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I. Vorbemerkungen:

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In den folgenden Absätzen sollen einige Überlegungen zur wissenschaftshistorischen Deutung von Notizsammlungen in den historischen Wissenschaften entwickelt werden, und zwar am Beispiel Johan Huizingas (1872-1945) und mithilfe vergleichender Blicke auf einige andere Gelehrte des historisch-philologischen Felds im 19. und 20. Jahrhundert. Damit wird ein Thema aufgegriffen, das in dieser Zeitschrift bereits vor einigen Monaten zur Sprache gekommen ist. [1] Auch anderwärts ist Wichtiges zur Frage nach den epistemologischen Eigenheiten von Notizen, insbesondere zur Frage ihrer Autonomie als Wissensform, erörtert worden. [2] Hieran schließt der vorliegende Aufsatz an, indem er weniger ein geschlossenes Argument als eine Reihe einzelner, teils ergänzender, teils in andere Richtungen treibender Argumente vorträgt. Da in dieser Diskussion im Übrigen der Übergang (oder sein Ausbleiben) von der Notizsammlung zum Fließtext ein zentrales Problem bildet, soll hier die Frage nach den Überschneidungen, den gegenseitigen Prägungen von Notiz-Text und Fließtext der Publikation im Mittelpunkt stehen.

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Die Notizsammlung unterscheidet sich von anderen Formen der wissenschaftshistorischen Verzettelung. [3] Sie ist gekennzeichnet von Autorschaft, Suggestionen der Spontaneität, Flexibilität der materiellen Form, Abwesenheit von konsistenten und umfassenden Verweissystemen, Verzicht auf das Telos vollständiger Erfassung eines Gegenstands. Sie ist weniger Ordnungs- als Unordnungssystem, das heißt ein Muster zur (temporären) Durchbrechung von Anordnungen des wissenschaftlichen Materials. Eine offensichtliche Funktion von Notizsammlungen ist die Vorbereitung eines frei kombinierbaren Materials. Das Schneiden ist hier ein immer wiederkehrendes technisches Verfahren der Notizführung; [4] die Notiz wird entweder auf etwas Geschnittenem niedergeschrieben oder sie entsteht als Individuum mithilfe der Schere. Der Schnitt, allein schon die Möglichkeit des Schneidens, verdeutlicht, dass die Wissenschaft keineswegs immer von der Unordnung zur Ordnung fortschreitet.

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Typisch für geisteswissenschaftliche Notizverfahren ist die Zerlegung von vorgefundenem Textmaterial, dessen gegebene Ordnung zerstört wird. Der Informationsverlust kann dabei hoch sein. Außerdem besteht nicht notwendigerweise ein gleichartiger Zugriff auf die einzelnen Notizen. Zum einen neigen Notizsammlungen dazu, intern hierarchisiert zu sein. Sie enthalten eine Hierarchie von Untereinheiten, deren Kenntnis zum Verständnis einzelner Notizzettel unerlässlich sein kann. Zum anderen bieten solche Sammlungen meist keine Gewähr dafür, dass man auf alle relevanten Notizen Zugriff erhält, wenn man an die Sammlung insgesamt eine Suchanfrage stellt; jedenfalls nicht ohne vollständige Lektüre. Dies ist eine Folge der Abwesenheit eines Verweissystems. Trotzdem sind (oder waren?) diese wenig übersichtlichen Depositorien, die artifizielle Unordnung herstellen, indem sie vorgängige Ordnungen stören, offenbar ein wichtiges wissenschaftliches Arbeitsmittel.

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Was die Eingliederung in Armin Heinens Projekt betrifft, geht es hier um Formen der Schriftlichkeit als Ausdruck einer spezifischen historischen Konjunktur "technisch-medialer" Ressourcen. Die Notizsammlungen, die hier betrachtet werden, entstammen einer wohl spätestens seit Mitte des 19. Jahrhunderts anhaltenden Ökonomie der Verschwendung, in der das Papier nur selten zu einer wirklichen Mangelware wurde (Schillers Wort vom "tintenklecksenden Säkulum" dürfte als frühes Symptom dieser Entwicklung zu betrachten sein). Dies gilt selbst für die Weltkriege, die jedenfalls nach dem Zeugnis erhaltener wissenschaftlicher Notizsammlungen nicht als ernste Krise der Papierversorgung erscheinen – denn der Bedarf der wissenschaftlichen Notizführung war verschwindend gering im Vergleich zum Bedarf der Druckindustrie, der staatlichen Verwaltungen, des Wirtschaftslebens, in denen sich jeweils schwere Engpässe bildeten. Der sorglose Umgang mit der beschreibbaren Fläche war unter Wissenschaftlern allgemein und ungebrochen üblich. Gerade in diesem beinahe natürlich gegebenen Überfluss entwickelten sich jedoch zahlreiche Verfahren der Einhegung von Kontingenz. Die meisten Notizsammlungen weisen je eigentümliche Verfahrensweisen der Verknappung und Vereinheitlichung des Materials auf. Nur auf bestimmtes Papier wurde geschrieben, sehr häufig solches, das bereits vorgängig gebraucht worden war. Die originelle Wahl von Todes- und Hochzeitsannoncen bei dem Historiker François Louis Ganshof (1895-1980) ist hierfür ein Beispiel. [5]

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Gerade Todesannoncen, die auf hochwertigem Büttenpapier gedruckt wurden, findet man auch bei anderen Wissenschaftlern, so zum Beispiel vereinzelt bei dem Orientalisten Enno Littmann (1875-1958), der jedoch auch die Blätter von Abreißkalendern oder gebrauchtes Schmierpapier sehr minderer Qualität benutzte. [6] Johan Huizinga wiederum exzerpierte auf den unbeschriebenen Rückseiten seiner eigenen Manuskripte, die er danach zu Zetteln zerschnitt oder zerriss. [7] Üblicher war natürlich der Kauf spezieller Papierformate, etwa von Karteikarten bestimmten Zuschnitts, bestimmter Färbung, bestimmter Marken (so in einer Zettelsammlung, die sich im Nachlass des Mediävisten Adriaan Verhulst, 1929-2002, erhalten hat). [8] Auch Luhmanns berühmter Zettelkasten basierte letztlich auf einem solchen Konsummuster, wobei hier die Verknappungsstrategie in eins fiel mit einem spezifischen Aufbewahrungs- und Indizierungssystem, das seine Notizsammlung eben in eine Art Datenbank umwandelte, die das gesamte in ihr enthaltene Wissen einem gleichmäßigen und simultanen Zugriff öffnen sollte. Diese Beispiele belegen vielleicht den spezifischen epochalen Kontext. Es scheint, als ob die Kontingenzbewältigung im Computer anders funktioniere als in der Zeit des analogen Überflusses (die ja im Übrigen keineswegs beendet ist). In gewisser Weise wäre es daher attraktiv, für die Gegenwart von einer Art Überlagerung zweier Epochen auszugehen, deren Ende jeweils nicht absehbar ist; vorausgesetzt, man legte Epochen nach Maßgabe von Material und Praxis fest und hätte nichts gegen eine Art Polyphonie der Periodisierung.

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Noch eine kleine Abschweifung ins Abstrakte, zum Problem der Materialität der Notiz. Das Verwirrende an der Rede über Schriftgut ist, dass es, wie man sagen könnte, ontologisch überdeterminiert ist. Ein Schriftobjekt gehört in eine Reihe verschiedener Gegenstandsbereiche zugleich. Es ist gegenständlich als materielles Objekt, als semantisch-syntaktisches Konstrukt (das heißt als Text oder Quasi-Text, zum Beispiel in Form einer aufgrund mangelnder syntaktischer Verknüpfung nicht-textuellen Inskription), als Träger pragmatischer Funktionen (zum Beispiel als Speichermedium), als bloßes Anzeichen für einen Zusammenhang von Ideen oder als Indiz für irgendeinen anderen historischen Kontext. Es wird zum Gegenstand im Zusammenhang diverser möglicher epistemischer Verwendungen, die jeweils ihren eigenen Gegenstandsbereich, also ihre Ontologie, abstecken bzw. in solchen bereits vorher abgesteckten Bereichen operieren. Wenn nun aber für eine Untersuchungsrichtung die Materialität einer Notizsammlung thematisch ist und zugleich zum Beispiel die Textualität, dann kommt es zu einer Art Karambolage dieser getrennten Gegenstandsbereiche.

