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Zusammenfassung

Schreiben und Zeichnen kommen im Schönschreiben zur Einheit. Friedrich Wilhelm IV. von Preußen (1795-1861) besaß eine besondere Vorliebe für diese Zierformen des kalligraphischen Schreibens und für arabeske Linienverschlingungen. Als sogenannte "Dürer-Knoten" gehören diese von der Forschung bislang nicht näher beachteten spielerischen Übungen, die auf beinahe jedem zweiten Blatt des zeichnerischen Nachlasses des Königs zu finden sind, in eine Rezeptionsgeschichte der Zeichenkunst Dürers. Darüber hinaus ist nach der politischen Ideengeschichte zu fragen, in die Friedrich Wilhelm IV. als Künstler und König mit seiner Vorliebe für Ornamente und Schönschriften zu stellen ist. Der Beitrag unterscheidet einzelne Formen von Unterschriften und Schmuckzeichen Friedrich Wilhelms IV. und untersucht dessen markante Zeichen- und Schriftspiele als Ausdruck von Legitimität und Souveränität.

Kuverts und Arabesken

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Schon weil es sich erhalten hat, weckt ein Blatt aus dem Nachlass-Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften das Interesse (Abb. 1). Aus welchem Grund wurde dieser Zettel aufgehoben, was hat es zu bedeuten, dass es dieses Stück Papier noch gibt? Ist es eine sentimentale Erinnerung, ein geheimes Zeichen? Der unspektakuläre Zettel zeigt nichts als eine kleine ornamentale Figur. Sie wurde ursprünglich auf ein Kuvert gezeichnet, für wichtig befunden und von der Klappe des Briefumschlages abgeschnitten, wie die auffällige dreieckige Form des Papierstücks verrät. So galt dieser Darstellung eine bestimmte bewertende Aufmerksamkeit. Beiläufig entstanden und daher unsigniert, scheint das Bild ansonsten historisch uninteressant zu sein, so abstrakt und zeitlos in seiner Wiederholbarkeit wirkt dieses Zierspiel zunächst. Es könnte das Souvenir der Zeichnung eines Kindes sein, dessen Trieb und Begabung sich unerlaubterweise auf Geschäftspapieren erprobten.

Abb. 1

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Das Ornament ist aus einer einzigen geschlossenen Linie gebildet, deren Verschlingungen sich symmetrisch wiederholen. Entfernt erinnert das Motiv an das Flügelpaar eines Schmetterlings oder an die Muster eines Kaleidoskops. Die Form spiegelt sich nicht nur nach links und rechts, auch nach oben und unten beschreiben die Schlaufen und Rauten eine Spiegelung durch zwei gegenläufige Keile oder Dreiecke. Der unbekannte Zeichner hat mit der Zeichenfeder kunstvolle Windungen erfunden, die sich zu einem phantasievoll komponierten Kunststück fügen. Diese Geschicklichkeit kann allerdings nicht über eine gewisse Schwerfälligkeit hinwegtäuschen. Inspirierte Entwürfe aus einem ersten Gedankenblitz heraus oder ein versiertes, frei variierendes Linienspiel voller Esprit haben eine andere Ästhetik, die auch Abweichungen auffängt, während die kleinen Unregelmäßigkeiten in diesem Fall fehlerhaft wirken. Raffiniert, aber ohne Leichtigkeit und stattdessen sehr konzentriert wirkt diese Graphik. Die Kontrolliertheit und Vielseitigkeit der labyrinthischen Linie beweist jedoch wiederum, dass es sich bei diesem Zettel nicht um einen sporadischen und nur vereinzelten Versuch handeln kann.

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So hat sich aus demselben Nachlass die Zeichnung einer weiteren symmetrischen Schlingfigur erhalten, deren Linie so schwerfällig ist wie in dem Beispiel auf der Kuvertzunge (Abb. 2). Auch dieses Mal ist sie aus einem Briefumschlag ausgeschnitten worden, wie der nach links laufende Klebefalz erkennen lässt. Dieser zweite Abschnitt zeigt außer der Ornamentzeichnung noch die Innenansicht einer gotischen Kapelle. Auch in dieser Skizze fällt der suchende, selbst in dem recht kleinen Maßstab noch unsichere Zeichenstift auf. Die schüttere, strichelnde Linie dieser Architekturzeichnung korrespondiert mit dem zwar gleichmäßig druckstarken, aber sich verwirrenden Strich der ornamentalen Schlingfigur.

