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Studium der Geschichte, südosteuropäischen Geschichte und südslawischen Sprachen und Literaturen in Wien und Barcelona. 2002/03 Junior Visiting Fellow am Institut für die Wissenschaften vom Menschen (Wien), 2006 Visiting Scholar am Graduiertenkolleg "Gender: Scripts and Prescripts" der Universitäten Bern und Fribourg. 2005 Promotion über "Frauenbewegung um 1900. Über Triest nach Zagreb" (ersch. 2007) und Auszeichnung mit dem Johanna-Dohnal-Preis. Gegenwärtig Lehrbeauftragte und Projektassistentin am Institut für Zeitgeschichte in Wien. Forschungsschwerpunkte: Feministische Geschichtswissenschaft, Historiographie von Frauenbewegungen und Geschichte Südosteuropas im 19. und 20. Jahrhundert, Hochschuldidaktik, aktuelles Projekt: "Partizanka. Historiographische und audiovisuelle Repräsentationen von Partisaninnen im sozialistischen Jugoslawien".

 

 

<1>

Wir trafen uns mit Natascha Vittorelli im Café Zartl, einem bekannten Wiener Kaffeehaus – in jeder Hinsicht ein passender Ort für dieses Gespräch über (historiographisches) Schreiben, zeichnet ihn doch neben einer respektablen Tradition als Literaturcafé auch der Kalanag-Salon aus, in dem sich die Wiener Mitglieder der International Brotherhood of Magicians treffen. Stellt die Zauberkunst unsere gewohnte Sicht der alltäglichen Gegenwart auf die Probe, so erschüttert Vittorelli Sicherheiten in unserer Wahrnehmung der Vergangenheit. Ihr Buch zur Frauenbewegung um 1900 führt vor, wie eine konsequent kritische Haltung zu bereits existierenden Narrativen und Begriffen eine Form von Geschichtsschreibung generieren kann, die im Stande ist, Eindeutigkeit zu verweigern und dennoch historische Erkenntnis zu vermitteln. [1] Das Hinterfragen von Begrifflichkeiten erscheint nicht nur in dieser, sondern auch in anderen ihrer Arbeiten, so beispielsweise in dem Aufsatz An 'Other' of One's Own, als ein zentrales Mittel zu diesem Zweck. [2] Wie Vittorelli im Gespräch bemerkte, kann aus einer solchen Arbeitshaltung eine Kompetenz skeptischen Denkens erwachsen, die geschichtswissenschaftliche Forschung zum großen Faszinosum für die Gegenwart macht, nicht minder als das Wirkungsfeld des Zauberkünstlers. Zugleich ist gerade Vittorellis Arbeitsweise meilenweit von jeglicher Taschenspielerkunst entfernt: Anders als magische Schaustücke sind ihre Texte von illusionären Elementen völlig frei. Vielmehr verleiht ihnen ein besonders hohes Maß an Genauigkeit und Offenheit bezüglich des eigenen Standpunkts einen ganz eigenen Ton, der auch unser Gespräch mit ihr prägte. Dies gilt ebenso für ihre Affinität zur Frage. Nicht zuletzt Natascha Vittorellis Gegenfragen verliehen dem Gedankenaustausch, für den ihr an dieser Stelle noch einmal sehr herzlich gedankt sei, besondere Dichte und Intensität.

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Birte Kohtz
Ich würde das Gespräch gerne mit einem Zitat von Joan W. Scott beginnen, das Sie selbst schon mehrfach für Einleitungen genutzt haben, sowohl für die Ihres Buches zur Frauenbewegung um 1900, als auch für jene zum Sammelband "Wie Frauenbewegung geschrieben wird": "Feminism has been a complex critical practice. Its history should be no less so." [3] Sie verweisen in dieser Einleitung auch auf das hohe Maß an Selbstreflexivität, das die Historiographie zur Frauenbewegung auszeichnet. Könnte man sagen, dass die Möglichkeit, selbstreflexiv zu schreiben, auch vom Objekt abhängt? Dass bestimmte Themen oder historische Phänomene mehr Selbstreflexion gestatten als andere – oder weniger?

<3>

Natascha Vittorelli
Ich würde eher sagen – wie etwa im Fall feministischer Geschichtsforschung –, dass eine längere Tradition der Selbstreflexion besteht. Aber ich meine nicht, dass bestimmte Themen, Objekte oder Gegenstände das Selbstreflexive eher vorgeben oder gestatten, wie Sie es genannt haben, als andere. Vielmehr halte ich es für eine Form der Herangehensweise von Forschenden.

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Marnie Sturm
Der Auftakt Ihrer eben schon erwähnten Dissertation "Frauenbewegung um 1900" lautet: "Schreiben und Erzählen heißt vor allem auch: (vorläufig) festlegen. Mit der vorliegenden Studie […] reagiere ich auf Festlegungen anderenorts: Derart entstehen Gegengeschichten zu bereits vorhandenen Erzählungen".[4] Wie lässt sich dieses 'Gegen-' einer Gegengeschichte in einem neuen Text umsetzen?

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Natascha Vittorelli
Eine wesentliche Voraussetzung ist, über bereits bestehende Narrationen Bescheid zu wissen, weil ihre Kenntnis und die Auseinandersetzung mit ihnen eine Grundlage darstellen, um etwas gegen- oder umzuschreiben oder neu zu schreiben. Und dieses Wissen, diese Narrationen auch nach ihrem Inhalt zu befragen, danach, wo sie hinführen, was die "Message" ist – oder der Subtext. Darauf kann man dann mit Gegennarrationen reagieren.

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Marnie Sturm
Das 'Gegen-' besteht dann eher in einem Inhaltlichen, in der "Message"?

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Natascha Vittorelli
Ja, aber das 'Gegen' ist natürlich auch eine Form des 'Wie-Denkens'. Der Inhalt lässt sich nicht von der Herangehensweise trennen.