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Als Beispiel kann die Arbeit Mary Pooveys dienen, in der die Entstehung des Begriffs der Tatsache als Korrelat der frühneuzeitlichen Buchführungspraxis angesehen wird; auch die Überlegungen Lorraine Dastons zum Umfang der Tatsache als Ergebnis von bestimmten Formen des Schriftgebrauchs. [9] Die Annahme liegt nahe, dass die Determinanten in dieser Überdetermination zu allem Überfluss unstet sind. Diese Unstetigkeit bildet sich in Begriffen wie dem des "Mediums" und des "Medialen" ab, aber ebenso in dem der "Technik" (bezieht man sich hier eigentlich auf Material, Praxis oder ein der Praxis zugrundeliegendes Schema?). Häufig wird hierbei ein Primat des Materials postuliert; doch könnte man in diesem Postulat auch den Ausdruck einer ontologischen Verlegenheit sehen, die durch eine Hierarchisierung von Gegenstandsbereichen eigentlich gleichen Rechts allenfalls kaschiert wird. Doch ist es schwierig, dieser Situation zu begegnen. Die wissenschaftliche Schriftlichkeit ist (wie andere Schriftlichkeiten auch) ein noch recht neues Untersuchungsfeld, zu dem der vorliegende Aufsatz einen kleinen Beitrag zu leisten anstrebt. [10] Der Bereich der Schreibarbeit wird dabei nicht verlassen; andere Provinzen der Medien- und Technikgeschichte der Geschichtswissenschaften bleiben hier unberührt.

II. Penelopes Webstuhl

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Huizingas Praxis der Notizführung erinnert an das Leichentuch, das Penelope für den Laërtes zu weben vorgab: der Text (das Gewebe) wird nach getanem Tagwerk wieder aufgetrennt, auch wenn er zu diesem Behuf zunächst zur Rückseite werden muss. Dieses Verfahren der Verknappung ist meinem Eindruck nach ungewöhnlich, weil es zur Vernichtung der Werkmanuskripte (nicht aller, aber doch sehr vieler) geführt hat. Bei Huizinga ist die Notiz nicht einfach eine instrumentelle Textform, die letztlich dem Werkmanuskript dient, sondern zwischen beiden Textformen wird (mindestens im Idealfall) eine Art Kreislauf etabliert. Das Zerschneiden der Exzerpte, die anhand einer linearen Lektüre (so steht zu vermuten) auf den Rückseiten der Manuskriptblätter niedergeschrieben wurden, war ein Akt der bewussten Vereinzelung und Fragmentierung der exzerpierten Bestandteile des gelesenen Texts. Und dieser Akt fragmentierte zugleich den eigenen, abgearbeiteten, publizierten Text.

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Interessanterweise richtet sich diese Fragmentierung gegen das überhaupt Veröffentlichte. Falls es eine Art Symbolpolitik der Notiz gibt, dann weist Huizingas Praxis vielleicht in Richtung einer Wissenschaft, die ohne letztgültige Resultate auszukommen hat. Die Notiz fixiert zwar das einzelne Fragment, doch die Kombination der Fragmente im Fließtext, sei es der eigene, sei es der fremde, bleibt immer nur vorläufig. Es gibt einen gewissen Atomismus des Verfahrens (aber irgendetwas muss man schließlich notieren). Anders als es zum Beispiel bei Ganshof der Fall war, zielte Huizinga allem Anschein nach nicht darauf ab, durch die Notizführung vordringlich eine bestimmte Art Gegenstand, etwa "Tatsachen", zu erfassen. Die "Objekte" seiner Notizen variierten, und entsprechend schwanken die Notizzettel in ihrer Größe; sie richten sich vollständig nach der Länge des Notats (anders als beispielsweise bei Ganshof). Häufig hielt Huizinga Thesen, überraschende "Gedanken" und Zitate in den Texten fest, die er exzerpierte – alles, was während der Lektüre thematisch wurde und mutmaßlich dem künftigen eigenen Text dienen konnte, der auf diese Weise in den gelesenen hineinprojiziert wurde. Zu bedenken bleibt freilich, dass die Notizen auch eine Funktion in der akademischen Lehre erfüllten. Doch auch der in diesem Kontext entstehende, mündliche Text ist ein Text, der vor eine bestimmte wissenschaftliche Öffentlichkeit tritt. Insofern lässt sich vielleicht die Zirkulation zwischen privater und öffentlicher Sphäre als grundsätzliches Modell der Notizen Huizingas festhalten.

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Zur Kontextualisierung ist ferner festzuhalten, dass Huizinga als Seiteneinsteiger der Geschichtswissenschaft anders als die meisten Fachgenossen nicht die Abstellung seiner Forschungsinteressen auf die methodologische Sprache der Geschichtswissenschaft eingeübt hatte. Er war ursprünglich vergleichender Sprachwissenschaftler und trieb Sanskritstudien, schulte sich jedoch in den Jahren um 1900 zum Mittelalterhistoriker um, weil er sich in der Orientalistik und in der vergleichenden Sprachwissenschaft mit seinen literatur- und kulturhistorischen Interessen keine Karriere versprechen konnte. [11] Wahrscheinlich gerade deswegen setzte er sich viel weitgehender mit Problemen der historischen Methode auseinander als viele Zeitgenossen. Eine Koalition methodologischer Begriffe und schreibpraktischer Eigenheiten, wie sie zum Beispiel in der Notizführung Ganshofs prägend wirkte, wo das Verständnis von "Tatsachen" auf den Umfang der Notizzettel verwies, entstand bei Huizinga nicht.

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Interessanterweise ähnelt Huizingas Notizführung in frappierendem Ausmaß derjenigen des von ihm bewunderten Jakob Burckhardt, wie sie Stella von Boch beschrieben hat. [12] Auch Burckhardt listete Exzerpte und aphoristische Beobachtungen auf einzelnen Blättern auf und schnitt diese nachher auseinander. Auch bei ihm ergaben sich längliche, schmale Papierstreifen, teils mit einzelnen Textzeilen, teils mit etwas längeren Absätzen. Im Unterschied zu Huizinga jedoch arrangierte Burckhardt seine Papierschnipsel in Form einer definitiven Ordnung und klebte sie in dieser Abfolge in Exzerpierbücher ein. Auch benutzte er allem Anschein nach nicht die Blätter, auf denen die eigenen Werkmanuskripte niedergeschrieben waren. Dieser historisch vielfach belegten "cut and paste"-Technik der Herstellung des Exzerptbuches steht bei Huizinga eine reine "cut"-Technik gegenüber. Die einzelnen Schnipsel wurden entweder anhand thematischer Zugehörigkeit oder sogar unter dem Stichwort des ursprünglich exzerpierten Texts zusammengehalten und in kleinen Briefumschlägen aufbewahrt (in der Leidener Bibliothek sind heute die Originalbriefumschläge durch archivalische Umschläge ersetzt). Gelegentlich bildete Huizinga noch Unterabteilungen, indem er kleinere Zettelgruppen mit Büroklammern zusammenheftete.

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Die Exzerpte dienten Huizinga insgesamt überwiegend zur Vorbereitung eigener Fließtexte (manche seiner Notizen sind durch eine vertikale Durchstreichung als erledigt, abgearbeitet bezeichnet). Es ist davon auszugehen, dass er zum Schreiben wissenschaftlicher Publikationen die einzelnen Schnipsel auf der Schreibtischfläche auslegte und in eine Anordnung brachte, mit deren Hilfe er dann den eigenen Text komponierte. Das bedeutet jedoch auch, dass der Akt des Zerschneidens nicht einer Vorratshaltung des Exzerpts diente, wie es offenbar bei Burckhardt der Fall war. Huizinga exzerpierte, soweit man sagen kann, eher für das konkret vorliegende Projekt als für die vage Idee, das ferne, möglicherweise einmal zu erarbeitende Projekt.

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Bei beiden Autoren verbanden sich die Notizen mit einer spezifischen Art von Zeitlichkeit. Während bei Burckhardt eine recht deutliche, ins Unbestimmte weisende Zukunftsorientierung zum Ausdruck kommt, ist das bei Huizinga weniger klar. Der Exzerptschnipsel verweist vielmehr (in der Art eines indexikalischen Zeichens) auf einen konkreten Schreibprozess, der als einzelnes Ereignis konzipiert werden kann: die Produktion eines spezifischen Texts. Das Ereignis ist eine ontologische Einheit, ein Individuum. Es hat dabei die Eigenschaft, als temporale Einheit eine Gegenwart festzulegen. Was wir als gegenwärtig beschreiben, ist üblicherweise an die Einheit eines Ereignisses gebunden; und was wir zunächst für ein Ereignis zu halten gewillt sind, ist das, was wir als Gegenwart zu erfahren gewillt sind. Zum Beispiel ist formallogisch betrachtet auch die Bezeichnung "Dreißigjähriger Krieg" der Eigenname eines einzelnen Ereignisses, doch wird man in den meisten pragmatischen Zusammenhängen nicht bereit sein, diesem Umstand auch Rechnung zu tragen. In den meisten Kontexten ist es nicht statthaft, eine Dauer von 30 Jahren als gegenwärtig anzusehen, und entsprechend wird auch ein "Ereignis" wie der Dreißigjährige Krieg eher als Zusammensetzung einer großen Zahl einzelner Ereignisse angesehen.