Abb. 2

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Ohne Kenntnis der Empfänger der Briefe, auf deren Kuverts diese auffälligen Kunstfiguren gezeichnet worden sind, würde man sich der Kunstgeschichte bedienen und in der Geschichte des Ornaments nach möglichen Vorlagen suchen, um die Entstehungszeit eingrenzen zu können. Schon die unbefriedigende Sprödigkeit der Zeichnungen lässt auf eine Anleihe schließen. Beide Arabesken variieren den Typus einer kunstvoll verschlungenen und sich dabei gleichzeitig spiegelnden geschlossenen Linie, aber diese geistreiche graphische Idee bleibt in ihren Ausführungen so merkwürdig unerfüllt, dass sich ein fremdes nachgeahmtes und unerreicht gebliebenes Vorbild voraussetzen lässt. Auch wenn es sich nicht um genaue Nachzeichnungen handelt, so lassen sich die Vignetten von den Briefumschlägen mit Details aus den Randzeichnungen vergleichen, die Albrecht Dürer für das Gebetbuch Kaiser Maximilians I. circa 1513 erfunden hatte.

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So zeigen schon die typisch offenen, zwischen zwei frei flatternden Enden sich zu einer Blattmaske verdichtenden Linienfiguren auf einer der Seiten dieses Kunstwerkes jene typischen Rauten, die auch in den Kuvert-Vignetten vorkommen. Diese erscheinen vollends als Nachahmungen Dürers, wenn man in den Randzeichnungen zum Gebetbuch Kaiser Maximilians gezielt nach möglichen Vorlagen für die Zeichenversuche auf den Briefumschlägen sucht. Solche weder Anfang noch Ende verratenden, geschlossenen Schlingfiguren finden sich mehrfach auf den Blättern des Gebetbuches und tauchen disparat und ohne Zusammenhang mit den unterschiedlichen Bildern wie Stempel in Darstellungen der Heiligen Dreifaltigkeit oder des heiligen Georg auf (Abb. 3).

Abb. 3

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Bei der Suche nach möglichen Vorlagen unseres Musters sollte man allerdings nicht nur das originale Gebetbuch Kaiser Maximilians berücksichtigen. Es ist überhaupt zweifelhaft, ob der unbekannte Kopist die echten Dürer-Zeichnungen neben sich liegen hatte, als er eine der berühmten Arabesken auf die Rückseite des Briefkuverts zeichnete. Dieser Graphik diente wohl nicht das Original, sondern vielmehr eine Reproduktion als Vorlage. Die Geschichte der technischen Reproduzierbarkeit des Gebetbuches Kaiser Maximilians lässt möglicherweise eine vage Datierung der Kuvert-Zeichnungen zu. So stammen die ersten Faksimile-Reproduktionen des einmaligen Gebetbuches aus dem Jahr 1850. Dem Herausgeber dieser Lithographien Franz Xaver Stöger zufolge wurden von ihm erstmals die Meisterzeichnungen Dürers zusammen mit den historischen Drucktexten wiedergegeben. Dass den unbekannten Zeichner der Vignetten auf den Briefkuverts gerade die zeichenhaft in sich verschlossenen Ornamente zur Nachahmung reizten, mag durch frühere Reproduktionen des berühmten Gebetbuches ausgelöst worden sein. Denn ohne Text gedruckt, stechen diese weder zu den figürlichen Kompositionen noch den frei rankenden Ornamentrahmen passenden Amulette nur noch deutlicher hervor. Möglicherweise sind die Zeichnungen der Briefkuverts deshalb noch vor 1850 entstanden. Durch die noch junge Lithographie reproduzierbar geworden, erfreuten sich die erstmals von Nepomuk Strixner veröffentlichten geschmeidigen Federzeichnungen Dürers seit 1808 internationaler Aufmerksamkeit. 1817 folgte eine Ausgabe in England, 1820 eine weitere in Deutschland. Die prägnantesten Beispiele für diese Erfolgsgeschichte der arabesken Linienkunst Dürers im 19. Jahrhundert finden sich in der Gebrauchsgraphik Adolph von Menzels. Die europaweite Verbreitung der Dürerschen Randzeichnungen zum Gebetbuch Kaiser Maximilians I. und ihre Auswirkungen bis in die Witzzeichnung mögen auch die Vignetten des französischen Karikaturisten Grandville aus dessen 1847 ins Deutsche übersetzten bekannten Bilderbuches "Eine andere Welt" verdeutlichen. Ein Echo auf diese Modeerscheinung der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts sind auch die Zeichnungen auf den Briefkuverts.

