Rezension von Scott Haine in: H-France Review 8 (2008), 162-167.

[4] Für das Jahr 1910 betrug die französische Produktion 36 Millionen Liter, was einer Abdeckung des Likörkonsums von 90% entsprach: Barnaby Conrad: Absinthe: History in a Bottle, San Francisco 1988, 6. Zu diesem Zeitpunkt besaß Frankreich circa 38 Millionen Einwohner. 1913 erreichte der jährliche Durchschnittsverbrauch an reinem Alkohol in Frankreich den Spitzenwert von 60 Litern: Stephan A. Padosch / Dirk W. Lachenmeier / Lars U. Kröner: Absinthism: a fictitious 19th century syndrome with present impact, in: Substance Abuse Treatment, Prevention, and Policy 1,14 (2006), http://www.substanceabusepolicy.com/content/1/1/14 . <8.11.2009>

[5] Adams, Hideous Absinthe (wie Anm. 3), 51.

[6] In den 1860er Jahren kostete ein Glas durchschnittlicher Absinth 15 Centimes, der Durchschnittstagesverdienst eines Arbeiters betrug 3 Francs: Adams, Hideous Absinthe (wie Anm. 3), 48.

[7] Michael R. Marrus: Social Drinking in the Belle Epoque, in: Journal of Social History 7 (1974), 115-141.

[8] The Virtual Absinthe Museum, Absinthe Postcards I, http://www.oxygenee.com/absinthe/postcards1.html , <20.10.2009.> Eigene Übersetzung: "Aber ja, meine Liebe, es gehört heute zum guten Ton, einen 'Oxygénée Cusenier' zu trinken, das hat mir mein Arzt gesagt".

[9] Dieser "louche" genannte Effekt, der auf den hohen Anteil ätherischer Öle zurückzuführen ist, wurde gerne als Anzeichen der 'magischen' Fähigkeiten des Absinths verstanden. In seinem Gedicht "Absinthia taetra" (1897) beschreibt der englische Dichter und Absintheur Ernest Dowson eben diese 'Wandlung': "Green changed to white, emerald to an opal: nothing was changed. / The man let the water trickle gently into his glass, and as the green clouded, a mist fell from his mind. / Then he drank opaline.", in: ders.: Collected Poems, Birmingham 2003, 211.

[10] Die psychoaktive Wirkung wurde dem Thujon, einem bizyklischen Monoterpen aus der Reihe der Thujanderivate zugeschrieben, das unter anderem in Wermut und Beifuß vorkommt und in seiner molekularen Struktur dem Tetrahydrocannabinol (THC), dem Hauptwirkstoff der Cannabispflanze, ähnelt. Für Ratten konnte die Neurotoxizität des Thujons experimentell belegt werden: Jakob Hein / Lars Lobbedey / Klaus-Jürgen Neumärker: Absinth – Neue Mode, alte Probleme, in: Deutsches Ärzteblatt 98, 42 (2001), A-2716 / B-2311 / C-2175. Eine kürzlich am Chemischen und Veterinäruntersuchungsamt in Karlsruhe durchgeführte Untersuchung von historischen Proben, die aus 13 original verschlossenen Flaschen der Jahre vor 1915 entnommen wurden, hat jedoch ergeben, dass Absinth damals im Durchschnitt nur 24,5 Milligramm Thujon pro Liter enthielt – laut EU-Richtlinie darf Absinth heute bis zu 35 Milligramm je Liter enthalten –, die Wirkung des Absinths beruht demnach allein auf der hohen Alkoholkonzentration: Dirk Lachenmeier et al.: Chemical Composition of Vintage Preban Absinthe with Special Reference to Thujone, Fenchone, Pinocamphone, Methanol, Copper, and Antimony Concentrations, in: Journal of Agricultural and Food Chemistry 56 (9), 2008, 3073-3081.

[11] Lanier, Absinthe (wie Anm. 3), 30-35.