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Birte Kohtz
Wie sehr beeinflusst die gewählte Herangehensweise die Leserin oder den Leser? Um die Frage vielleicht etwas deutlicher zu machen: Ein Kapitel Ihrer Dissertation ist Zofka Kveder gewidmet. Es handelt sich aber nicht um eine biographische Annäherung an eine Frauenrechtlerin, sondern vielmehr um eine Untersuchung des "site of discourse" "Zofka Kveder". Sie zeigen die verschiedenen Diskursstränge auf, Sie lassen sie sich verdichten, aber Sie legen nicht fest: So und so ist es. Planen Sie Ihre Leserinnen und Leser beim Schreiben auf bestimmte Weise ein? Und falls ja, welche Rolle weisen Sie ihnen zu?

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Natascha Vittorelli
In bestimmten Abschnitten oder Momenten des Schreibens gibt es verschiedene konkrete oder imaginäre LeserInnenschaften: Einzelne Personen, an die ich konkret denke, und dann aber auch ganz unterschiedliche Gruppen. So gibt es zum Beispiel ein Kollektiv von Frauenbewegungshistorikerinnen, die meinen Text auf Deutsch lesen können; dann gibt es einen vielleicht nicht zahlenmäßig großen, aber für mich bedeutenden Anteil an Wissenschaftlerinnen, denen ich während meiner Forschungen begegnet bin, die ich im Hinterkopf habe, die aber nicht Deutsch lesen. Wenn ich an meine Recherchen in Slowenien, Kroatien und Serbien denke, ist Deutsch nicht gerade die wichtigste Fremdsprache. Ich hatte also teilweise ein imaginäres Lesepublikum vor Augen, von dem ich aber zugleich wusste, es wird das Buch nicht lesen können. Das ist eine etwas paradoxe Situation, aber auch diese Gruppe ist präsent. Dann natürlich einzelne, ganz konkrete Personen. Beispielsweise jene, die ich zitiere, egal ob affirmativ oder abgrenzend. Und dann bin ich in bestimmten Momenten ja auch meine eigene Leserin, wenn ich das Geschriebene kapitel- oder abschnittsweise wieder lese. Insofern gibt es viele konkrete oder abstrakte imaginäre LeserInnen, die ich vor Augen habe, und natürlich beeinflussen sie mein Schreiben.

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Birte Kohtz
Bedeutet diese Art zu schreiben, nämlich indem man sich von bestimmten Standpunkten des Diskurses einer Schnittstelle nähert, den Lesenden auch mehr Freiheit zu geben, oder ist es eher eine größere Herausforderung?

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Natascha Vittorelli
Ich habe mich mit der Zeit von der Vorstellung verabschiedet, dass ich irgendeinen Einfluss darauf habe, wie meine Texte gelesen werden. In dem Moment, in dem man den Text aus der Hand legt, hat man es einfach nicht mehr in der Hand, wie man gelesen, rezipiert, interpretiert und verstanden wird. Ich habe den Eindruck, dass – angesichts der bisherigen Reaktionen – mein Text viele Möglichkeiten der Interpretation offenlässt, aber ich glaube nicht, dass das ein Spezifikum meines Textes ist. Das ist wahrscheinlich bei vielen Texten der Fall. Es kommt immer darauf an, auf was der Text bei der Leserin oder dem Leser stößt. In genau diesem Moment. Mit welchem Anliegen er gelesen wird, wie er gelesen wird, mit welchem Vorwissen – was Frauenbewegung betrifft, was Theorie betrifft, was den Raum betrifft. Da gibt es ja ganz verschiedene Zielsetzungen, unter denen ein bestimmter Text gelesen werden kann und letztlich gelesen wird.

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Marnie Sturm
Einer Ihrer Aufsätze erschien in einem Sammelband zu einer Thematik, über die noch nicht viel publiziert wurde: Hochschulfachdidaktik Geschichte. Anhand der Besprechung eines Beispiels aus der Praxis halten Sie darin ein Plädoyer für die "Irritation als Methode". [5] Dabei fallen Begriffe wie Verunsicherung, Unordnung, Verfremdung, enttäuschte (Vor-)Erwartungen und Destabilisierung. Sie ziehen sich als roter Faden auch immer wieder durch die methodischen Erläuterungen in Ihren anderen Texten. Hat die Irritation als Methode konkrete Auswirkungen auf die Konzeption, die Strukturierung und das Erscheinungsbild von Texten, die Sie produzieren? Setzen Sie bestimmte Mittel bewusst ein, um …

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Natascha Vittorelli
Um zu irritieren? Dazu müsste ich wissen, ob meine Texte tatsächlich irritieren. Gibt es Mittel der Irritation? Von dem ausgehend, was mich bislang als Reaktion auf meine Texte erreicht hat, kann ich nur sagen: Offensichtlich gibt es etwas Irritierendes daran. Und das besteht darin, dass sie Eindeutigkeit verweigern. Das dürfte Irritation auslösen. Auch in dem Text, den Sie erwähnen und der sich auf Lehre bezieht, wird Eindeutigkeit verweigert. Ich kann und möchte eben keine Eindeutigkeit beanspruchen und auch nicht vorgeben. Dies ist auch bei meinen geschriebenen Texten der Fall. Wie sehen Sie das?

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Birte Kohtz
Da würde ich Ihnen zustimmen. Viele Bücher präsentieren ihren Lesern eine Art geschlossene Narration, bei der klar ist, dass hier die Erkenntnis des Autors auf eine bestimmte Art und Weise präsentiert wird und Gültigkeit beansprucht. Das ist bei Ihnen tatsächlich nicht der Fall. Wenn man Ihre Arbeit mit dieser Erwartung aufschlüge, dann müsste das zu Frustration führen.

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Natascha Vittorelli
Mir selbst erscheint mein Buch durchaus als in sich geschlossen. Aber es erzählt nicht "die Geschichte der Frauenbewegung" in einem bestimmten Raum.

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Birte Kohtz
Schon weil Sie ja den Raum, um den es gehen soll –

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Natascha Vittorelli
– verweigern, auch verweigern, ja.

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Marnie Sturm
Staffan Müller-Wille stellte in einem Interview fest, er glaube nicht, dass man die großen Erzählungen jemals hinter sich lassen könne, da sie einen hohen organisierenden Wert hätten. [6] Würden Sie dieser Aussage zustimmen?