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Angesichts einer so weiten Verbreitung der sogenannten "Dürerschen Knoten" muss es einen triftigen persönlichen und über den Kunstgeschmack hinausweisenden Grund dafür gegeben haben, vergleichsweise reizlose Nachahmungen dieser allzu populären Arabesken aus Briefkuverts auszuschneiden und gesondert zu verwahren. So kann es als der unschuldige Gedanke eines Liebesbriefschreibers erscheinen, über der Klebestelle des Umschlages als eine doppelte und magische Versiegelung ein Amulett der Freundschaft zu setzen. Aus der gespannten Erregung heraus, so ließe sich in diese Richtung weiter phantasieren, ist die Zeichnung dann doch nicht ganz mittig geraten und steht mit dem darunter befindlichen Post-Siegel daher nicht in einem Lot. So ernst nahm es der Absender damit, dass er sogar zuerst eine Vorzeichnung anfertigte.

Abb. 4

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Wie Übungen zu dieser Zeichnung auf dem Briefkuvert erscheinen die zahlreichen Blätter, die König Friedrich Wilhelm IV. von Preußen im Ringen mit der faszinierenden Zeichenkunst Dürers wieder und wieder mit Stilübungen bedeckte (Abb. 4). Allein auf dieser hier abgebildeten Seite, sie stammt aus dem Nachlass des Hohenzollern und gehört zur Sammlung der Stiftung Preußischer Schlösser und Gärten, sind die typisch verschlossenen, sich verschlingenden und gleichzeitig spiegelnden Linienblüten Dürers über 30 Mal variiert worden. Allein diese offensichtliche Vorliebe des Königs für die Randzeichnungen im Gebetbuch Maximilians wäre angesichts ihrer weiten Verbreitung in Form von Reproduktionen gewiss noch kein zwingender Grund für eine Zuschreibung. Vergleiche mit Architekturentwürfen, die sich ebenfalls in reicher Zahl erhalten haben, bestätigen aber wenigstens eine der Kuvertzeichnungen als sicher von der Hand Friedrich Wilhelms IV. stammend. Was als kindliches Vergnügen oder verliebter Ehrgeiz erscheinen kann, entstammt in Wirklichkeit dem Repräsentationswunsch eines Herrschers. Adressiert waren diese geschmückten Briefe an Marcus Carsten Niebuhr (1817-1860), dessen Nachlass die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften verwahrt und der als preußischer Staatsbeamter einer der engsten Berater und Mitglied der sogenannten "Kamarilla" Friedrich Wilhelms IV. war.

Monogramme

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Als ästhetische Objekte wären die Arabesken auf den Briefkuverts sicherlich kaum der Rede wert. Aus dieser Perspektive betrachtet würden wohl auch die umfangreichen Bauaufträge Friedrich Wilhelms IV. wie die spektakuläre Wiederaufnahme des Baues zur Vollendung des Kölner Doms ab 1841 an Bedeutung verlieren. Weil sich der König und sogenannte "Romantiker auf dem Thron" oft deutsche Reichspolitik betreiben sah und Dürer von der Romantik zum Leitbild deutscher Kunst stilisiert worden war, lassen sich die Dürerschen Muster, wenn sie von Friedrich Wilhelm IV. gezeichnet werden, ebenso wie seine Architekturentwürfe durchaus als politische Zeichen interpretieren. Rückschlüsse von der Bildpraxis auf das Privatleben des Königs würden allerdings ins Leere laufen und einen bemerkenswerten Aspekt der Bildgeschichte übersehen. Diese immer wieder unternommenen, wenngleich vergeblichen, Versuche der Einfühlung scheiterten schon zu Lebzeiten Friedrich Wilhelms IV., weil man den König als Menschen verstehen wollte. "Expliquez-moi le roi de prusse – Erklären Sie mir den König von Preußen" soll es auf dem internationalen diplomatischen Parkett nach dem Regierungsantritt Friedrich Wilhelms IV. immer wieder verwundert geheißen haben. Selbst "die königlichen Geschwister konnten sich keinen Reim auf ihren Bruder machen, wussten nicht, wohin er 'eigentlich' zu gehen beabsichtigte, und hofften, das sich Friedrich Wilhelm IV. immer wieder fangen werde." [1] Tiefere Neigungen zu Niebuhr als Empfänger der geschmückten Briefe schließt Dirk Blasius in seiner Biographie mit dem Untertitel "Psychopathologie und Geschichte" aber dann doch aus: "Friedrich Wilhelm IV., dessen Lebensgeschichte so viel Ungewöhnliches enthält, führte eine normale Ehe." [2] Nicht als psychologische Indizien oder ästhetische Objekte, sondern als politische Zeichen, als Hoheitszeichen ergeben die Ornamente Friedrich Wilhelms IV. einen Sinn.