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Bei Burckhardt ist die Unterbrechung der Kontinuität zwischen Lektüre und Niederschrift mitgedacht; die Verzögerung, der Aufschub, der Abbruch des Denkprozesses wird erwartet. Möglicherweise war es diese spezifische Zukunftsorientierung, die Burckhardts Schritt zur dauernden Fixierung einer Anordnung der Schnipsel motivierte. Als Distinktionsmerkmal eines Exzerptbuchs kann vielleicht gerade diese Tendenz zur fixierten Ordnung gelten, die einer losen Fragmentsammlung wie der Huizingas fehlt. Dann sollte man jedoch auch den nächsten Schritt gehen und die fragliche Tendenz mit Verweis auf die spezifischen Erwartungshorizonte begründen, die sich mit diesen beiden Formen des Exzerpts jeweils verbinden. Darin läge mit anderen Worten die eigentliche Unterscheidung. Aber in beiden Fällen würden Einheiten zerstört: bei Burckhardt die des Bearbeitungsprozesses eines je gegebenen Projekts; bei Huizinga dagegen die zeitliche Kontinuität des Arbeitslebens.

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Dem Zerschneiden (buchstäblich oder im übertragenen Sinn) antwortet in der Notizführung die Kombination, die auf eine Sequenzierung hinausläuft, ohne dass dabei jedoch Deckung mit dem Fließtext hergestellt werden könnte. Wenn man sich im Fall Huizingas vorstellt, dass die Sequenz der Schnipsel neben dem frischen Blatt für das zu schreibende Manuskript zu liegen kommt, [13] besteht zunächst zwischen der einen und der anderen Seite keine Kontinuität, die über die des konkreten Schreibakts hinausginge. Allerdings ist dieser Akt seinerseits abhängig von einem ganzen Knäuel von Gepflogenheiten, in denen sich Vereinzelungen und Verkopplungen über die Aktivität und die Resultate des Schreibens verteilen. [14] Diese Gepflogenheiten sind räumlich, formal und materiell fassbar; und eben auch temporal, zum Beispiel als Wiederholung, also Reprise eines Abgetanen, Abgeschlossenen. Huizinga inszeniert den Abschluss eines Schreibprozesses geradezu, indem er seine Manuskripte in Rückseiten verwandelt und zerschneidet.

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Burckhardts Vorhalten der Notizen für die Zukunft dagegen deutet der Tendenz nach auf ein Verständnis der Praxis des Schreibens als eines einheitlichen Zusammenhanges, unabhängig vom einzelnen Werk; eine Abwendung des Bruchs, ein Verfahren aktiver Überbrückung zur Herstellung von Dauer. Zwar hob auch Huizinga seine Notizsammlungen in Briefumschlägen auf. Doch diente diese Form der Ablage wohl nur selten dem Schreiben weiterer Arbeiten und entsprang mutmaßlich einem unspezifischen Bedürfnis, nichts möglicherweise noch Brauchbares zu verlieren; Absicherung gegen eine unerwartete Rückkehr des Vergangenen in der Zukunft, nicht aber Vorbereitung auf zukünftiges eigenes Handeln. In beiden Fällen schuf sich die Schreibpraxis ein System spezifischer temporaler Eigenschaften. Solche Eigenschaften verlangen nach einer Trägerschaft, einem spezifischen Bereich von Gegenständen, die sie tragen können. Hieraus begründet sich eine Art Wechselverhältnis, in dem sich die Zeitlichkeit und ihr Gegenstandsbereich gegenseitig konstituieren. Es entsteht eine partikulare Ontologie der Schreibpraxis und im Verbund damit eine Eigenzeitlichkeit dieser Praxis. Es scheint jedoch, dass der einzelne Schreibvorgang, die einzelne Geste der Niederschrift dafür nicht ausreicht. Ein Muster ist erforderlich, eine kritische Masse an Zuschreibungen temporaler Eigenschaften.

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Dieses Argument liefe darauf hinaus, beide Notizführungen als Praktiken der Durchbrechung einer gegebenen temporalen Ordnung – nämlich einer sequenziellen, sei es in Form eines zusammenhängenden Arbeitsgangs oder eines Fließtexts – zu beschreiben; insofern als "Unordnungssysteme", die ihren Sinn darin haben, das gegebene Arrangement zu durchbrechen. Etwa in der Art, in der Penelope durch das nächtliche Wiederauftrennen des Gewebes ihre tägliche Arbeit und den Produktionsprozess insgesamt zunichtemacht, so dass nur ein Haufen loser Fäden (ähnlich den Notizen) übrigbleibt und der gegebene Gang der Dinge, hier die Wiederverheiratung der begüterten Witwe, aufgehalten wird. Die Temporalität, die jeweils durch das Verfahren etabliert wird, ist gegen eine andere gerichtet. Sie grenzt sich ab; ein Moment der Herstellung von Unordnung, insofern jeweils eine Ordnung ge- oder zerstört wird.

III. Zitate und Pointen

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Zur Verfeinerung dieser groben Darstellung – und auch zu ihrer Bestätigung – im Folgenden einige Bemerkungen zum Detail von Huizingas Notizen: In den frühen Zettelsammlungen kommen gelegentlich unzerschnittene Exzerptseiten vor, so zum Beispiel in einer kleinen Sammlung von Aufzeichnungen zu einer Italienreise 1899, für die Huizinga "L'Italie mystique" des französischen Kunsthistorikers, Literaturkritikers und Reiseschriftstellers Emile Gebhart gelesen hatte. Die Funktionalität dieser Notizen für die eigentliche wissenschaftliche Arbeit war nicht unmittelbar gegeben; eine Rekombination war nicht nötig; und vermutlich blieben sie daher unzerschnitten. [15] Biographisch fallen sie in die Periode, in der Huizinga sich zum Mediävisten umschulte. Auf die Italien-Notizen folgt im selben Konvolut eine der Schrift nach zu urteilen ältere Sammlung von Exzerpten aus einer Arbeit ("Het Buddhisme") des berühmten Sprachwissenschaftlers Hendrik Kern, der in Huizingas Leidener Studienzeit sein Lehrer war; ferner von Exzerpten aus "Buddha", dem 1881 erschienenen Standardwerk des deutschen Indologen Hermann Oldenberg. [16] Diese Notizen sind ebenfalls unzerschnitten und weisen auch nicht die kleinen, zentrierten, waagerecht abteilenden Striche der Gebhart-Notizen auf, die als Vormarkierung des Schnitts gelten können.

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Die Kern-Notizen enthalten stattdessen rote Unterstreichungen, Spuren einer späteren Bearbeitung, die darauf hindeuten, dass die Notizen für Vorlesungen gebraucht wurden. Huizinga überschrieb dieses ursprünglich mit Bleistift verfasste Exzerpt sogar mit schwarzer Tinte, um die Lesbarkeit zu erhöhen, ein weiteres Indiz für die Verwendung in der Lehre. Die Oldenberg-Notizen sind dagegen – wie die meisten anderen Notizen – mit Bleistift verfasst. Aus dem ersten Blatt hat Huizinga einen einzigen Abschnitt herausgeschnitten, den er jedoch mit dem Rest des Blattes zusammen verwahrte. Für den Notizbestand aus der Zeit um 1900 gilt generell ein gewisser Mangel an Systematik. Die Gewohnheiten haben sich noch nicht eingeschliffen. Die Papierwahl variiert noch. Die Notizen werden teilweise noch auf ansonsten ungebrauchte Blätter geschrieben. Das zerschnittene Blatt in den Oldenberg-Exzerpten stellt schon insofern ein Problem dar, als die Notizen auf der Rückseite fortgesetzt worden waren. Entsprechend trägt der Schnipsel einen Vermerk: "bewaren z[ie] o[mme]z[ijde]", also "aufheben, siehe Rückseite". Solche Störfälle verschwinden aus Huizingas Praxis späterhin ebenso wie aus derjenigen Ganshofs.