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Natascha Vittorelli
Ich selbst würde mich nicht trauen, eine große Erzählung zu schreiben, und mir ist auch klar, dass ich eher kleine Erzählungen verfasse. Das ist das Terrain, auf dem ich mich sicher fühle, das, worüber ich eine Aussage treffen kann. Große Erzählungen gibt es auch im kleinen Rahmen: Frauenbewegungsgeschichtsschreibungen haben ja ebenfalls ihre großen Erzählungen. Ich denke bei großen Erzählungen immer an große nationalgeschichtliche Erzählungen. Die werden Bestand haben, das ist fast anzunehmen. Ob sie notwendig sind? Sie vermitteln Sicherheit, und es gibt ein ausgeprägtes Bedürfnis nach Sicherheit. Wenn ich an die universitäre Lehre denke oder auch an diesen Text über Irritation als Methode: Es ist verunsichernd, keine eindeutige Erzählung geliefert zu bekommen – was in meiner Übersetzung vielleicht eine große Erzählung wäre. Es wird wohl immer – das 'immer' bitte streichen, für eine Historikerin ist ja nichts 'immer' – das Bedürfnis nach großen eindeutigen Erzählungen ist sicherlich vorhanden, ja. Dabei würde ich keinen großen Unterschied zwischen LeserInnenschaft, Studierenden und HistorikerInnen machen. Auch unter Studierenden gibt es die Bereitschaft, sich verunsichern zu lassen.

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Birte Kohtz
Für das bereits erwähnte Kapitel zu Zofka Kveder haben Sie unter einer Reihe zeitgenössisch kursierender Namens-Varianten eine bestimmte ausgewählt, eben "Zofka Kveder". Bemerkenswerterweise führen Sie als einen Grund dafür, gerade diese Variante gewählt zu haben, die Tatsache an, dass es der Name ist, unter dem sie Ihnen im Zuge Ihres Studiums begegnet ist. Glauben Sie an Zufälle und Pfadabhängigkeiten im Studium oder auch im Leben, die einen dazu bringen, bestimmte Themen zu bearbeiten, aber auch beeinflussen, wie man sie dann bearbeitet?

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Natascha Vittorelli
Als ich mit der Dissertation begonnen habe, war mir nicht klar, dass Zofka Kveder, die mir bereits ein Begriff war, darin eine derart prominente Rolle spielen würde. Und ich könnte mich jetzt natürlich fragen, ob sie das überhaupt getan hätte, wenn sie mir nicht schon vorher bekannt gewesen wäre? Vielleicht ist die intensive Beschäftigung mit Zofka Kveder auch einem spezifischen Interesse von mir entgegengekommen, das mit einer Seminararbeit allein noch nicht erledigt war.

<22>

Birte Kohtz
Es gibt also Themen, die Sie begleiten, die einer bestimmten Aufmerksamkeit bedürfen. Aber ist das ein Prozess, der irgendwann abgeschlossen sein wird?

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Natascha Vittorelli
In meinem Fall trifft das so zu. Ich habe mehrfach die Erfahrung gemacht, dass ein Thema für mich abgeschlossen ist. Bestenfalls wirkt es auf irgendeine Weise nach. Dieses Interview zum Beispiel führen wir zu einem Zeitpunkt, zu dem für mich die Beschäftigung mit meiner Dissertation schon länger zurückliegt. Insofern wirkt das Thema nach, tatsächlich habe ich, was beispielsweise Zofka Kveder betrifft, genug erfahren. Womit ich nicht sagen möchte, es gäbe nicht noch mehr zu erfahren, aber ich habe genug.

<24>

Birte Kohtz
Diese Begründung für die von Ihnen gewählte Namensvariante stellt ja eine Einlassung aus Ihrem biographischen Kontext dar. Sie hätten es auch bei Ihren anderen Argumenten bewenden lassen können und das nicht offenlegen müssen. Halten Sie es für wichtig, die eigene Erfahrung, gewissermaßen den eigenen biographischen Standpunkt in den Text einzubringen?

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Natascha Vittorelli
Es ist eine Möglichkeit, die mich selbst interessiert. Ich finde es auch bemerkenswert, dass sich Ihnen gerade diese Argumentation so gut eingeprägt hat. Ich lese so etwas selbst gerne und deshalb erwähne ich es auch. Es regt natürlich einerseits die Phantasie an oder kann zumindest anregend sein, andererseits hätte mir eine gewisse Transparenz gefehlt, wenn ich es unerwähnt gelassen hätte.

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Birte Kohtz
In dem von Ihnen mit herausgegebenen Sammelband "Wie Frauenbewegung geschrieben wird" präsentieren Sie Stellungnahmen verschiedener Frauenbewegungshistorikerinnen zu ihrer eigenen Arbeit, wobei es einerseits um deren biographische Verbindung zur Frauenbewegungsgeschichte geht, aber auch um den Blick auf die Perspektiven ihres Schreibens an der Geschichte von Frauenbewegungen. [7] Es handelt sich dabei um sehr explizite Offenlegungen des eigenen Standpunkts: Sie laufen unter dem Titel "Stellungnahmen", also gewissermaßen als Vertreter eines eigenen Genres. Messen Sie einem solchen Einnehmen eines bestimmten Standpunkts und dessen Offenlegung besondere Bedeutung bei?

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Natascha Vittorelli
Es ist zumindest ein Interesse, das sich da niedergeschlagen hat. Tatsächlich ist es so, dass einige der Autorinnen, wenn nicht die Mehrzahl, schon geraume Zeit mit dem Thema verbunden sind. Insofern war dieses Biographische oder die eigene Verbundenheit mit dem Thema besonders bedeutsam.

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Birte Kohtz
Hat es besondere Auswirkungen auf das Schreiben, wenn man diesen eigenen Standpunkt so bewusst reflektiert? Wir hatten beim Lesen Ihrer Dissertation den Eindruck, dass Sie einerseits Ihren Standpunkt als Autorin offenlegen und reflektieren, aber sich andererseits auch zurücknehmen, indem Sie dem Leser wenig Vorgaben machen. Könnte man sagen, dass sich diese Offenheit, die Reflexion des eigenen Standpunktes und die gleichzeitige Zurückhaltung gegenseitig bedingen? Oder ist das unabhängig voneinander?