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Betritt man den Schlosspark von Sanssouci durch den Haupteingang und passiert anschließend das sogenannte Grüne Gitter, findet man hier einen augenfälligen Hinweis zum Verständnis der Schmuckzeichnungen Friedrich Wilhelms IV. (Abb. 5) Dieses so prachtvoll gestaltete Tor (errichtet 1854) gehört zum Gebäudekomplex des nach Plänen von Ludwig Persius 1845-1849 errichteten Marlyschlösschens und ist damit einer der ersten Bauten, die Friedrich Wilhelm IV. nach seiner Thronbesteigung veranlasst hatte. Erst beim Vergleich mit allen anderen Zugängen und Auffahrten zum Schlosspark wird klar, dass es sich bei diesem fürstlichen Namenszug auf dem Grünen Gitter um eine Ausnahme handelt. Nur hier, fast aufdringlich und von Friedrich Wilhelm IV. veranlasst, prangt das Monogramm des Königs. In Blattwülsten zu einem "FWRIV" verschlungen, findet sich ein königliches Namenszeichen im Schlosspark Sanssouci in so prätentiöser Form nur an dieser einen Stelle. Das Grüne Gitter zeigt den Namen des Königs zum Ornament gefügt.

Abb. 5

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Ist es übertrieben, im selben Maße wie in dem Monogrammmedaillon am Grünen Gitter auch in den Dürerschen Amuletten auf den Kuverts der Briefe Friedrich Wilhelms IV. an Marcus Carsten Niebuhr einen inneren Zusammenhang zwischen Kunst und Politik herzustellen? Möglicherweise lässt sich der Schmuck auf diesen Briefen auch als ein sehr persönliches Sigel für einen handschriftlichen Brief verstehen, während amtliche Briefe allein das übliche Wachssiegel trugen. In jedem Fall haben sich im Nachlass der Zeichnungen Friedrich Wilhelms IV. Papiere mit Schreibübungen des königlichen Monogramms in einer Anzahl erhalten, die der Vielzahl der Übungszeichnungen nach Dürerschen Arabesken nicht nachsteht (Abb. 6). Auf manchen Blättern vermengen sich Monogramme und Amulette, so dass sich der Eindruck der Austauschbarkeit aufdrängt.

Abb. 6

Abb. 7

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Die zwei jeweils fast ausschließlich der Einübung von Arabesken oder Monogrammen gewidmeten Seiten belegen allerdings einen feinen Unterschied zwischen Schrift und Zeichnung und widersprechen zunächst einer Interpretation der Arabesken rein als Schrift. Die Schriftzeichen sind in dem einen Fall wie in einem Heft für Schreibübungen mehrfach wiederholt auf unsichtbare Zeilen gesetzt, die Seite mit den Arabesken hingegen zeigt die Variationen der typisch geschlossenen, sich verschlingenden und dabei spiegelnden Linie als Dürersche Monaden, die ihre Ordnung in sich selbst zu tragen scheinen und daher kreuz und quer über das Studienblatt verteilt sind. Das Layout dieser Seiten deutet auf eine unterschiedliche Behandlung und Bewertung von Monogramm und Ornament durch Friedrich Wilhelm IV. hin. Bei ausgeschriebenem Namen hingegen, auch dafür haben sich zahlreiche Beispiele im Nachlass dieses Königs erhalten, scheint die Schrift förmlich zum wuchernden Ornament zu drängen, mit diesem zu verschmelzen und darin aufzugehen. Ein größeres Studienblatt, auf dem auch mehrere Architekturentwürfe enthalten sind, zeigt den vollen Namen "Friedrich". Aus den Auf- und Abstrichen der Anfangs- und Endbuchstaben quellen sogenannte kalligraphische "Schwanzsterne" hervor, die sich zu einem kleeblattartigen Gebilde verselbständigen und in ihrer wuchernden Reichhaltigkeit wie Wellen wirken, auf denen der kleiner und kleiner werdende Name des Königs wie ein sehr zerbrechliches Staatsschiff tanzt (Abb. 7). Die Arabeske wird zu einer kafkaesk übertriebenen Unterschrift. Solche Blätter aus dem Nachlass Friedrich Wilhelms IV. von Preußen erinnern an einen auf den ersten Blick unverständlichen Gedanken des deutschen Philosophen und Hegelianers Karl Rosenkranz, der in seiner 1837 erschienenen "Psychologie" auch abstrakte Arabesken Monogramme nennt. [3]