[12] Susanna Barrows: After the Commune: Alcoholism, Temperance, and Literature in the Early Third Republic, in: John M. Merriman (Hg.): Consciousness and Class Experience in Nineteenth-Century Europe, New York 1979, 205-218.

[13] Eine ausführliche Untersuchung des Drogenthemas in der modernen europäischen und nordamerikanischen Literatur bietet Alexander Kupfer: Die künstlichen Paradiese. Rausch und Realität seit der Romantik; ein Handbuch, Stuttgart / Weimar 1996. Absinth wird hier allerdings nicht berücksichtigt.

[14] Die von Baudelaire geprägte positive Verwendung des Begriffs zur Kennzeichnung einer 'modernen' Literatur und Kunst dient in Frankreich bis in die 1880er Jahre hinein der Selbstverortung von Schriftstellern und Künstlern, wird dann aber vom neutraleren Begriff des Symbolismus abgelöst. Zur internationalen Geschichte des Begriffs der Décadence ist immer noch lesenswert: Matei Calinescu: Five Faces of Modernity: Modernism, Avant-garde, Decadence, Kitsch, Postmodernism, Durham 1987, 151-221. Eine für ein deutschsprachiges Publikum bestimmte breite Aufbereitung auch der frankoromanistischen Forschung zum Thema bieten die ersten Kapitel in Dieter Kafitz: Décadence in Deutschland. Studien zu einem versunkenen Diskurs der 90er Jahre des 19. Jahrhunderts, Heidelberg 2004.

[15] Ob Baudelaire selbst, wie gerne kolportiert wird, übermäßig Absinth getrunken und Opium genommen hat, vor allem um seine durch die Syphilis bedingten Schmerzen zu bekämpfen, ist nicht endgültig gesichert.

[16] Arthur Rimbaud: Le bateau ivre, in ders.: Œuvres complètes, Paris 1951 (= Bibliothèque de la Pléiade 68), 101. In der Übersetzung von Paul Celan: "So süß kann Kindermündern kein grüner Apfel schmecken, / wie mir das Wasser schmeckte, das grün durchs Holz mir drang. / Rein wuschs mich vom Gespeie und von den Blauweinflecken, / fort schleudert es das Steuer, der Draggen barst und sank. // Des Meeres Gedicht! Jetzt konnt ich mich frei darin ergehen, / Grünhimmel trank ich, Sterne, tauch ein in milchigen Strahl / und konnt die Wasserleichen zur Tiefe gehen sehen: / ein Treibgut, das versonnen und selig war und fahl.", Arthur Rimbaud: Das trunkene Schiff. Übertragen von Paul Celan, Frankfurt am Main 1958, ohne Seitenangabe.

[17] Raoul Ponchon: Sonnet de l’ Absinth, in: Le Courier Francais 1886, auch in: The Virtual Absinthe Museum, Absinthe Books V, http://www.oxygenee.com/absinthe/books5.html , <20.10.2009.> Eigene Übersetzung: "Du,[gemeint ist der Absinth] lässt mich das Leben ertragen / indem Du mich an den Tod gewöhnst".

[18] Dazu gehört nicht zuletzt die Verbreitung Pariser Ansichten und 'Einsichten' in das Pariser Leben durch die Fotografie wie etwa die Fotoserie von Paul Marsan Dornac (= Paul Cardon): Nos Contemporains Chez Eux, Paris 1887-1917, zu der auch das oben gezeigte, berühmte Foto von Verlaine vor dem Absinth gehört.

[19] Eine Untersuchung des lateinamerikanischen Europa- bzw. Paris-Bildes bietet Katharina Niemeyer: "Oh ja, ich werde wiederkommen!" Lateinamerikanische Europabilder um 1900, in: Friedrich Jaeger / Helmut König (Hg.): Europabilder. Innen- und Außenansichten, Bielefeld (im Druck).

[20] Marie Corelli: Wormwood, London 1890, 22-23.

[21] So die "Introductory Note" von Corelli, Wormwood (wie Anm. 20), V-VI.