<29>

Natascha Vittorelli
Über den Zusammenhang habe ich noch nicht nachgedacht. Wenn Sie jetzt von Zurückhaltung sprechen, so kann ich diese nicht wahrnehmen, weil es sich ja um meinen Text handelt, in dem ich mich als sehr präsent erlebe. Ich würde allerdings insofern einen Zusammenhang sehen, als die Selbstreflexion im besten Fall zu der Einsicht führt: Es kann nicht die eine eindeutige Geschichte geben. Und das würde tatsächlich zu dem führen, was Sie Zurückhaltung genannt haben.

<30>

Marnie Sturm
Sie haben von dem persönlichen Interesse gesprochen, das hinter Texten steht, dieses jahrelange 'Sich-beschäftigen-mit', und auch das Leben mit den Gegenständen, über die man schreibt. Gibt es benennbare Inspirationsquellen, die Sie zu einem Thema hinführen und Sie veranlassen, sich damit zu befassen?

<31>

Natascha Vittorelli
Bislang war es immer so, dass mich mehrere Themen parallel interessierten, aber ich mich meistens nur einem widmen konnte. Im Hintergrund gibt es aber schon ein nächstes Interesse oder ein übernächstes. Und das begleitet mich dann oft schon so lange, dass ich gar nicht mehr weiß, was der Ursprung des Ganzen war. Das stelle ich auch bei dem Thema fest, mit dem ich mich gerade beschäftige, bei den Partisaninnen. Ich weiß nicht mehr, was die Initialzündung war, wo und wie das Interesse begonnen hat. Und bei den Frauenbewegungen ist es eigentlich ähnlich. Mich hat die Geschichte der Frauenbewegung interessiert – und es war naheliegend, dieses Interesse mit der Region in Verbindung zu bringen, mit der ich mich mein ganzes Studium über beschäftigt habe. Es geht dann darum, zu schauen, wie sich ein Thema, für das man sich entschieden hat, denken lässt – mitunter auch jahrelang: Was gibt es jahrelang her? Ich weiß nicht, ob das mit den Inspirationsquellen korrespondiert, von denen Sie gesprochen haben. Bei meiner Diplomarbeit kann ich sogar ganz konkret benennen, wann ich das erste Mal in einer Lehrveranstaltung auf das Thema gestoßen bin. Aber bei den anderen Themen könnte ich nicht mehr sagen, was die Initialzündung war. Es gibt eine Idee, es gibt eine Neugier und im Laufe der Auseinandersetzung entsteht ein Thema noch einmal ganz anders. Mein Bild von Frauenbewegungen und mein Denken darüber haben sich in den Jahren, in denen ich mich intensiv damit beschäftigt habe, so verändert, dass vielleicht gerade das das Inspirierende daran ist. Genauso, wie von vielen Seiten etwas her zu holen – nicht nur von Historikerinnen und Historikern: Diese Namens-Variationen kamen zum Beispiel ursprünglich von Barbara Hahn, einer Germanistin, von der ich mich habe anregen lassen. Es können auch literarische Texte sein oder Texte mit literarischer Erzählhaltung. Obwohl man das vielleicht gar nicht mehr laut sagen darf. Wie ich eben beschrieben habe, es gibt immer Themen im Hinterkopf: Mir begegnet etwas, das bleibt offen, und manchmal fange ich an, zu dem Thema zu sammeln und ein bisschen zu kopieren, und dann wird es bestenfalls irgendwann ernster damit.

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Marnie Sturm
Ihre Dissertation macht gerade Ihr konsequent durchgehaltener Ansatz des sich Festlegens als Fragende so spannend. Bedeutet dies in der Konsequenz, dass man grundsätzlich als Geschichtswissenschaftler dem Antworten, dem Festlegen von Kausalzusammenhängen und der Konstruktion eines bestimmten Geschichtsbildes absagen sollte? Welche Vorteile sehen Sie darin, auf das Antworten zu verzichten?

<33>

Natascha Vittorelli
Ich weiß nicht, ob ich es als Vor- oder als Nachteil gedacht habe. Aber prinzipiell habe ich ein größeres Interesse an Fragen als an Antworten, ich finde Fragen viel anregender. Zum Beispiel bringen mich Ihre Fragen auf viel Neues. Ich bin gerade "gezwungen", schnell zu antworten, aber Sie sehen es ja auch daran, dass ich nicht immer schnell und sofort antworten kann: Das Fragen finde ich viel interessanter. Dass mein Buch so viele Fragen aufwerfen und nur wenig Antworten geben würde, wurde auch kritisiert, aber vielleicht ist das wirklich eine Interessensache. Es geht um Frauenbewegung um 1900, man bewegt sich die ganze Zeit um sie herum und denkt darüber nach, aber ich wüsste nicht, worin der Vorteil bestünde, wenn am Ende eine Definition von Frauenbewegung herauskommen würde.

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Marnie Sturm
Also könnte man sagen, dass Sie sich dagegen entscheiden, weil es so eher inspirierend wirken kann?

<35>

Natascha Vittorelli
Bestenfalls. Das kann ich auch nicht wirklich beeinflussen. Es gibt auch Lesarten, unter denen die Arbeit unbefriedigend ist. Das hängt davon ab, ob es darum geht, zu erfahren, was Frauenbewegung um 1900 war, oder ob es eher darum geht, Frauenbewegung zu denken und sich ihr über dieses Denken zu nähern.

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Marnie Sturm
In Ihrem Aufsatz "An other of one's own" zeichnen Sie den Diskurs um den südslawischen, für die Identitätsstiftung nutzbar gemachten Begriff der zadruga ab dem Zeitpunkt nach, als Vuk Karadžić diese Begriffsfindung instrumentalisierte. [8] Sie sprechen davon, dass Ihr Text seinen Ausgang von einer klischeehaften Wahrnehmung nimmt, die man bis in die Gegenwart mit dem Begriff in Verbindung gebracht hat. Ich bezeichne es jetzt einmal als "Begriffs-Stutzigkeit", was mir in Ihren Texten auffällt, nicht im Sinne von "nicht verstehen", sondern in dem Sinne, dass Sie vor Begriffen innehalten, sie sich ganz dezidiert herausgreifen und hinterfragen. Warum sind Begriffe so zentral in Ihrem Schreiben? Man könnte den Eindruck haben, dass sie oft die Triebfedern sind.