Das Mal des Königs

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Die bisher von der Forschung unbeachtet gebliebenen "Dürer-Schlingen" im zeichnerischen Nachlass Friedrich Wilhelms IV. sind schon deshalb bemerkenswert, weil es sich bei den kalligraphischen Übungen des Königs um eine traditionsreiche politische Form handelt. Sie gehen daher über jene Bedeutung, die Gottfried Semper im Ornament und im "Mal des Schmucks" sah, weit hinaus – oder erfüllen erst diesen Begriff. [4] Schmuckschriften gehörten, darüber belehren alle Darstellungen zur Geschichte der Kalligraphie, zu den Selbstverständlichkeiten des höfischen Schriftverkehrs. Nicht nur im Herrscherbildnis oder im protokollarischen Zeremoniell, auch im Schriftbild der Urkunden wird ein Staat sichtbar. Briefköpfe beweisen, dass auch die Kanzlei Friedrich Wilhelms IV. kalligraphisch geschmückte Urkunden verschickt hat, wie eine Probe aus dem Jahr 1845 belegt (Abb. 8). Die rhythmischen Schwellstriche eines solchen offiziellen Briefkopfes werden von Friedrich Wilhelm IV. in manchen seiner Schriftphantasien variiert. Dass diese Kanzleischriften schon dem aufwachsenden Kronprinzen vertraut waren und ihm zur Übung empfohlen wurden, belegt eine Seite von circa 1810, also aus der Zeit kurz nach der Niederlage Preußens gegen Napoleon (Abb. 9). Das Betrachten dieser Seite verlockt dazu, sich den Kronprinzen bei Schriftübungen nach dem Beispiele von Urkunden vorzustellen, die er als König eines wieder erstarkten und von Napoleon befreiten Preußen dereinst zu verschicken sich erträumte. Der Vergleich dieser Schreibübung mit dem Briefkopf des nachmaligen Königs zeigt auch eine stabile Tradition in den Schönschriften der preußischen Kanzleien.

Abb. 8

Abb. 9

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Doch nicht nur in der Geschichte des höfischen Schriftverkehrs, auch im Rahmen der bürgerlichen Kulturgeschichte des 19. Jahrhunderts stellen die Schreibübungen Friedrich Wilhelms IV. keinen Einzelfall dar. Das gezierte Schönschreiben muss als eine typische Kulturtechnik des Industriezeitalters bewertet werden. Seit Beginn des 19. Jahrhunderts gab es Schulen für Schönschriften zur Übung der schreibenden Hand des Kaufmanns. Ein Überraschungsfund aus der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften zeigt die Ästhetik solcher Unterweisungen im Schönschreiben in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts an einem sehr ungewöhnlichen Beispiel (Abb. 10). Es handelt sich um die Abschrift eines reich geschmückten Deckblattes des "Kleinen kaufmännischen Schreibemeisters oder Calligraphische Übungsblätter für junge Kaufleute und Comptoiristen" des sehr bekannten Kölner Schreibemeisters Johann Henrigs. Das Blatt aus einem Schulheft von 1832 findet sich im Nachlass des berühmten Berliner Anthropologen Rudolph Virchow, der als 10jähriger die Vorlagen von Henrigs zur Übung der Handschrift wieder und wieder nachzeichnen musste. Anstelle des Autorennamens hat Virchow auf der Abschrift seinen eigenen Namen eingesetzt. Die schwungvollen Schwellstriche dieses Deckblattes ähneln sehr dem Briefkopf der preußischen Hofkanzlei. Dass auch Virchow ganz wie der spätere König Friedrich Wilhelm IV. den arabesken Schlingfiguren Albrecht Dürers nicht ganz fremd gegenübergestanden haben kann, belegen weitere Beispiele kleiner kalligraphischer Spiele mit der eigenen Unterschrift. In einem Einzelfall hat Rudolph Virchow seinen Namen sogar auf eine Art Sofa gesetzt, dass sich auch als Stativ mit Lippenperücke bezeichnen lässt und wie eine Karikatur der seinerzeit modernen Dürerschen Arabesken wirkt.