<20>

Eine in manchem repräsentative Sammlung ist die Sammlung von Notizen zur Geschichtstheorie, die Huizinga in den Jahren 1907/08 für Einführungsvorlesungen an der Universität Groningen anlegte. [17] Diese Notizen sind lose Papierstreifen, die in einem Konvolut von 36 Briefumschlägen aufbewahrt wurden. Der erste dieser Umschläge enthält Schnipsel mit bibliographischen Angaben. Die folgenden enthalten Zettel mit Thesen und Zitaten, die jeweils einem bestimmten Thema zugeordnet sind (es folgt in derselben Gruppe eine zweite Sammlung gleicher Art mit 37 Umschlägen). Zum Beispiel exzerpiert Huizinga – im Zusammenhang von Lektüren zum Thema "Art der historischen Begriffsbildung" – Wilhelm Wundts "Logik" und zitiert (nach der kursorischen Stellenangabe):

Es wird daher überhaupt nur möglich, sie [d.i. die Probleme der Geisteswissenschaften, H.T.] der Analyse zu unterwerfen, indem man sich theils hypothetische Voraussetzungen gestattet, theils aber ein weitgehendes Abstractionsverfahren ausübt, bei welchem es nicht selten dahingestellt bleiben muss, ob dabei nicht auch von solchen Bedingungen abstrahirt worden sei, die für den Zusammenhang der zu erklärenden Erscheinungen von wesentlicher Bedeutung sind.

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Den Zeilen Wundts fügt er rechts unten gedrängt hinzu: "Aber mit diesen Abstraktionen bin ich nicht mehr auf rein historischem Gebiet". [18] Huizinga operiert hier ganz im Rahmen einer Geschichtsauffassung, die Abstraktion allein im "Begriff" und Konkretion allein in der sinnlichen Erfahrung sucht und überdies meint, eine begriffs- und abstraktionslose (oder zumindest auf legitime Weise begriffsarme) Position erreichen zu können. Keineswegs steht Huizinga außerhalb der üblichen Tendenzen der Zeit. Allerdings ist der Status des kommentierenden Zusatzes unklar. Zusätze dieser Art treten in den Notizen nicht übermäßig häufig auf. Sie zeugen als Ausnahmen von einer Tendenz, das Zitat und die Auseinandersetzung mit dem Zitat voneinander zu trennen. Bekanntlich verfolgte Huizinga eine eigenwillige, stark von seinem Konzept der "sensatie" (Empfindung) geprägte Auffassung nicht auf Begriffliches reduzierbarer Geschichte; insofern las er die erkenntnistheoretischen Autoritäten der Zeit in einer eher oppositionellen Haltung. Ein weiterer Zettel aus derselben Sammlung:

gegen Bernh[eim] 127. von der Geschichte gilt in höherem Maße als von anderen Wissenschaften, dass die Tätigkeit eine "künstlerische" [im Original deutsch] ist, weil sie mehr mit komplexen Vorstellungen als mit Begriffen operiert. [19]

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Auch hier, in der Gegenposition zu Bernheim, das knappe Urteil, der Hang zur Sentenz, zum Gedächtniszeichen, zum Gemeinplatz. Die Komplexität, die Huizinga auch in der unmittelbaren Umgebung des Wundt-Zitats vorgefunden haben könnte, wird gegen Bernheim gewendet und dem eigenen Ansatz nutzbar gemacht. Die Notizen sind untereinander verbunden. Etwa auf einem nicht exzerpierenden Zusatz:

gut, die Tätigkeit ist nicht rein "künstlerisch" [im Original deutsch], aber der Genuss, ist dieser es auch nicht? [20]

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Und bekräftigend auf einem anderen Schnipsel:

Also längst nicht alles logische Tätigkeit.
Phantasie nötig. [21]

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Die Verbundenheit der Notizen wird durch die Wahl einer Art dialogischer Form hergestellt. Streng genommen scheint es kaum einleuchtend, dass die letztzitierte Schlussfolgerung zu notieren eigentlich notwendig war, jedenfalls hat sie wahrscheinlich keine mnemotechnische Funktion: Kaum wäre dieser Hauptgedanke seiner Geschichtsauffassung Huizinga wieder entfallen. Es liegt daher nahe, dass die Funktion solcher Notate die Vereinheitlichung, die Herstellung einer inneren Verbundenheit in der Notizsammlung als einem einheitlichen, zusammengehörigen Textkorpus war. Die Zettel bilden eine Art Selbstgespräch des Autors ab; und sie suggerieren den Monolog der Vorlesung, der sie jedoch in der vorliegenden Form kaum gedient haben können. Einen Dialog mit den Autoren der gelesenen Werke jedoch suggerieren sie nicht. Die literarische Form, nach der diejenigen Notate streben, die keine Zitate enthalten, ist am ehesten die des Aphorismus. Die Notizsammlung würde so gesehen einem etablierten literarischen Format folgen, der Aphorismensammlung, die ihre einzelnen Komponenten im Grunde zu Scheinfragmenten macht.

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Der Eintritt der Notizsammlung in den eigentlichen Schreibprozess war keineswegs ein einfacher Übergang. Angesichts der großen Zahl von Notizen kann der Vorgang nur in einem sehr eng gesteckten Rahmen nachvollzogen werden; zu diesem Zweck will ich einen Absatz (456f.) aus dem Rezensionsaufsatz "Twee worstelaars met den engel" (Zwei, die mit dem Engel ringen) von 1921 untersuchen, in dem sich Huizinga mit Oswald Spenglers "Untergang des Abendlandes" und H. G. Wells' "The Outline of History" auseinandersetzt. [22] Es handelt sich um einen Absatz, in dem Huizinga Spenglers Sicht auf die "arabische Kultur" referiert und kritisiert. In der Notizsammlung entspricht diesem Absatz ein Umschlag "Arab. cultuur", in dem sich eine Gesamtmenge von 24 Notizzetteln befindet. [23] Von diesen Zetteln weisen acht vertikale Durchstreichungen auf (einer von diesen Zetteln umfasst einen etwas längeren Text und enthält zwei separate Streichungen unter Aussparung einer Mittelpartie). Für die Vorstellung, dass Huizinga seinen Text anhand einer Anordnung der Notizen gliederte, ist diese Quote etwas enttäuschend, zumal der Zettel mit den zwei Durchstreichungen noch andere Passagen des Aufsatzes betrifft, für die allein die durchgestrichenen Passagen relevant sind.

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Die Notizen sammeln vor allem Zitate bzw. haben mnemotechnische Funktion, in dem sie Spenglersche Gedanken stichwortartig festhalten – im Wesentlichen wird durch die Notizen also Material vorbereitet. Von den abgestrichenen Schnipseln enthält allerdings einer die Hauptpointe des Absatzes, dass Spengler die von ihm postulierte "arabische Kultur", die den Zeitraum von der Zeitenwende bis zum Hochmittelalter abdecken solle, auch gleich als "Strzygowski-Kultur" hätte bezeichnen können; "denn wir haben es hier zu tun mit einem Gedankenrausch, hervorgerufen durch Strzygowski-Injektion". [24] Gerade durch die Vorwegnahme von Pointen, die als Zielpunkte einzelner Passagen des Aufsatzes dienen, hatte die Notizsammlung auch eine Funktion für die Vorstrukturierung des Texts. Die tentative Setzung von Zielpunkten diente dazu, den Stoff vorläufig fassbar zu machen. Die Orientierung der Notizsammlung auf den Text hin zeigt sich vor allem in diesem Vorgang; die Vorbereitung des Materials bestand nicht allein in der Zitatauswahl, sondern auch in einer Art Vorausdenken einzelner Textpassagen.

<27>

Die Durchstreichung des Notizzettels bedeutet nicht einfach die Aufnahme der Notiz in den Text. So findet sich zum Beispiel ein Schnipsel, auf dem zu lesen steht:

104. das Pantheon die früheste aller Moscheen.

104 Mithras, Chr[isten]dom en Neoplat[onisme] is alles Arab[ische] Cultuur. [25]

<28>

Spenglers Bemerkung über das Pantheon findet sich sowohl im hier betrachteten Absatz als auch in einer anderen Passage, wo sie ausführlicher seziert wird (459); die Notiz nimmt die Kritik nicht ausdrücklich vorweg; zu offensichtlich ist für den Fachhistoriker die Antwort auf Spenglers bizarre Konstruktion. Mithras wird im Spengler-Teil des Aufsatzes nicht erwähnt, das Christentum und der Neoplatonismus freilich schon. Dennoch weist der Schnipsel nur eine einzige Durchstreichung auf (sowie den waagerechten Strich in der Mitte, der darauf verweist, dass Huizinga den Zettel ursprünglich noch hatte teilen wollen). Eine restlose Übernahme war mit dem vertikalen Strich nicht gemeint. Der Mithraismus wurde als überschüssiges Detail ausgeschieden. Die Herstellung von Überschuss war in Huizingas Notizführung normal, vielleicht sogar bezweckt. Die Durchstreichung wurde im Übrigen nicht konsequent angewandt. So finden sich auch auf manchen nicht in dieser Art markierten Schnipseln Gedanken oder Zitate, die im Text wiederkehren. Andererseits enthält der Text jedoch auch zahlreiche Zitate und pointenhafte Zuspitzungen, die von den Notizen nicht antizipiert werden. Ein weiterer Absatz auf Seite 450 sammelt ebenfalls Zitate zu Spenglers Sicht der "arabischen Kultur"; dieser Absatz nimmt überhaupt keinen Bezug auf die Notizsammlung. Hier übersetzt Huizinga die Zitate, im Absatz auf Seite 456f. nicht – der Schreibprozess belegt offensichtlich verschiedene Muster des Exzerpierens und Zitierens. Er wird allerdings vom Überschussprinzip der Notizführung selbst dort mitbestimmt, wo die Notizen im Einzelnen gar nicht verwendet werden. Dieses Überschussprinzip kann auch zu Dopplungen in der Notizsammlung führen, wie im Fall des hier betrachteten Ausschnitts eine besonders krasse Sottise Spenglers, der zufolge Diokletian das Kalifat vollendet habe. Das Zitat findet sich auf einem durchgestrichenen separaten einzeiligen Schnipsel und noch einmal auf einem etwas größeren Zettel zusammen mit noch einem weiteren Zitat.