<37>

Natascha Vittorelli
Bei der zadruga kann ich mich nicht mehr erinnern, was die Ausgangsfragestellung war. Aber es stimmt, ich lande häufig bei der Befragung des Gegenstandes an sich. Vielleicht weil ich im Glauben beginne, zu wissen, was etwas ist; und bald stellt sich heraus, ich weiß es eben doch nicht. Dann muss ich es thematisieren. In meinem Buch habe ich auch erwähnt, dass von Seiten feministischer Geschichtswissenschaft viel über Frauenbewegung geschrieben, aber nicht gefragt wird: Was ist eigentlich Frauenbewegung? Das habe ich vermisst. Und schließlich ist es auch eine Methode, etwas in den Griff zu bekommen. Meine erste Forschungsreise nach Zagreb empfand ich als Desaster, weil ich überhaupt kein Quellenmaterial zur Geschichte von Frauenbewegungen fand. Dann habe ich genau das zum Thema gemacht. Die Befragung des Gegenstands rückt damit ins Zentrum. Sie ist aber nicht von Anfang an die Intention, sie wird dazu.

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Birte Kohtz
Dass Sie in Zagreb zunächst nichts oder wenig gefunden haben, als Sie nach Material zum Thema Frauenbewegung suchten, impliziert ja, dass die Begrifflichkeiten oder auch Vorstellungen, unter denen eine Suche stattfindet, das Auffindbare begrenzen und letztendlich vorbestimmen. Es kann also sein, dass man unter in der bisherigen Forschung etablierten Vorstellungen sucht und nichts findet, weil der Begriff erst noch zu fassen ist. Kann man diesen Begriffen, diesen Topoi bestehender Forschung aber andererseits entfliehen? Sie hinterfragen in Ihrer Dissertation eine ganze Reihe davon, zum Beispiel "die Frauenrechtlerin", "die Frauenzeitschrift" – und dennoch organisieren diese Begriffe den Aufbau der Arbeit.

<39>

Natascha Vittorelli
Wenn man sich mit der bestehenden Forschung auseinandersetzt, dann kann man diesen Begriffen und Topoi nicht entfliehen. Hinzu kommt sicherlich der sprachliche Aspekt. Man muss eigentlich auch immer schauen, welcher Begriff zu einer bestimmten Zeit in dem betreffenden Raum verwendet wurde. Diese sprachliche Dimension ist sehr wichtig, ebenso die Übersetzungsleistung, die dahinter steht und vom Quellenmaterial abhängig ist, zugleich aber auch von den eigenen Sprachkenntnissen und dem eigenen Wissen. Dass ich das Buch zum Beispiel aus diesem, sagen wir "Wiener", Wissenschaftskontext heraus geschrieben habe, bedeutet ja auch, bestimmte Literatur gelesen oder rezipiert zu haben – auch dadurch entsteht etwas ganz Spezifisches.

<40>

Birte Kohtz
In dem Sinne, dass auch der wissenschaftliche oder soziale Kontext, aus dem heraus man schreibt, die Möglichkeiten dieses Schreibens bestimmt?

<41>

Natascha Vittorelli
Wäre ich in Frankreich aufgewachsen und hätte dort – in Französisch – geschrieben, hätte auch die Arbeit anders ausgesehen, weil ich von anderer Literatur umgeben gewesen wäre, von einer anderen Sprache, anderen Fragen, anderen Personen …

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Birte Kohtz
Könnte man das bis auf die Ebene einer einzelnen Stadt oder Universität herunterbrechen, gewissermaßen also von einer lokalen Wissenschaftskultur sprechen, die die in ihr entstehenden Arbeiten prägt?

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Natascha Vittorelli
Da bin ich mir nicht so sicher: Ich war vor einiger Zeit Visiting Fellow in der Schweiz und fand es erstaunlich, wie schnell in einer zunächst unbekannten Wissenschaftscommunity Kommunikation und Verständigung möglich sind. Früher dachte ich, dass eine feministische Herangehensweise ausschlaggebend sei, aber je länger ich als Historikerin arbeite, desto mehr erkenne ich, wie prägend der historische Denkstil ist und sich von anderen Zugängen – soziologischen, germanistischen oder welchen auch immer – unterscheidet. Mittlerweile habe ich zunehmend das Gefühl, dass vor allem die eigene Fachdisziplin bestimmend ist, weniger der Ort.

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Marnie Sturm
Die nächste Frage zielt auf den Notations- und Schreibprozess selbst: Gibt es bei Ihnen bestimmte Notationsverfahren, auf die Sie immer wieder zurückgreifen, wenn Sie im Schreibprozess begriffen sind? Andere Geschichtswissenschaftler weisen beispielsweise auf die Verwendung von Zettelsammlungen und individuell anpassbaren Datenbanken hin, mit denen sich auch eine Art Rohtext herstellen lässt. Nutzen Sie so etwas?

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Natascha Vittorelli
Überhaupt nicht. Es ist mir bislang noch nicht einmal gelungen, Exzerpte für mich fruchtbar zu machen! Ich habe immer wieder mal damit begonnen, Exzerpte anzulegen, sie dann aber nicht verwendet. Ich kann wenig mit Exzerpten anfangen. Wir haben ja am Anfang kurz darüber gesprochen, wie sehr auch Herangehensweisen das Aussehen einer Arbeit oder ihren Aufbau prägen. Bisher war es bei mir immer so, dass es relativ früh ein Inhaltsverzeichnis und in sich recht abgeschlossene Kapitel gegeben hat. Ich arbeite immer an einem Kapitel, also an Recherche, der notwendigen Lektüre und an der Ausformulierung eines Kapitels. Wenn es fertig ist, kommt das nächste. Ich habe Freundinnen, die arbeiten an einem Riesenmanuskript und an verschiedensten Kapiteln gleichzeitig – ich würde dabei den Faden verlieren. Ein Kapitel wird bei mir also immer in kleinere Einheiten unterteilt und für diese Einheiten stehen jeweils bestimmte Texte zur Verfügung. Ich bin daher immer sehr nah am Text, mit dem ich arbeite.