Abb. 10

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Weil es sich bei den Arabesken und Monogrammen Friedrich Wilhelms IV. um politische Linien, um Zeichen der Hand des Königs handelt, sind diese allzu zeittypischen Zeichnerspiele innerhalb einer Bildgeschichte der Zeichnung im 19. Jahrhundert besonders relevant. Die Häufigkeit dieser kalligraphischen Muster verweist nicht nur auf eine persönliche Vorliebe, sondern lässt eine besondere Bedeutung des Schreibens und der Unterschrift Friedrich Wilhelms IV. als Herrschaftszeichen ahnen. Wie weitere Beispiele aus dem zeichnerischen Nachlass des Königs beweisen, hat er nicht nur Monogramme und abstrakte Zierformen beherrschen wollen, sondern auch seine eigene und sogar fremde Unterschriften immer wieder geübt. So gibt es mehrere, vergleichsweise große Studienblätter, die über und über mit Nachahmungen verschiedener Namenszüge bedeckt sind. Stärker noch als diese graphologischen Einfühlungsversuche des Königs beeindruckt eine weitere Seite von gleicher Größe. Der Schreiber hat den Namen "Friedrich" hier Buchstabe um Buchstabe dekonstruiert, um sich den Schriftverlauf in Fleisch und Blut übergehen zu lassen (Abb. 11).

Abb. 11

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Paradoxerweise erklärt gerade jener Philosoph, dessen Schüler Friedrich Wilhelm IV. als Drachensaat bekämpfte, die ungewöhnlich intensive Beschäftigung eines Königs mit Ornamentik und Kalligraphie als politische Form. Die Besessenheit, mit der sich ein Herrscher wieder und wieder, in immer kunstvolleren Formen dem Akt des Unterschreibens widmete, kann als bildliches Echo auf den offensichtlich selbstempfundenen Souveränitätsverlust seines Königtums gedeutet werden. Zweifellos stellen Schrift und Unterschrift einer Amtsperson einen bedeutsamen Teil ihrer Legitimität dar. In diesem Sinne wird die kalligraphische, zur Manieriertheit neigende Schönschrift Friedrich Wilhelms IV. durch Hegel erklärbar, wenn er in den "Grundlinien der Philosophie des Rechts" von der Person des Königs schreibt: "Der Staat muss als ein großes architektonisches Gebäude, als eine Hieroglyphe der Vernunft, die sich in der Wirklichkeit darstellt, betrachtet werden. [...] Dass nun der Staat der sich selbst bestimmende und vollkommen souveräne Wille, das letzte Sich entschließen ist, begreift die Vorstellung leicht. Das Schwerere ist, dass dieses 'Ich will' als Person gefasst werde. Hiermit soll nicht gesagt sein, dass der Monarch willkürlich handeln dürfe; vielmehr ist er an den konkreten Inhalt der Beratungen gebunden, und wenn die Konstitution fest ist, so hat er oft nicht mehr zu tun, als seinen Namen zu unterschreiben. [...] Man hat oft gegen den Monarchen behauptet, dass es durch ihn von der Zufälligkeit abhänge, wie es im Staate zugehe [...]. Es ist bei einer vollendeten Organisation nur um die Spitze formellen Entscheidens zu tun, und man braucht zu einem Monarchen nur einen Menschen, der 'Ja' sagt und den Punkt auf das i setzt." [5]

