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Eine heuristische Grundüberzeugung der älteren Kulturgeschichte war es, das 'Wesen' anderer Kulturen an sich und als Ganzes verstehen und beschreiben zu können. In der Geschichtsschreibung der Kulturkontakte im Kontext der europäischen Expansion feierte man mit einem dezidiert eurozentrischen Akzent nicht nur große 'Entdecker', sondern auch geniale 'Versteher' aus dem Abendland. Zwar fällt bei einer Re-Lektüre der einleitenden Kapitel von Klassikern der Postcolonial Studies auf, dass man sich durchaus auch dort gern auf große Denker beruft, die 'das Andere' offener und angemessener verstanden hätten als ihre Zeitgenossen, wie zum Beispiel Goethe oder Herder. [1] Bei aller Kritik an europäischen Denktraditionen – zumindest an deren Übermacht – können diese doch nicht ausgeblendet werden und bilden weiterhin einen unverzichtbaren Strang interkultureller Reflexionen: "both indispensable and inadequate". [2]

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Im Gefolge von Konstruktivismus und Postcolonial Studies reden wir aber längst nicht mehr über Kulturen als wesenhafte Entitäten, die es zu verstehen gilt, sondern primär über die Macht der Konstrukte, das heißt: hierarchisch-stereotype Wahrnehmungen von Kulturen. Damit scheint klar, dass sich die Wahrnehmung 'des Anderen' stets am 'Eigenen' orientiert. Repräsentationen von anderen Kulturen sind in der Tat nur mehrheitsfähig und werden erst dann 'sagbar', wenn sie auf eine gewisse diskursive Nachfrage reagieren und in eine spezifische Konstellation innerhalb der bekannten Kultur der Adressaten eingespeist werden.

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Allerdings muss man fragen, wie Kommunikation überhaupt funktionieren kann, wenn die gegenseitige Wahrnehmung allein und stets aus einsinnigen selbstreferenziellen Akten der "idioformen Übertragung des Eigenen (…) auf das Fremde" besteht. [3] Die Erfahrung 'des Anderen' – insbesondere als Heterogenes, Hybrides, schwer zu Fassendes – kann im Gegenteil auch zur Irritation und Infragestellung des Erwartbaren führen und damit nicht Selbstaffirmation, sondern produktive Verstörung und Selbstreflexion über 'das Eigene' anstoßen. Konstrukte sind durch Kontakt und Kommunikation historisch veränderlich und nicht nur die Geschichte der 'Kultur' – wobei die analytische Kategorie von den zu beschreibenden kollektiven Entitäten zu unterscheiden ist –, sondern auch – spezifischer – die Geschichte der Wahrnehmung anderer Kulturen ist eine dynamische Geschichte, nämlich eine Geschichte der Pluralität und des Wandels. [4] Bei allen Verfremdungen und Exotisierungen 'der Anderen', die hinter den Bergen oder jenseits der Meere wohnen, ist zudem zu fragen, ob diese eigentlich durch die Reiseschriftstellerinnen und Reiseschriftsteller selbst konstruiert wurden oder eher durch die Rezipientinnen und Rezipienten, das heißt zeitgenössische wie auch moderne Leserinnen und Leser. Die Grenzen, um die es hier geht, sind verschiedener Art: interkulturelle oder intrakulturelle Grenzen, durch stereotype ältere Bilder geformte Grenzen, mediale Grenzen in Form eingeschliffener Standards der Wissensordnung, nicht zuletzt auch politisch bedingte Grenzen des 'Sagbaren'. Solche Grenzen konnten sich überlagern, verstärken oder abschwächen.