<46>

Birte Kohtz
Also spiegelt die endgültige Struktur des Manuskripts dann auch die Gedankenschritte oder den Arbeitsprozess insofern wieder, als Sie Abschnitt für Abschnitt vorgehen?

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Natascha Vittorelli
Den Gedankengang weniger, aber den Arbeitsprozess auf jeden Fall. Bis auf die Einleitung und den Schluss natürlich.

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Birte Kohtz
Empfinden Sie diese Tatsache als positiv? Ist es wichtig, dass der Arbeitsprozess in der fertigen Arbeit transparent wird, oder ist das ein Nebeneffekt, der eintreten kann, aber keinen Gewinn darstellt?

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Natascha Vittorelli
Ich lese es gern. Das ist eine Interessenssache. Ich mag es. Aber es gibt auch faszinierende Texte, die das nicht machen. Im Moment beschäftigt mich die Frage, ob jeder Text einen eigenen Sound braucht. Ob man vor Schreibbeginn sozusagen einen Ton, einen Duktus entworfen haben muss, wie der Text klingen oder ausschauen soll. Das ist ein Gedanke, der mich gerade umtreibt.

<50>

Marnie Sturm
Ausschauen auch ganz graphisch gedacht?

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Natascha Vittorelli
Nein, melodiös. Vielleicht eher, wie er klingen soll! Es geht dabei auch um die Schreibhaltung. Das, was Sie vorhin auch angesprochen haben mit der Frage von Präsenz und Zurückhaltung. Aber ich weiß nicht, was Sie mit Transparenz exakt gemeint haben. Dass das Ich, die Autorin präsent ist?

<52>

Birte Kohtz
Wir dachten weniger an Ichpräsenz, sondern eher an Transparenz in dem Sinne, dass der Leserin und dem Leser ermöglicht wird, diese Arbeitsschritte, von denen wir eben gesprochen haben, in der fertigen Arbeit noch nachzuvollziehen. Oder, ob man sie bei der Überarbeitung des Textes weitgehend zu verwischen sucht, so dass dann etwas Runderes, Glatteres entsteht.

<53>

Natascha Vittorelli
Da müsste ich Sie fragen: Was haben Sie bei meinem Text oder bei anderen gelesen? Oft weiß man ja nicht, wie die Texte anderer entstehen, und der Arbeitsprozess schaut meistens anders aus als bei einer selbst. Es ist also schwer zu sagen, was davon präsent oder transparent bleibt und was nicht!

<54>

Birte Kohtz
Wir kamen auf die Frage, weil wir sie auch Philipp Sarasin gestellt haben. Seiner Meinung nach sollten diese Zwischenschritte möglichst nicht zu sehen sein. [9]

<55>

Natascha Vittorelli
Also ich fände das nicht erschreckend und würde es auch nicht verhindern. Aber was ich Ihnen eben erzählt habe, dass ich immer kapitelweise gearbeitet habe, das ist, wie ich glaube, am fertigen Text nicht ablesbar …

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Birte Kohtz
… sondern wird erst verständlich, wenn Sie es erzählen.

<57>

Natascha Vittorelli
Genau. Insofern sind meine Arbeitsschritte ebenfalls nicht transparent, aber es steckt keine Intention dahinter, etwas zu verbergen oder zu glätten. Dazu fällt mir eine Episode aus meinem Schreib- und Forschungsprozess ein: Ich war ja zunächst lange davon ausgegangen, dass Zofka Kveder einem Nerven- oder Herzleiden erlegen sei, so wie es in Nachrufen und in vielen Nachschlagewerken kolportiert wurde und mitunter immer noch wird. Es hat verhältnismäßig lange gedauert, bis ich herausgefunden habe, dass es sich um Selbstmord handelte. Meinen Weg hin zu dieser Entdeckung wollte ich insofern sichtbar beibehalten, als ich nicht von vornherein preisgebe, was ich erst langsam zu ahnen begonnen habe und sich dann tatsächlich bewahrheiten sollte.

<58>

Marnie Sturm
Sie setzen sich in Ihren Arbeiten oft mit fremdsprachigen, in Ihrer Arbeit über die Frauenbewegungen um 1900 ja auch mit vielsprachigen Texten und Diskursen auseinander. Gibt es Ihrer Meinung nach benennbare Konsequenzen, die Übersetzen und Vielsprachigkeit für das Schreiben generell und das Schreiben von Diskursgeschichten im Besonderen haben?

<59>

Natascha Vittorelli
Das Schreiben wird komplex, wenn man das so pauschal sagen kann. Ich frage mich, ob in meinem Fall durch die Vielsprachigkeit eine höhere Sensibilität für Begriffe entstanden ist. Vielleicht komme ich deswegen immer wieder auf die Auseinandersetzung mit Begriffen zurück, weil die Übersetzung eben nicht eins zu eins funktioniert.

<60>

Marnie Sturm
Weil es sich dann nicht nur um eine diachron, sondern auch synchron unterschiedliche Aufladung des Begriffes handelt?

<61>

Natascha Vittorelli
Ja, genau.

<62>

Marnie Sturm
Ich würde gerne noch einmal auf Ihren Text zur Irritation als Methode zurückkommen: Darin haben Sie davon gesprochen, dass man kreative Verfahren in der Lehre nutzbar machen kann, sofern man sie in ein bestimmtes Konzept einbindet. Wenden Sie auch beim Schreiben kreative Verfahren an?

<63>

Natascha Vittorelli
Nein, eigentlich nicht. Bei der Lehre würde ich es so sehen: Das Kreative darf nicht im Mittelpunkt oder nur für sich stehen. Das Kreative soll ein Ziel haben, dazu dienen, etwas zu erreichen. Erst dann wäre zu überlegen, mit welchem (hochschuldidaktischen) Mittel die Erreichung dieses Ziels möglich sein könnte. Kreative Methoden dürfen nicht eingesetzt werden, nur damit es lustig ist oder etwas passiert. Beim Schreiben verwende ich sie eigentlich nicht. Was ich aber immer mal wieder gerne mache, ist in Schreibratgebern nachzuschlagen.

<64>

Birte Kohtz
Und wenn man sich nach anderen Wegen des Schreibens umsieht, solchen, die wegführen vom geschlossenen großen Narrativ, die vielleicht eher versuchen, mit Verdichtungen zu arbeiten – wie wir es jedenfalls beim Lesen Ihrer Texte empfunden haben – beeinflusst das die eigene Lehre? Lässt es sich gewissermaßen übertragen?