<29>

Der argumentative Kern des Absatzes auf Seite 456f. findet sich in den Notizen nicht ausgearbeitet, jedoch in bestimmter Weise vorbereitet:

Man fragt sich für einen Moment, warum Spengler, wenn er denn all diese Erscheinungen unter einen Hut bringen wollte, nicht lieber von semitisch-hellenistischer Kultur gesprochen habe. Doch die Erklärung liegt auf der Hand: auf diese Weise hätte er erkannt, dass wir die Kulturperiode, welche die ersten sieben, acht Jahrhunderte unserer Zeitrechnung ausfüllt, nur als Zusammentreffen und wechselseitige Durchdringung von Kulturtraditionen verschiedener Herkunft auffassen können. Und gerade dies will er nicht erkennen […] [26]

<30>

In den Notizen findet sich eine Entsprechung im Anschluss an ein längeres Exzerpt zur "arabischen Seele" und ihrem "magischen Weltgefühl", das Huizinga nicht in dieser Form übernommen hat. Als Reaktion auf das Zitat hält er auf dem Notizzettel fest: "Das ist nicht übel. Hätte er anstelle von arab[isch] gesagt: hellenist[isch].semitisch, dann wäre es gar so verrückt nicht." [27] Die Zuspitzung auf die begriffliche Alternative ist also in den Notizen vorhanden. Das sarkastische (und wahrscheinlich als zu informell empfundene) "nicht gar so verrückt" findet sich im veröffentlichten Text jedoch nicht. Dort steht stattdessen ein argumentativer Ausbau: die semitisch-hellenistische Kultur sei als Hybridbildung verschiedener Traditionen zu betrachten, was Spenglers gesamtem Ansatz widerspreche. Dieser Gedanke wäre aus den Notizen allein nicht zu erschließen. Das Beispiel zeigt, warum nicht genug damit gesagt ist, wenn man die Notizen als eine "Vorstufe" des veröffentlichten Texts bezeichnet. Vielmehr bilden die Notizen einen eigenständigen, fragmentierten Text, der das Ergebnis einer Praxis des Exzerpierens und Pointensetzens in Vorbereitung auf das Schreiben eines Fließtexts ist.

<31>

Beide Texte zeichnen sich sowohl durch Überschuss als auch durch Lücken gegenüber dem jeweils anderen Text aus. Es besteht eine Art Hiatus zwischen beiden Texten, die dennoch durch die Arbeitspraxis insgesamt aufeinander bezogen sind. Der Überschuss, der jeweils produziert wird, ist ein Überschuss vornehmlich mit Blick auf die jeweils andere Form der Textproduktion, die in dieser Praxis auftritt. Der Hiatus bezeichnet Vermittlung, nicht Trennung. Das heißt nicht, dass die Notizführung als unselbständige Textproduktion zu betrachten wäre, die erstens teleologisch auf den Fließtext orientiert wäre und zweitens nur im Zusammenhang mit letzterem Bedeutung gewinnen könnte. Vielmehr besteht einfach eine durch ein Beziehungsgeflecht geschaffene Einheit der Arbeitspraxis, die eben beide Formen der Textproduktion umfasst. Es wäre zu kurz gedacht, wollte man hier einfach eine Pluralisierung der Praktiken annehmen. Notizen und Fließtext nahmen aufeinander Rücksicht.

IV. Die Zeit des Vor und Zurück und die historische Zeit

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Rüdiger Campe hat jüngst für Lichtenbergs "Sudelbücher" eine Bewegung des Vorgreifens und Zurückgreifens in der Schreibpraxis beschrieben: Das Notizheft konstituiere "die Form, die das Schreiben in seinem Verlauf und einschließlich der Möglichkeiten ist, diesen Verlauf in sich selbst umzukehren oder vorauszuspulen und ihn darüber hinaus im Nachhinein mit Referenzen auf Früheres und Späteres zu versehen." [28] Die Verlaufsform des Schreibens wird also in eine bestimmte Form überführt, in der sie überhaupt erst zeitlich gefasst ist, das heißt eine zeitliche Partikularität gewinnt, weil sie einen begrenzten Gegenstandsbereich gewinnt. Zentral für diesen Vorgang sind die Vorgriffe und Rückgriffe. Durch sie wird das Schreiben als "Verfahren" konstituiert. [29] Die erlebte Zeit des Schreibenden dagegen gehört nicht in diesen Gegenstandsbereich. Der Schreibende tritt zwar als Autor in der Schreibszene in Erscheinung, jedoch handelt es sich hierbei um einen Akteur, der eben in den partikularen Gegenstandsbereich der Schreibszene gehört – vielleicht ist es hilfreich, die Metapher der "Szene" hier fortzuführen und das Schreiben als Stück zu betrachten, in dem der Autor selbst als Figur auftritt. Das Vorgreifen und Zurückgreifen wird sozusagen als zeitliches Verhältnis inszeniert in einer Zeit, die sich von der des Niederschreibens unterscheidet und absetzt. Als Merkmal dieser Absetzung kann gelten, dass die Zeit der Schreibszene vor- und zurückgreifend in beide Richtungen durchquert werden kann.

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Auch Huizingas Notizen inszenieren solche Durchquerungen durch die vorgreifende Setzung von Pointen, die sich in den zukünftigen Fließtext hineinprojizieren, oder durch den Rückgriff auf das in den Notizen skizzierte Urteil, der auch, wie im vorigen Absatz gesehen, korrigierend oder erweiternd sein konnte. Diese verwirrende, nachholende Verzeitlichung des Schreibens durch das Schreiben ist eine Art Selbstinszenierung. Es ist wichtig zu betonen, dass ein solches Verfahren keineswegs notwendiger Bestandteil jeden Schreibens ist; nicht einmal jeder Notizführung, denn nicht alle Notizen stehen zu einem Fließtext in einem Verhältnis gegenseitiger Rücksichtnahme. Der Hiatus zwischen Fließtext und Notizen ist von dieser Warte aus gesehen die Vorbedingung der gegenseitigen Rücksichtnahme; ohne die Unterscheidung wäre das Vor- und Zurückgreifen gar nicht möglich. In Lichtenbergs "Heft E" entsprechen dieser internen Distinktion innerhalb der Schreibpraxis die beiden Schreibrichtungen, von vorn nach hinten und von hinten nach vorn, mit je unterschiedlicher Paginierung. Auch bei Ganshof war eine solche Dynamik zu beobachten, insofern er zwischen zwei Typen von Notizzetteln hin- und hersprang. Der Begriff der "Rücksichtnahme" scheint mir in diesem Zusammenhang deswegen attraktiv, weil er über das bloße Vor- und Zurückgreifen hinaus einen ethischen Gehalt vermittelt, der sich mit Gepflogenheiten der Notizführung ebenfalls verbinden konnte (wie ich am Fall Ganshofs ausführlicher diskutiert habe).