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Mit einem akteursorientierten Zugang, wie er hier verfolgt wird, ergeben sich neue Einsichten in Möglichkeiten wie auch in Fallstricke der interkulturellen Kommunikation. Grenzen zwischen den als solchen wahrgenommenen Kulturen wirken teils hermetisch verschlossen, teils aber auch als permanente Herausforderung für Überschreitungen alltagspraktischer und hermeneutischer Art. Akteurinnen und Akteuren bieten sich Optionen, die Entscheidungen notwendig machen. Sie ringen mit ihnen, scheitern bisweilen an ihnen. In diesem Sinne loten die Artikel dieser Ausgabe der zeitenblicke das für die Kontaktsituation konstitutive Spannungsfeld und die Handlungskompetenz zwischen distanzierender Stereotypisierung und kommunikativer Vermittlung aus. Im Fokus stehen solche Akteurinnen und Akteure, die während der Frühen Neuzeit und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts als Mittler und Grenzgänger zwischen den Kulturen gewirkt haben. Der Untersuchungszeitraum liegt damit vor der Ära der Moderne, in der Fremdheit durch den primären Bezug zur Nation ganz neu definiert wurde. [5] Der Blick auf die Praktiken und die Texte dieser ‚Transmitter‘ legt Ambivalenzen und Dynamiken frei, die im Kontrast stehen zum starren binären Schematismus, wie er in den frühen Postcolonial Studies vertreten wurde. [6] Die gemeinten Akteurinnen und Akteure haben durch ihre innovativen Methoden und ihre Aufsehen erregenden Berichte das zuvor scheinbar unverrückbare, stereotype Bild von 'den Anderen' und damit auch jenes von sich selbst und ihrer Herkunftskultur nachhaltig beeinflusst und verändert. Dies gelang ihnen zum einen durch den neuartigen Umgang mit Medien, zum anderen dadurch, dass sie sich mit ihrer Person wie mit ihrer Art der Autorschaft als Garanten für das von Ihnen Berichtete und Erlebte verbürgten und damit dessen 'Wirklichkeit' erst generierten, zumindest aber authentifizierten. Das Handeln in der 'Kontaktzone' und das Überschreiten kommunikativer Grenzen sind komplexe Vorgänge, bei denen Regeln des Austauschs mitunter erst definiert oder immer wieder neu ausgehandelt werden müssen. Auf Routinen kann dabei nicht ohne weiteres zurückgegriffen werden. Sofern es solche bereits gibt, werden sie von den Beteiligten mal als hilfreich, mal als ungenügend und hinderlich empfunden. Typisch sind der irritierte Blick aus der Warte der Fremdheit und die daraus resultierende Arbeit an der vorgegebenen Rolle des Fremden. [7]

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Die im Folgenden thematisierten Akteurinnen und Akteure haben sich längere Zeit in einer ‚anderen Kultur‘ – im Sinne der Zeitgenossen – aufgehalten oder sie intensiv bereist. Sie müssen bei ihren Berichten unterschiedliche Erwartungshaltungen in Rechnung stellen und auch verschiedene kommunikativ-mediale Standards. Die Konstruktion eines neuen Bildes vom 'Anderen' und dessen Propagierung 'zuhause' adressieren immer auch als solche empfundene kulturelle Defizite im Ausgangsland. Deswegen stoßen ungewohnte Bilder und Einschätzungen ebenso auf Interesse wie auf Widerstand. Nicht zuletzt verändert die Praxis der interkulturellen Kommunikation in dieser Kontaktzone bzw. im 'dritten Raum' auch die wahrnehmenden Subjekte. Deren Grenzgänge sind insofern erfolgreich, als es ihnen gelingt, neuartige Wahrnehmungen vom 'Anderen' zu testen und zu vermitteln. Auch neue Wahrnehmungen bleiben dabei letztlich Konstrukte, die nicht notwendigerweise richtiger oder zutreffender sind als alte. Denn auch innovative Bilder unterliegen einer Tendenz zur Stereotypisierung, ja, sie benötigen diese sogar im Kampf um die Deutungshoheit im Diskurs. Dabei geht es nicht nur um Inhalte und Imaginationen, sondern ganz wesentlich auch um verschiedene Modi der Herangehensweise an das Fremde. Die Spekulation aus der sicheren Ferne ist etwas ganz anderes als ethnographisches Beobachten. Exotisierung als 'Empathie auf Distanz' ist zu unterscheiden von der Kontaktsuche vor Ort, vom Grenzgang als risikoreiche Praxis, von der Akkommodation als – Bereitschaft zur Veränderung voraussetzende – Strategie des Dialogs.