[22] Die Madrider Boheme hat erst in den letzten drei Jahrzehnten eine gewisse Aufmerksamkeit in der Forschung erfahren, stellvertretend seien genannt: Allen W. Phillips: Algo más sobre la bohemia madrileña: testigos y testimonios, in: Anales de Literatura Española 4, 1985, 327-362; ders.: Treinta años de poesía y bohemia (1890-1920), in: Anales de Literatura Española 5, 1986-1987, 377-423; Pedro M. Piñero / Rogelio Reyes (Hg.): Bohemia y literatura. De Bécquer al Modernismo, Sevilla 1993.

[23] Manuel Reina: Última noche de Edgardo Poe, in ders.: La vida inquieta, Madrid 1894, 152. Eigene Übersetzung: "Plötzlich erscheint, fantastisch, / aus dem Glas mit Absinth / eine Jungfrau in grüner Tunika / und düsterem Antlitz.// Ihre Pupillen sind erloschen / wie ein toter Stern / und auf ihren bleichen Lippen erscheint das Lächeln / wie eine Klage.// Die Jungfrau ist der schreckliche Wahnsinn/ der den Bohemien umarmt/ und sich mit ihm in den Abgrund stürzt/, schreckenerregend und schwarz".

[24] Francisco Villaespesa: La musa verde, in ders.: Poesías completas, Madrid 1954, 407. Eigene Übersetzung: "Es ist deine düstere Stunde, oh Baudelaire! Wir rauchen/ Opium, man trinkt Absinth, und trunken träumen wir/ von deinen verlorenen künstlichen Paradiesen…".

[25] Zum grundsätzlichen Verhältnis Modernismo – Moderne: Klaus Meyer-Minnemann: Lo moderno del Modernismo, in: Ibero-amerikanisches Archiv N. F. 13/1, 1987, 77-91. Die poetologischen Auseinandersetzungen um den Modernismo in Spanien untersucht Katharina Niemeyer: La poesía del Premodernismo español, Madrid 1992, 25-60, 316-386.

[26] Rubén Darío: Prólogo, in: Alejandro Sawa: Iluminaciones en la sombra, Madrid 1910, 10. Eigene Übersetzung: "Warum liebte dieser sonnenverwöhnte Typ, Sohn eines griechischen Vaters und einer Sevillaner Mutter, der seine frühen Jahre im liebevollen lichtdurchfluteten Málaga verbracht hatte, nur so sehr Paris, wo die Sonne sich flüchtig zeigt und eine absinthfarbene Wolke den Herbst opalisiert? Sein Fall ist keineswegs einzigartig, und den Grund könnte der Hellene Papadiamantopoulos erläutern. Tatsache ist, dass er sich immerfort seine Paris-Erfahrung vergegenwärtigte. Er sprach keine zwei Worte ohne ein französisches Zitat oder eine französische Reminiszenz. Zufrieden erzählte er aus seinen literarischen Erinnerungen, von seiner engen Vertrautheit mit Schriftstellern und Dichtern. Verlaine auf Schritt und Tritt und vor allem anderen."

[27] Bezeichnenderweise erwähnt Darío in seinen Lebenserinnerungen Absinth erst im Zusammenhang mit seinen Begegnungen in Buenos Aires: Rubén Darío: La vida de Rubén Darío, escrita por el mismo, Barcelona 1915, Capítulo XLI.

[28] Adela E. Pineda Franco: Positivismo y Decadentismo. El doble discurso de Manuel Gutiérrez Nájera y su Revista Azul 1896-1896, in: Claudia Agostoni / Elisa Speckman (Hg.): Modernidad, tradición y alteridad. La ciudad de México en el cambio de siglo (XIX-XX), México 2001, 195-219.

[29] So spricht Carlos Díaz Dufoo in der Revista Azul (15.9.1895, 320) mit einer Mischung aus Mitleid und Bewunderung für den Gebrauch der stimulierenden Drogen in der Tradition Baudelaires von Tabladas Äther-, Morphium und Haschichsucht.