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Das Phänomen der Temporalisierung durch Rücksichtnahme ist auch epistemisch relevant. Es betrifft die Verfertigung von Wissen beim Schreiben. Die Notizsammlung ermöglichte Huizinga die Konstruktion des Details, die Fülle an Einzelnem, die für seine Arbeitsweise charakteristisch war. Der Überschuss an Zitaten, Beispielen, kleinteiligen Wendungen gestattete in dem hier betrachteten Aufsatz die umfassende Sicht auf Spengler, auf dessen Fremdheit gegenüber der Fülle der historischen Welt, derentwegen seine Sicht der Geschichte abzuweisen war:

Spengler ist gescheitert, weil er zwei Gedankenwelten verbinden wollte, zwischen denen es keine andere Brücke gibt als den Regenbogen. In der tiefsten Tiefe seines Geistes ist er zuhause im Mystischen, in jenem Gebiet, wo wir wissen, dass in Wahrheit alles Geschehen "Schicksal" ist, dass das Verlorene doch noch besteht und Zahl und Maß ein bloßer Wahn sind. Doch in jenem Gebiet haben die historischen Dinge keine Namen mehr. Indem er die Geschichte mit den Mitteln der Mystik erklären wollte, hat Spengler eine absurde historische Denkwelt geschaffen. Eine Welt, in der jedes Geschehnis allein das Wirklichwerden von Bedeutungen bezeichnet, die als Ursymbol der Kultur mitgegeben waren; allein das Wirklichwerden, nicht einen Keim oder Nährboden für das Nachkommende. Also eine Welt, die nach jedem Augenblick abbricht. In einer solchen Welt lebe ich nicht, das weiß ich sehr gewiss.
Spenglers Buch hat auf mich gewirkt wie ein homöopathisches Heilmittel, mich ein wenig befreit von eigener düsterer Verzweiflung über die Zukunft unserer Kultur, indem seine hoffnungslose Sicherheit mich fühlen ließ, dass ich die Hoffnung noch besaß und das Nicht-Wissen. Doch mag ihm die Ehre bleiben, mit dem Engel gerungen zu haben. [30]

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In der Bildlichkeit, die Huizinga hier verwendet, halten die Notizen die "Namen" der historischen Dinge fest, die in Spenglers unterschiedslosem "Schicksal" dem Vergessen anheimgefallen sind. Die Historie steht hier auf Seiten der Vereinzelung der Dinge im Gegensatz zu einer geschlossenen "Denkwelt" aus "Ursymbolen", die immer nur neue Instantiationen durchlaufen. Spengler eliminiert die Individualität und zerstört die Zeit. Huizingas Historie verfährt genau in der entgegengesetzten Richtung. Sie schafft eine kontinuierliche Zeit, die "Welt", in der der Autor "lebt" und die nicht "nach jedem Augenblick abbricht". Textuell ist diese Welt nur darstellbar, wenn sie durch eine Fülle von Einzeldingen evoziert wird. Die Welt der Historie ist eine Welt der Einzeldinge, nicht weil sie aus diesen Einzeldingen besteht, sondern weil die Einzeldinge nicht als Monaden dastehen. Die Einzeldinge verweisen auf einen über sie selbst hinausreichenden, umfassenden Zusammenhang. Dieser Zusammenhang ist temporal, so dass "wir" in einer kontinuierlichen Welt leben können; nicht allein deswegen, weil die "historischen Dinge" etwa in einem kausalen Zusammenhang stünden. Zwar können sie sich aus "Keimen" entwickeln (als Einzeldinge) oder anderen Prozessen förderlich sein (als "Nährboden"). Aber mindestens ebenso wichtig scheint zu sein, dass Bedingungen herrschen, unter denen die historischen Dinge einen "Namen" haben können.

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Der "Name" steht hier wohl als pars pro toto für sprachliche Bezeichnungen, für Benennbarkeit; zum Beispiel sowohl dafür, als Mitglied einer Klasse unter einen Begriff zu fallen, als auch dafür, als Individuum mit einem Eigennamen versehen werden zu können. Das ist aber gerade die ontologische Aktivität eines theoretischen Unternehmens: Es werden Arten von Gegenständen bestimmt. Spengler unterlässt diese Bestimmung; deswegen gehört er nicht unter die Historiker. Die Kontinuität der Welt der Historie ist dann aber nicht oder nicht allein durch kausale Vernetzung gewährleistet, sondern auch dadurch, dass die Arten von Gegenständen, die in ihr auftreten, einen einheitlichen Bereich, eine Totalität bilden. Eine solche Totalität muss nota bene nicht allumfassend sein; es geht vor allem darum, dass dieser Bereich ein Ganzes bildet. Die Multiplikation von "Welt" in der zitierten Passage weist auf dieses Problem hin. Huizinga verwendet "Welt" ganz selbstverständlich im Plural ("Gedankenwelten") oder in einem unbestimmten Singular, der die Möglichkeit des Plural zulässt ("in einer solchen Welt…"). Insgesamt entspricht also das Verfahren der Konstitution einer temporal einheitlichen "Welt" durch "Namen"-tragende Dinge genau dem Verfahren der Konstitution von Zeit durch einen Gegenstandsbereich, das für partikulare Temporalitäten grundlegend ist. Die "Welt", von der Huizinga spricht, ist die des spezifischen Gegenstandsbereichs der historischen Zeit, die gegen die Zumutungen der Spenglerschen Spekulationen und symbolischen Abstraktionen verteidigt wird.

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Die Pointe der zitierten Passage liegt darin, dass Huizinga die Kontinuität zwischen der geschichtlichen Zeit und seiner Gegenwart betont. Dasselbe gilt für die Zukunft "unserer Kultur"; und zugleich für unser Nicht-Wissen über die Zukunft, jenen klassischen Topos, den Karl Löwith als Zentrum der modernen Auffassung von Historizität bestimmte: Allein die göttliche Offenbarung der Zukunft beseitigt das Nicht-Wissen, auf dem Huizinga so nachdrücklich beharrt. [31] Mit dem Engel hat Spengler nur gerungen. Offenbart worden ist ihm nichts. Bis die Offenbarung stattfindet, bleiben wir auf die Historie verwiesen; und damit auf das Detail und das Notieren des Details und die Schreibszene, in der die Notizführung stattfindet, und auf bessere Brücken als den Regenbogen (das Symbol für Gottes Kontrakt mit Noah, sicherlich so auch im Metaphernfundus Huizingas, der aus einer Familie mennonitischer Prediger stammte). Huizinga macht sich den post-theologischen Gehalt der Geschichtsphilosophie zunutze.

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Das historische Detail ist Detail, indem es auf ein Ganzes verweist, das sich als Totalität dem Zugriff des historischen Wissens entzieht. Es ist nicht Detail eines klar vor Augen liegenden Ganzen; und nicht Detail einer Ordnung. Im Gegenteil soll das Detail gerade das unüberblickbare Chaos der Geschichte, die große Unordnung evozieren. Insofern zielt die Notizsammlung eben auch nicht auf eine Ordnung des aus der Lektüre gezogenen Wissens. Es handelt sich vielmehr um ein Verfahren, mit dessen Hilfe die Unordnung der Geschichte in den Text der Historie übersetzt wird. Die enorme Zitatdichte der Spengler-Rezension verfolgt dabei das entsprechende Ziel zu zeigen, wie schwierig es überhaupt sei, in den enormen Irrtum, die hoffnungslose Verwirrung der Spenglerschen "Gedankenwelt" hineinzufinden (nicht zufällig hier der Gebrauch des Kompositums mit "Welt"). In diesem Zusammenhang erfüllt die Notizsammlung bei Huizinga eine signifikante Funktion bei der Herstellung des historischen Wissens (auch, wenn es in diesem Fall nur Wissen über Spengler ist).

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Die Notizführung verweist also auf zwei partikulare Temporalitäten. Dies macht die Angelegenheit ein wenig kompliziert. Einerseits wird in den Notizen, im Vor und Zurück, im Gebot der gegenseitigen Rücksichtnahme von Fließtext und Zettel, eine Temporalität des Schreibens etabliert. Die Nicht-Identität des Autors (als Akteur innerhalb dieser Temporalität) mit dem Schreiber ist ein Indiz dafür, dass hierbei ein spezifischer Gegenstandsbereich hervorgebracht wird. Zugleich wird mithilfe der Notizen und innerhalb des Rahmens der Schreibszene eine weitere Temporalität etabliert: die der historischen Zeit, die durch die Fülle der "historischen Dinge" konstituiert wird. Die historische Zeit ist das spezifische Signum der Geschichtswissenschaften. Es ist für sich betrachtet aufschlussreich zu sehen, wie eine Technik des Gebrauchs von Schere, Papier und Tinte mit ihr im Zusammenhang steht. Doch ist Huizinga vielleicht zu optimistisch, wenn er sich sicher ist, in der historischen Zeit zu leben. Denn auch die historische Zeit ist keine "natürliche" Zeit (falls es eine solche gibt), sondern nur eine partikulare Temporalität, eine spezifische Ordnung und ein begrenzter Bereich von bestimmten Gegenständen. Die Zeit der Schreibszene enthält den Autor als Akteur. Auch die historische Zeit ist dazu fähig, doch bleibt die Frage, ob zwischen diesem Autor und dem "Ich", das Huizinga in die historische Zeit stellen möchte, eine andere Brücke gespannt ist als der Spenglersche Regenbogen. Denn der Autor kann "Ich" sagen und auf seinem "Leben" beharren, solange er will. Das andere Ich, das nicht im Text genannt ist, kommt innerhalb der partikularen Temporalität des Historischen ebenso wenig vor wie der Autor einer Autobiographie in der "richtigen Welt".