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Die Beiträge der vorliegenden Ausgabe untersuchen zum einen 'klassische' Mittlerfiguren wie Matteo Ricci, Lady Mary Montagu oder Alexander von Humboldt. Zum anderen werden mit dem jesuitischen Indienmissionar Pierre Martin und dem Arabienreisenden Carsten Niebuhr weniger prominente Transmitter in den Fokus gerückt. Der Artikel über Albrecht von Haller thematisiert die in diesem Zusammenhang bislang kaum beachtete intrakulturelle Stereotypisierung und die Vermittlung von Wissen innerhalb Europas. Indes zeigt auch diese Auflistung: "The problem of getting beyond Eurocentric histories remains a shared problem across geographical boundaries." [8] Was zumindest implizit bereits für humanistisch gebildete oder von der europäischen Aufklärung beeinflusste Reisende in der Frühen Neuzeit galt, gilt explizit auch noch für die heutige Forschung! Deswegen war es der Herausgeberin und dem Herausgeber ein Anliegen, außereuropäische Perspektiven miteinzubringen. Die Berichte des chinesischen Christen Aloysius Fan Shouyi aus dem Italien des frühen 18. Jahrhunderts – dem 'Fernen Westen', wie Fan Shouyi schrieb – und des ägyptischen Imams Rifâ'a at-Tahtâwî aus dem Paris der 1820er Jahre beeinflussten bzw. prägten ein neues Europabild in China und in den arabischen Ländern. Zugleich belegen diese Berichte, dass die Neugier (curiositas) auf Fremdes nichts genuin Europäisches ist. [9]

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Es dürfte vorab klar sein, dass jede Form von interkultureller Wahrnehmung in bestimmten Kontexten situiert ist. Als besonders wirkmächtig erweisen sich für die Frühe Neuzeit und auch noch die Sattelzeit der kirchlich-missionarische, der obrigkeitlich-diplomatische und der wissenschaftliche Kontext. Gilt dies nur für den europäischen Blick auf andere Welten oder auch umgekehrt? Die Grenzgänge der Jesuiten in China und Indien erfolgten im kirchlichen Auftrag, liefen aber immer Gefahr, die im fernen Rom gesetzten Grenzlinien in zentralen Aspekten der Akkommodation zu überschreiten. Lady Mary Montagus berühmte 'Turkish Embassy Letters' sind eine Art Nebenprodukt englisch-osmanischer Diplomatie. An ihrem Beispiel lässt sich ein für Reiseschriftstellerinnen und Reiseschriftsteller generell, aber insbesondere für Schriftstellerinnen spezifisches Spannungsverhältnis zwischen 'Kontaktzone' und 'Schreibort' sowie zwischen 'Eigenem' / 'Innerem' und 'Fremdem' / 'Äußerem' / 'Öffentlichem' aufzeigen.

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Die beiden Akteure, die im Folgenden beispielhaft für die Umkehrung des Blicks auf Europa stehen, lassen sich durchaus in die genannten Kontexte einordnen. Denn Fan Shouyis Reise nach Europa zu Beginn des 18. Jahrhunderts erfolgte noch im Rahmen der jesuitischen Missionstätigkeit. Im Anschluss an seine Rückkehr nach China verfasste er auf Befehl der kaiserlichen Obrigkeit seinen Reisebericht. Der ägyptische Imam At-Tahtâwî wurde 1826 von seinem modernisierungsfreundlichen Herrscher ins 'Land der Franken' geschickt. Sein inhaltlich vielschichtiger Bericht aus Paris hat einen gelehrten Duktus und offenbart auch ein wissenschaftliches Interesse an Europa.