<65>

Natascha Vittorelli
Ja, und zwar insofern, als es auch hier darum geht, nichts Einheitliches oder Eindeutiges zu vermitteln. In den Lehrveranstaltungen, die ich bis jetzt gehalten habe, ging es hauptsächlich um die Lektüre historiographischer Texte, also gewissermaßen um "Lesen lernen", das heißt Lesarten erarbeiten oder zulassen und erkennen, wie unterschiedlich diese ausfallen können. Das schließt Eindeutigkeit ohnehin aus. Ich gehe davon aus, dass das Schreiben mein Lehren beeinflusst, weil beides nicht voneinander zu trennen ist. Auch die Themen der Lehrveranstaltungen spielen dabei eine Rolle: Meine letzte Lehrveranstaltung hatte "Wie Frauenbewegung geschrieben wird" zum Thema, und es ging mir darum, Historiographie von Frauenbewegungen zu untersuchen. Ich dachte zunächst, dass das Seminar überhaupt nicht in meinem Sinne funktioniert hat, weil es in den Diskussionen – was vielleicht auch naheliegend war, da es sonst kaum Foren dafür gibt – hauptsächlich darum ging, was Frauenbewegung sei, und nicht, wie Frauenbewegungsgeschichte geschrieben wird. Ich habe mir aber dieses Mal die Mühe gemacht, abschließende Einzelgespräche mit den TeilnehmerInnen zu führen. Das war sehr lehrreich, weil ich gesehen habe, dass mein Eindruck falsch war. Es ist doch viel mehr von meinem Anliegen herübergekommen, als ich vermutet hatte. Meiner Haltung entspricht nicht: "Das ist Lehre, das ist Schreiben." Das Forschen beeinflusst die Thematik der Lehrveranstaltung, und beides spiegelt die Eigenheit, also die Denkeigenheit wider. Ich könnte beispielsweise keine Vorlesung anbieten, in der ich eine große Erzählung über die Frauenbewegung präsentiere, das würde sich mit meiner eigenen Herangehensweise nicht vereinbaren lassen.

<66>

Marnie Sturm
Sie haben in dem eben erwähnten Text auch von dem großen Unterschied zwischen Diskussion und Text geschrieben. Die Diskussion im Seminar, so schreiben Sie, präge das Mündliche, der Moment und die Interaktion als Elemente, die im Text nicht mehr repräsentierbar sind. Empfinden Sie das als Verlust?

<67>

Natascha Vittorelli
Verlust? Nein. Text und Lehre sind schlicht zwei unterschiedliche Vermittlungsformen, das eine kann etwas, das das andere nicht kann, und umgekehrt. Insofern stellt das keinen Verlust dar, den ich bedauern würde, sondern eine Gegebenheit. Was für mich zum Schönsten an der Lehre zählt, nämlich, bei einer Person ein Aha-Erlebnis miterleben zu dürfen, lässt sich schriftlich nicht vermitteln. Aber das macht eben den Unterschied aus. Dafür lässt sich der Text mehrfach nachlesen. Mit der Tatsache, dass das zwei unterschiedliche Vermittlungsformen sind, bin ich sehr versöhnt.

<68>

Marnie Sturm
Sie setzen sich in Ihrem Schreiben viel mit Klischees, Stereotypen, Traditionen, unbewussten Erwartungen und anderen Festlegungen auseinander. Welche Funktion erfüllt in Ihren Augen oder für Sie persönlich Geschichtsschreibung?

<69>

Natascha Vittorelli
Die große Frage zum Abschluss! Da müsste ich jetzt aber auch den großen Wurf machen, mit einer großen Erzählung! Geschichtsschreibung ist mir eine Freude, ein Interesse und eine Leidenschaft. Aber ob sich das jetzt als Funktion bezeichnen lässt? Es ist eher eine Faszination. Meinten Sie jetzt Funktion im gesellschaftspolitischen oder im persönlichen Sinne?

<70>

Birte Kohtz
Beides eigentlich.

<71>

Natascha Vittorelli
Ich glaube, es gibt ein Bedürfnis nach Geschichte und nach Erzählungen. Und es gibt verschiedene Möglichkeiten, diesem Bedürfnis nachzukommen. Professionelle Geschichtsschreibung ist eine davon. Ich beschäftige mich nicht unbedingt mit Themen, denen aktuell politische Relevanz zugesprochen wird. Ich beschäftige mich nicht mit Holocaustforschung und mit NS, also mit Themen, zu denen – zumindest derzeit in diesem Raum – ein Konsens herrscht, dass sie Relevanz besitzen und es eine Notwendigkeit gibt, darüber zu forschen. Ich bin angesichts meiner Themenwahl immer wieder erstaunt, dass ich, so wie derzeit beispielsweise, von Seiten der Österreichischen Akademie der Wissenschaften dafür finanziert werde, mich mit der Repräsentation von Partisaninnen im sozialistischen Jugoslawien auseinanderzusetzen. Aber zurück zu Ihrer Frage nach der Funktion von Geschichtsschreibung: Tatsächlich habe ich darauf spontan keine Antwort, die mein eigenes Tun in einen "großen oder größeren Sinnzusammenhang" stellen würde. Vielleicht gilt es genau das auszuhalten?

<72>

Birte Kohtz
Interessant, dass Sie es so sehen. Ich hätte angenommen, dass gerade Frauenbewegungen ein Phänomen sind, das auch heute noch politische Relevanz hat und in historischer Perspektive gesehen auch sehr greifbare und sich auf die gegenwärtige Gesellschaftsordnung auswirkende Aspekte aufweist.

<73>

Natascha Vittorelli
Ich habe die Lehrveranstaltung, von der ich eben gesprochen habe, mit der Frage eröffnet, ob es denn aktuell noch eine Frauenbewegung gäbe. Ich habe also eine Einschätzung der Studierenden erbeten, und die lautete tendenziell, dass Frauenbewegung etwas sei, das einmal war, aber heute nicht mehr existiert. Das ist ein Standpunkt, den ich so nicht teilen würde, ich halte die Themen, mit denen ich mich beschäftige, sehr wohl für relevant, nur dass ihre Relevanz vielleicht weniger offensichtlich ist als bei anderen Themen.