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Die hier vorgestellte Konstellation von Temporalitäten greift auf Heideggers Konzeption der Historizität zurück, in der eine "primäre" Geschichtlichkeit des "Daseins" aus der Absetzung von einer "sekundären" Geschichtlichkeit begründet wird. [32] Diese sekundäre Geschichtlichkeit wird mit einer Reihe von absprechenden Bestimmungen belegt; so ist sie "vulgär" und bezeichnet einen Zustand der "Verlorenheit an das Man". Heideggers primäre Geschichtlichkeit ist an das "Zusammenholen" der bereits in verstreuter Form vorliegenden Episoden des Daseins gebunden. Dies geschieht mittels einer epistemischen Leistung. Diese stellt eine gerichtete Abfolge her, indem sie die fraglichen Episoden, von einem Ende (dem Tod) her denkend, als einen einheitlichen Prozess darstellt (Heidegger spricht vom "Ganzseinkönnen"). Das Dasein ist geschichtlich, weil es nicht einfach in einem unbestimmten Sinn zeitlich ist, sondern durch einen spezifischen, bestimmbaren Gegenstandsbereich, den des menschlichen Lebens, konstituiert wird. Doch ist in dieser Vorstellung der Geschichtlichkeit ein Konflikt angelegt, der sich grob zwischen einem auf die Finalität hin geordneten Dasein und dem Bereich des Ungeordneten, Sinnlosen, der "vulgären" Geschichtlichkeit abspielt.

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Allerdings ist diese Unordnung nur relational zu der neuen zeitlichen Anordnung zu verstehen, die in der primären Geschichtlichkeit hergestellt wird. Diese letztere ist also eine systematisch verfahrende Störung der ersteren. Historizität wäre demnach ohne ein solches Moment des Konflikts nicht zu haben. Sie wäre immer schon plural (oder mindestens dual). Heideggers Benennung der einen Historizität als primär und der anderen als sekundär ist aus dieser Sicht heraus jedoch eine schwer verständliche Entscheidung, weil beide gleichursprünglich sind. Möglich, dass Heidegger hier nur die unterschiedlichen Wertigkeiten ausdrücken will, die er mit den beiden Geschichtlichkeiten verbindet; ebenfalls möglich, dass die sekundäre Historizität nur aus Sicht der primären als solche erkennbar sein soll, dass die Unterscheidung also rein epistemischer Art ist. Die sekundäre Geschichtlichkeit wäre dann der Bereich des Ungeordneten, Unfassbaren, Unbestimmbaren, der mit der Etablierung einer partikularen Temporalität einherginge. Diese Temporalität träte unweigerlich als Störung einer anderen auf, weil die Geschichtlichkeiten sich antagonistisch zueinander verhielten. Ein solches Verhältnis ist auch mit der vielleicht auf den ersten Blick widersprüchlich scheinenden Formel des "Unordnungssystems" angesprochen: eine komplexe, nämlich von vornherein plurale Konstellation von Verfahren, die antagonistisch aufeinander bezogen sind; wobei dieser Bezug auch sehr subtil und abstrakt sein kann.

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Huizingas eigene theoretische Überlegungen auf dem Gebiet des Spiels bieten verschiedene Ansatzpunkte für eine Beschreibung seiner Notizführung. So betont er zum Beispiel, dass das Spiel ein eigenes Regelsystem bilde, dass es einen nicht-funktionalen und irreduziblen Kern besitze, dass es als ein begrenzter Bereich in einem zeitlichen Kontinuum stehe und unmittelbar eine Form herstelle, die jeweils wiederholbar sei. Im Hinblick auf die Zeitlichkeit stellt er fest: "Solange es im Gange ist, herrscht Bewegung, ein Auf und Nieder, ein Abwechseln, eine bestimmte Reihenfolge, Verknüpfung und Lösung." [33] Oder eben: vor und zurück. Das Spiel kennt kein Vakuum, weil es als Gegenstandsbereich, der seine eigenen Objekte, Ereignisse und Akteure (und daher seine eigene Zeitlichkeit) konstituiert, niemals als Form ohne Gegenstände dasteht. Huizingas Notizen weisen eine Reihe von Eigenschaften auf, die man in jener Sphäre des Spiels verorten könnte; und hier eben insbesondere die partikulare Zeitlichkeit, der eigene Gegenstandsbereich, das eigene Regularium. Das Verhältnis zwischen Spiel und Nicht-Spiel ähnelt strukturell der in den vorigen Absätzen skizzierten Konstellation von partikularen Temporalitäten. Zugleich könnte das Spiel jedoch etwas Zusätzliches offenlegen, das in Huizingas Überlegungen über das Gewinnen angesprochen wird.

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Ähnlich dem Heideggerschen Dasein hat das Spiel (wenn auch nicht immer) eine klare teleologische Ausrichtung entsprechend dem "Verlangen, den anderen zu übertreffen". [34] Entsprechend enthalten auch die Notizen ein agonales Moment, wenn etwa die Exzerpte versuchen, den exzerpierten Autor zu übertrumpfen. Die szenische Notizführung, in der die Zettel miteinander in Dialog treten, ließe sich vielleicht ebenfalls aus diesem Blickwinkel interpretieren. Am Ende könnte es also sein, dass gerade das Telos des Gewinnens die Einheit der partikularen Zeitlichkeit der Notizen stiftet; dass hierin auch die antagonistischen Bezüge innerhalb der Konstellation von Schreibverfahren fassbar werden; dass Papier und Tinte in der wissenschaftlichen Arbeit Huizingas letztlich als Spielgerät, seine Notizführung als eine spezifische Spieltechnik und das epistemische Spiel als ein spezifisches Medium der Geschichtswissenschaft angesehen werden sollten. Vielleicht lässt sich in diesen Überlegungen auch eine weiterführende Perspektive für die Betrachtung der Techniken und Medien in der Wissenschaftsgeschichte entdecken.

Autor:

Dr. phil. Henning Trüper
Universität Zürich
UFSP Asien und Europa
Wiesenstraße 7-9
8008 Zürich
Schweiz
henning.trueper@uzh.ch



[1] Frank Wolff / Alexander Kraus: Notation – Niederschrift – Geschichte. Sondierungen im Lande eines epistemologischen Dreischritts, in: zeitenblicke 9, Nr. 2, [27.08.2010], URL: http://www.zeitenblicke.de/2010/2/einfuehrung/index_html , URN: urn:nbn:de:0009-9-25904 <18.02.2011>.

[2] Christoph Hoffmann (Hg.): Daten sichern. Schreiben und Zeichnen als Verfahren der Aufzeichnung, Zürich / Berlin 2008; Karin Krauthausen / Omar W. Nasim (Hg.): Notieren, Skizzieren. Schreiben und Zeichnen als Verfahren des Entwurfs, Zürich / Berlin 2010. Die Bände gehören zu einer auf insgesamt vier Teile angelegten Reihe "Wissen im Entwurf", als deren Gesamtherausgeber Christoph Hoffmann und Barbara Wittmann fungieren.

[3] Zum Beispiel von Zettelkarteien vgl. besonders Markus Krajewski: ZettelWirtschaft. Die Geburt der Kartei aus dem Geist der Bibliothek, Berlin 2002; zu den Exzerptbüchern der Frühen Neuzeit vgl. Helmut Zedelmaier: De ratione excerpendi. Daniel Georg Morhof und das Exzerpieren, in: Françoise Waquet (Hg.): Mapping the World of Learning. The Polyhistor of Daniel Georg Morhof, Wiesbaden 2000, 75-92; ders. / Friedrich Büttner (Hg.): Sammeln – Ordnen – Veranschaulichen. Wissenskompilatorik in der Frühen Neuzeit, Münster u.a. 2003; und jetzt umfassend Ann Blair: Too Much to Know. Managing Scholarly Information Before the Modern Age, New Haven 2010.

[4] Hierzu vgl. Anke te Heesen: Der Zeitungsausschnitt. Ein Papierobjekt der Moderne, Frankfurt a.M. 2006.

[5] Vgl. hierzu meinen Aufsatz: Das Klein-Klein der Arbeit. Die Notizführung des Historikers François Louis Ganshof, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 18 (2007), H. 2, 82-104.

[6] Staatsbibliothek zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz, NL 245 (Nachlass Enno Littmann).

[7] Bibliotheek Universiteit Leiden, Archief Johan Huizinga. Die Grundzüge der Arbeitsmethode beschreibt Anton van der Lem: Inventaris van het archief van Johan Huizinga. Bibliografie 1897-1997, Leiden 1998, xiv-xviii.

[8] Bibliotheek Universiteit Gent, Nalatenschap Adriaan Verhulst, HS III 108, doos 19.

[9] Mary Poovey: A History of the Modern Fact. Problems of Knowledge in the Sciences of Wealth and Society, Chicago / London 1998; Lorraine Daston: Warum sind Tatsachen kurz?, in: Anke te Heesen (Hg.): Cut and Paste um 1900. Der Zeitungsausschnitt in den Wissenschaften, Berlin 2002, 132-144.