[30] Besonders bekannt wurde etwa der Fall des mexikanischen Schriftstellers Bernardo Couto Castillo (1879-1901), Mitbegründer der Revista Moderna, der mit 21 Jahren an exzessivem Drogen- und Alkoholkonsum starb. In dem autobiographisch geprägten Roman von Rubén M. Campos: El bar. La vida literaria de México en 1900, México D.F. 1996, wird ihm und anderen Bohemiens ein melancholisch getöntes Denkmal gesetzt.

[31] Manuel Gutiérrez Nájera: El hada verde. Canción del bohemio, in: ders.: Poesías, México D.F. 1897, 103. Eigene Übersetzung: "In deinen Abgründen, schwarz und rot, / unerbittliches Fieber, verliert sich meine Seele / und in deinen Abgründen sehe ich die Augen / die grünen Augen der grünen Fee! // Das ist unsere grünäugige, düstere Muse, […] // In den Pupillen Begierde; / Spiel am Tisch, wo man / mit dem Geld Leben und Bewusstsein verliert, / in unseren Gläsern bist du der Wahnsinn / oh, grüne Muse! // Es sind grüne Augen, die wir suchen, / grün das Tapet, auf dem ich spielte, / grüner Absinth, den wir trinken, / und grün die Weide, / die wir auf dein Grab pflanzen, armer Musset."

[32] Enrique Gómez Carrillo: La muerte de Paul Verlaine (18.1.1896), in: ders.: La vida parisiense, Caracas 1993, 128-133.

[33] So in den Texten "Música nochera" und "Una palabra a los lunáticos" in: Ricardo Güiraldes: El cencerro de cristal, Buenso Aires 1915, 67-70, 137-141.

[34] José Juan Tablada: La feria de la vida. (Memorias), México 1937, 181. Eigene Übersetzung: "Der Einfluss von dem, was es beim Dichter Baudelaire an Krankhaftem gibt, war für uns die wahre Franzosenkrankheit… Unfähig, die gekünstelten Anteile der entgleisten Moral des großen Dichters zu erkennen, waren wir ehrlicher als er und versuchten, mit zerstörerischer Wirkung, nicht nur unser literarisches, sondern auch das eigene Leben seinen zersetzenden Maximen zu unterstellen. Die schlichte Tatsache, dass Baudelaire Alkohol, Drogen und Rauschgifte künstliche Paradiese genannt hatte, erleuchtete die vulgären Kneipen mit dem Glanz einer Apotheose Luzifers und verwandelte sie in unseren Augen in Tempel der künstlerischen Initiation".

[35] Guillermo Aguirre y Fierro: El brindis del bohemio, in: ders.: Sonrisas y lágrimas, Aguascalientes 1942, ohne Seitenangabe. Eigene Übersetzung: "Aber auf allen Lippen lag ein Lachen,/ in allen Köpfen war Inspiration,/ und verteilt auf dem Tisch standen Gläser,/ voll mit Rum, Whisky oder Absinth." Mexikanische Grundschüler lernen das Gedicht immer noch für den Muttertag auswendig.

[36] Das ist vermutlich, bei genauerem Hinsehen, auch ein Unterschied zwischen der Rolle des Absinth im Fin de siècle und dem nicht auf ein einziges Rauschmittel festgelegten Drogenkonsum der Beat- und Woodstock-Generationen, deren literarische bzw. musikalische Aneignung von Drogen in Menge und ästhetischem Anspruch auch hinter der des Absinth zurückbleibt.

Empfohlene Zitierweise:

Katharina Niemeyer : "Fée verte" – "hada verde" – düstere Muse. Absinth in der Boheme des Fin de siècle , in: zeitenblicke 9, Nr. 3, [23.12.2009], URL: https://www.zeitenblicke.de/2009/3/niemeyer/index_html, URN: urn:nbn:de:0009-9-21604

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