Souveräne Handschrift

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Seltene Extrembeispiele im zeichnerischen Nachlass Friedrich Wilhelms IV. wie die zu Wucherungen sich auswachsenden Arabesken (Abb. 12), die in nichts an die ursprüngliche Spontanität der Dürerschen Schlingen erinnern und wie in einem somnambulen Traumzustand zwanghaft auf das Papier geschrieben worden zu sein scheinen, wirken wie ein Echo dieser hegelschen Funktionsbestimmung des Königs in der konstitutionellen Monarchie. Als symbolische Form betrachtet, wecken diese Zwitter aus Schrift und Zeichnung Erinnerungen an politische Ereignisse der jüngsten Zeit. Erst vor wenigen Jahren hat Bundespräsident Horst Köhler in Deutschland das Unterschreiben durch einen Repräsentanten der Demokratie politisch aufgewertet, indem er die Unterschrift unter einen Gesetzesentwurf verweigerte. Dadurch brachte Horst Köhler das Amt des Staatspräsidenten als ebenso souveräne wie disziplinierende Klippe im Prozess der parlamentarischen Entscheidungsfindung wirkungsvoll in Erinnerung. In diesem Sinne schien Friedrich Wilhelm IV. in seinen kalligraphischen Übungen und Arabesken den Namen des Königs mit den Formen einer Art von "Über-Schrift" aufwerten zu wollen. Ein anderes Beispiel aus dem zeichnerischen Nachlass des Königs, das ohne die politischen Begriffe Hegels allzu leicht als das Bildzeugnis der Schizophrenie erscheint und für die Bildgeschichte des 19. Jahrhunderts dann verloren wäre, zeigt endlose Verkettungen seines Monogramms (Abb. 13). An Nähte oder industrielle Serienfertigungen erinnernd, lassen diese Namensspiele an Metaphern des Staates als Maschine denken. Diese Formen können auch als Drill-Späne gedeutet werden, wie sie beim Drechseln abfallen, einer von allen Hohenzollern betriebenen königlichen Geschicklichkeitsübung. Zwischen Schreiben und Zeichnen changierend, enthüllt sich in der Art des Unterzeichnens Friedrich Wilhelms IV. eine besondere, bisher unbeachtet gebliebene Spur der politischen Geschichte des 19. Jahrhunderts. Dass die eingangs beschriebenen Schmuckamulette auf den Briefen des Preußenkönigs an Marcus Carsten Niebuhr ausgeschnitten und aufbewahrt wurden, bezeugt aus dieser Perspektive ein tiefes Verständnis des Beamten für das Schriftbild des Herrschers als Ausdruck seiner Legitimität.

Abb. 12

Abb. 13

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Wie sehr sich Friedrich Wilhelm IV. durch seine Handschrift als König definierte, mag abschließend auch ein Ereignis belegen, das durch einen Autographensammler des 19. Jahrhunderts verbürgt ist und von dem bekannten Biographen Erich Lewalter erzählt wird: "Als ein freundlicher Verehrer des Hohenzollerngeschlechts aus Süddeutschland dem Hausarchiv einen Originalbrief Friedrichs des Großen eingesandt hat mit der Bitte, als Gegengabe einige Zeilen des jetzigen Königs zu erhalten, schreibt ihm Friedrich Wilhelm scherzend: er sei zwar in allen Stücken ein warnendes Gegenbeispiel zu seinem großen Vorgänger – 'nur in einem bin ich ihm über: ich habe eine bessere Handschrift [...]'". [6]

Autor:

Jörg Probst M.A.
Philipps-Universität Marburg
Deutsches Dokumentationszentrum für Kunstgeschichte
Bildarchiv Foto Marburg
Biegenstraße 11
D-35037 Marburg



[1] Dirk Blasius: Friedrich Wilhelm IV. 1795-1861. Psychopathologie und Geschichte, Göttingen 1992, 94.

[2] Dirk Blasius: Friedrich Wilhelm IV. 1795-1861. Psychopathologie und Geschichte, Göttingen 1992, 94.

[3] Karl Rosenkranz: Psychologie oder die Wissenschaft vom subjektiven Geist (1837), Königsberg 1843, 293.

[4] Gottfried Semper: Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten, 2 Bde.,, Frankfurt a.M. 1860, I, XXXVIII., §. 50, 180.

[5] Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts (1833), Berlin 1981, 326ff.

[6] Ernst Lewalter: Friedrich Wilhelm IV. Das Schicksal eines Geistes, Berlin 1938, 460f.

Empfohlene Zitierweise:

Jörg Probst : Unterzeichnen. Friedrich Wilhelm IV. und die Arabeske , in: zeitenblicke 9, Nr. 3, [23.12.2010], URL: https://www.zeitenblicke.de/2010/3/Probst/index_html, URN: urn:nbn:de:0009-9-27539

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