[10] Einen hilfreichen Überblick bietet Christoph Hoffmann: Schreiben als Verfahren der Forschung, in: Michael Gamper (Hg.): Experiment und Literatur: Themen, Methoden, Theorien, Göttingen 2010, 181-207.

[11] Zu Huizinga vgl. Wessel E. Krul: Historicus tegen de tijd. Opstellen over leven en werk van J. Huizinga, Groningen 1990; Johan Tollebeek: De toga van Fruin. Denken over geschiedenis in Nederland sinds 1860, Amsterdam 1990; Anton van der Lem: Johan Huizinga. Leven en werk in beelden & documenten, Amsterdam 1993; Christoph Strupp: Johan Huizinga. Geschichtswissenschaft als Kulturgeschichte, Göttingen 2000; Willem Otterspeer: Orde en trouw. Over Johan Huizinga, Amsterdam 2006 (Englische Übersetzung: Reading Huizinga, Amsterdam 2010).

[12] Stella von Boch: Jacob Burckhardts "Die Sammler". Kommentar und Kritik, München 2004.

[13] So van der Lem: Inventaris (wie Anm. 7).

[14] Rüdiger Campe: Die Schreibszene. Schreiben, in: Hans Ulrich Gumbrecht / K. Ludwig Pfeiffer (Hg.): Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrüche. Situationen offener Epistemologie, Frankfurt a. M. 1991, 759-72.

[15] Bibliotheek Universiteit Leiden, Huizinga Archief, HUI 55 II. Das exzerpierte Buch ist Emile Gebhart: L'Italie mystique, Paris 1890.

[16] Bibliotheek Universiteit Leiden, Huizinga Archief, HUI 55 III.

[17] Bibliotheek Universiteit Leiden, Huizinga Archief, HUI 117, I, Theorie Geschiedenis.

[18] Bibliotheek Universiteit Leiden, Huizinga Archief, HUI 117, I, Theorie Geschiedenis, Umschlag: "Aarde der historischen begripsvorming". Die Unterstreichung ist von Huizinga; sein Zusatz lautet im Original: "maar met die abstracties ben ik niet meer op zuiver historisch gebied". Die zitierte Stelle findet sich bei Wilhelm Wundt: Logik. Eine Untersuchung der Prinzipien der Erkenntnis und der Methoden wissenschaftlicher Forschung, Bd. 2: Logik der exakten Wissenschaften, 3. Aufl., Stuttgart 1907, 38 (in modernisierter Orthographie; Huizinga zitiert noch die 2. Auflage, 34). Wundt beschreibt hier die Probleme der Geisteswissenschaften als so "komplex", dass die in ihnen vorherrschende analytische "Deduktion […] vielfach Lücken darbietet und des zwingenden Charakters entbehrt".

[19] Bibliotheek Universiteit Leiden, Huizinga Archief, HUI 117, I, Umschlag: "Aarde der historischen begripsvorming": "tegen Bernh. 127. van de geschied[enis] geldt in hoogere mate dan van andere wetensch[appen] dat de werkzaamh[eid] een 'künstlerische' is, omdat zij meer met complexe voorstellingen dan met begrippen opereert."

[20] Bibliotheek Universiteit Leiden, Huizinga Archief, HUI 117, I, Umschlag: "Aarde der historischen begripsvorming": "goed, de werkzaamh[eid] is niet zuiver 'künstlerisch', maar het genot, is dat het ook niet?"

[21] Bibliotheek Universiteit Leiden, Huizinga Archief, HUI 117, I, Umschlag: "Aarde der historischen begripsvorming": "dus lang niet alles logische werkzaamheid.//fantazie noodig."

[22] Johan Huizinga: Twee worstelaars met den engel, in: ders.: Verzamelde Werken, IV, Haarlem 1949, 441-496. Der Aufsatz war ursprünglich der niederländischen Öffentlichkeit an zentraler Stelle präsentiert worden, nämlich in der Zeitschrift "De Gids". Zu seiner Interpretation vgl. auch Strupp: Huizinga (wie Anm. 11), 63-65.

[23] Bibliotheek Universiteit Leiden, Huizinga Archief, HUI 71, V.

[24] Huizinga: Twee worstelaars (wie Anm. 22), 457: "Want wij hebben hier te doen met een gedachtenroes, door een Strzygowski-injectie opgewekt." Zu Strzygowski vgl. Suzanne Marchand: German Orientalism in the Age of Empire. Religion, Race, and Scholarship, Cambridge 2009, 403-410.

[25] Bibliotheek Universiteit Leiden, Huizinga Archief, HUI 71, V. Die erste Zeile ist im Original deutsch, die zweite niederländisch; zur Verdeutlichung dieser Sprachmischung verzichte ich hier auf die Übersetzung, die sich ohnehin erübrigen dürfte.

[26] Huizinga: Twee worstelaars (wie Anm. 22), 456: "Men vraagt zich een oogenblik af, waarom Spengler, als hij dan al deze verschijnselen onder één hoedje wou vangen, niet lever gesproken heeft van Semitisch-hellenistische cultuur. Doch de verklaaring ligt voor de hand: op die wijze zou hij hebben erkend, hoe wij de cultuurperiode, die de eerste zeven, acht eeuwen onzer jaartelling vult, slechts kunnen zien als het samenkomen en elkander doordringen van cultuurtradities van verschillende herkomst. En dit juist will hij niet erkennen […]"

[27] Bibliotheek Universiteit Leiden, Huizinga Archief, HUI 71, V: "Dat is niet kwaad. Had hij in pl[aats] v[an] Arab[isch] gezegd: Hellenist[isch]. Semitisch, dan was het nog zoo gek niet."

[28] Rüdiger Campe: Vorgreifen und Zurückgreifen. Zur Emergenz des Sudelbuchs in Georg Christoph Lichtenbergs "Heft E", in: Krauthausen / Nasim: Notieren, Skizzieren (wie Anm. 2), 61-87, hier: 61.

[29] Zu diesem Begriff sei noch einmal gesondert verwiesen auf Christoph Hoffmann: Festhalten, Bereitstellen. Verfahren der Aufzeichnung, in: ders.: Daten sichern (wie Anm. 2), 7-20.

[30] Huizinga: Twee worstelaars (wie Anm. 22), 469f.: "Spengler heeft gefaald, omdat hij twee werelden van gedachte heeft willen verbinden, waartusschen geen andere brug is dan de regenboog. Met het diepste van zijn geest is hij thuis in het mystische, in het gebied, waar wij weten, dat in waarheid alle gebeuren 'Schicksal' is, dat het verlorene toch nog is en dat getal en maat waan zijn. Doch in dat gebied hebben de historische dingen geen namen meer. Door de historie te willen verklaren met de middelen der mystiek heeft Spengler een absurde historische denkwereld geschapen. Een wereld, waarin elk gebeuren slechts de beteekenis heeft van een verwezenlijking van strekkingen, die als oersymbool de cultuur waren meegegeven, enkel van verwezenlijking, niet van een kiem of voedingsbodem voor het later komende. Een wereld derhalve, die afbreekt achter ieder oogenblik. In zulk een wereld leef ik kniet, dat weet ik heel zeker. // Spengler's boek heeft op mij homoeopathisch genezend gewerkt, mij een weinig bevrijd van eigen duistere vertwijfeling aan de toekomst onzer beschaving, doordat zijn hopelooze zekerheid mij deed voelen, dat ik de hoop nog bezat en het niet-weten. Doch laat hem de eer blijven, dat hij met den Engel geworsteld heeft."

[31] Die klassische Formulierung dieses Problems bei Karl Löwith: Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Zur Kritik der Geschichtsphilosophie, Stuttgart 1983 [zuerst englisch 1949, 1. Aufl. der deutschen Übersetzung 1953] (= Sämtliche Schriften, Bd. 2), hier: Einleitung, 11-30.

[32] Unter Bezug auf Martin Heidegger: Sein und Zeit, Tübingen 1953 [1. Aufl. 1927] und öfter, §§ 72-76; mitzudenken sind hier die üblichen Kautelen hinsichtlich der Verständlichkeit und Replizierbarkeit von Heideggers Argumentationen.

[33] Johan Huizinga: Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel, übersetzt Von H. Nachod, Hamburg 1956 [1. Aufl. 1938], 18.

[34] Huizinga: Homo Ludens (wie Anm. 33), 60.

Empfohlene Zitierweise:

Henning Trüper : Unordnungssysteme. Zur Praxis der Notizführung bei Johan Huizinga , in: zeitenblicke 10, Nr. 1, [09.08.2011], URL: https://www.zeitenblicke.de/2011/1/Trueper/index_html, URN: urn:nbn:de:0009-9-30517

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