<74>

Birte Kohtz
In der Einleitung zum oben erwähnten Sammelband unterscheiden Sie zwischen Historiographie und Historisierung. Historisierung schildern sie dort als Prozess, der zwar ebenfalls Erzählungen über die Vergangenheit erzeugt, aber nachgrundsätzlich anderen Maßgaben als die Historiographie. In Bezug auf Frauenbewegungen lässt sich womöglich zur Zeit in Deutschland ein solcher Historisierungsprozess beobachten, in dem in Publikationen einer mehr oder minder existenten neuesten Frauenbewegung à la 'Alphamädchen' oder 'Neue Deutsche Mädchen' eine Abgrenzung zur Frauenbewegung der 1970er Jahre stattfindet, die auf einem bestimmten, sich meist auf einige wenige Elemente und Personen beschränkenden Bild basiert. Kann, bezogen auf Phänomene, zu denen derartige Historisierungsprozesse stattgefunden haben, die Geschichtswissenschaft auch eine aufklärende Funktion einnehmen?

<75>

Natascha Vittorelli
Das ist eine gute Frage. Ich weiß aber nicht, ob Funktion nicht einfach etwas ist, das einer Sache von verschiedenen AkteurInnen zugesprochen wird. Ein solches, erklärendes Moment könnte ein Aspekt davon sein. Ich denke, das ändert sich auch immer wieder, je nachdem, wo man selbst gerade steht und auch was man selbst als Geschichtsschreibung bezeichnet. Haben Sie eine Antwort auf diese Frage?

<76>

Birte Kohtz
Ich habe lange gedacht, dass Geschichtswissenschaft dazu dienen könne, die Gegenwart zu verstehen, und dass ein solches Verständnis aus dem Wissen erwachsen könne, wie die Welt entstanden ist, in der man lebt. Aber mittlerweile erscheint mir das problematisch, denn es würde ja implizieren, dass wirkliche Relevanz nur die Beschäftigung mit dem Werden der Gesellschaft haben kann, in der man lebt.

<77>

Natascha Vittorelli
Ich denke sowohl darüber nach, wie sich die Gegenwart auf die Vergangenheit auswirkt, als auch darüber, wie sich die Beschäftigung mit der Vergangenheit auf die Gegenwart auswirkt. Wenn die Frage lautet, ob die geschichtswissenschaftliche Auseinandersetzung mit Vergangenheit die Gegenwart verständlicher machen kann, dann glaube ich schon, dass das möglich ist. Aber das geschieht für mich eher durch die Art des Denkens über einen Gegenstand – den Denkstil – als darüber, dass es Vergangenheit ist, die zur Gegenwart geführt hätte. Wenn ich Soziologin, Philosophin wäre, hätte das für meine Gegenwart genauso eine unmittelbare Bedeutung, wie es für mich als Historikerin der Fall ist. Das hat aber nichts damit zu tun, dass Vergangenheit linear in eine Gegenwart und schließlich eine Zukunft führen würde, sondern eher, dass das Denken, die Haltung, die aus der Beschäftigung damit erwachsen, eine Relevanz für die Gegenwart hat. Dass es eine bestimmte Art zu Denken lehrt: Skepsis gegenüber großen, eindeutigen Erzählungen oder gegenüber der Unabänderlichkeit von Vergangenheit zum Beispiel.

Gesprächspartnerinnen:

Dr. Natascha Vittorelli
Institut für Zeitgeschichte
Altes AKH
Spitalgasse 2–4
A-1090 Wien
natascha.vittorelli@univie.ac.at

Marnie Sturm
Universität zu Köln
Historisches Seminar - Neuere Geschichte
Albertus-Magnus-Platz (Philosophikum)
50923 Köln
marnie.sturm@web.de

Birte Kohtz
Justus-Liebig-Universität Giessen
Historisches Institut, Osteuropäische Geschichte
Otto-Behagel-Straße 10, Haus D
35394 Gießen
Birte.Kohtz@geschichte.uni-giessen.de



[1] Natascha Vittorelli: Frauenbewegung um 1900. Von Triest nach Zagreb, Wien 2007.

[2] Natascha Vittorelli: An 'Other' of One's Own. Pre-WWI South Slavic Academic Discourses on the zadruga, in: Spaces of identity 2 (2002), H. 3/4, 27-43.

[3] Zitiert nach Vittorelli: Frauenbewegung um 1900 (wie Anm. 1), 15; Johanna Gehmacher / Natascha Vittorelli: Einleitung, in: dies. (Hg.): Wie Frauenbewegung geschrieben wird. Historiographie, Stellungnahmen, Dokumentation, Bibliographien, Wien 2009, 9-23, hier: 9.

[4] Zitiert nach Vittorelli: Frauenbewegung um 1900 (wie Anm. 1), 11.

[5] Natascha Vittorelli: Mapping the Balkans. Irritation als Methode, in: Rainer Pöppinghege (Hg.): Geschichte lehren an der Hochschule, Schwalbach/Taunus 2007, 173-180.

[6] Vgl. das Interview mit Staffan Müller-Wille: "'Eher Zirkus als Legebatterie.' Staffan Müller-Wille als Dompteur des eigenen Assoziationsreichtums" in dieser Ausgabe, <45>

[7] Gehmacher / Vittorelli : Wie Frauenbewegung geschrieben wird (wie Anm. 3).

[8] Vittorelli: An 'Other' of One's Own (wie Anm. 2).

[9] Vgl. das Interview mit Philipp Sarasin: "Der eigene Text als externer Speicher. Philipp Sarasin über die Arbeit am Gedanken" in dieser Ausgabe, <20>.

Empfohlene Zitierweise:

Natascha Vittorelli / Marnie Sturm / Birte Kohtz : Eine Sache denken. Oder: Jedem Text sein eigener Sound. Im Gespräch mit Natascha Vittorelli , in: zeitenblicke 9, Nr. 2, [2010], URL: https://www.zeitenblicke.de/2010/2/sturm-kohtz_vittorelli/index_html, URN: urn:nbn:de:0009-9-25873

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