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Niebuhr, Haller und Humboldt schrieben ihre Texte und entwickelten ihre europäischen bzw. im Fall von Haller und Humboldt globalen Netzwerke der Gelehrsamkeit in der Ära der Verwissenschaftlichung des Reisens ab Mitte des 18. Jahrhunderts. In dieser Zeit verlor das Spekulieren über 'rohe' oder 'edle' 'Wilde' an Überzeugungskraft, wenn es nicht durch sachliche Information und durch den Verweis auf Augenzeugenschaft abgestützt wurde. [10] Den Hintergrund für diesen auch generell für die Konstruktion von Alterität und Identität einschneidenden Wandel bildete das neue Wissenschaftsverständnis der Aufklärung. Das Verhältnis der europäischen Aufklärung zu 'anderen Völkern' ist komplex und weniger eindimensional als lange Zeit angenommen. Denn neben der Tendenz zur eurozentrischen Universalisierung von Vernunft und Natur des Menschen stehen die Postulate der Toleranz von Andersgläubigen, der Freundschaft unter Gleichgesinnten egal welcher Herkunft sowie die positive Bewertung von kultureller Differenz unter den Völkern; eine Differenz, die nun eher als wissenschaftliche – und durchaus auch als menschliche – Herausforderung denn als zu beseitigende Heterogenität wahrgenommen werden konnte. [11]

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Die vorliegende Publikation basiert auf zwei Sektionen über kulturelle 'Transmitter' und 'Grenzgänger', die Joachim Eibach und Claudia Opitz auf den 2. Schweizerischen Geschichtstagen in Basel im Februar 2010 geleitet haben. Die Beiträge von Nadine Amsler und Johannes Stephan konnten im Nachhinein zur Abrundung der Thematik gewonnen werden.

Autoren:

Prof. Dr. Joachim Eibach
Universität Bern
Historisches Institut
Länggassstrasse 49
CH-3000 Bern 9
eibach@hist.unibe.ch

Prof. Dr. Claudia Opitz-Belakhal
Universität Basel
Departement Geschichte
Hirschgässlein 21
CH-4051 Basel
claudia.opitz@unibas.ch



[1] Edward W. Said: Orientalism, London 2003 (Neudruck), XVIIIf.; Homi K. Bhabha: The Location of Culture, London 2003 (Neudruck), 11f.

[2] Dipesh Chakrabarty: Provincializing Europe, Princeton 2000, 6; vgl. auch den expliziten Rekurs auf Marx und Heidegger: ebd., 18.

[3] Birte Platow: Konstruktive Aneignung – ein anthropologisches Kontinuum in interreligiösen Wahrnehmungsprozessen?, in: Dietrich Klein / dies. (Hg.): Wahrnehmung des Islam zwischen Reformation und Aufklärung, München 2008, 161-175, hier: 162.

[4] Vgl. zu 'Kultur' als Begriff und Gegenstand Jürgen Osterhammel: Die Vielfalt der Kulturen und die Methoden des Kulturvergleichs, in: Handbuch der Kulturwissenschaften, Bd. 2: Paradigmen und Disziplinen, hg. von Friedrich Jaeger und Jürgen Straub, Stuttgart 2004, 50-65; zu Pluralität und Wandel Joachim Eibach: Annäherung – Abgrenzung – Exotisierung: Typen der Wahrnehmung 'des Anderen' in Europa am Beispiel der Türken, Chinas und der Schweiz (16. bis frühes 19. Jahrhundert), in: ders. / Horst Carl (Hg.): Europäische Wahrnehmungen. Interkulturelle Kommunikation und Medienereignisse 1650-1850, Hannover 2008, 13-73.

[5] Vgl. Rudolf Stichweh: Die klassische Soziologie des Fremden und die Genese der Disziplin Soziologie, in: ders., Der Fremde. Studien zu Soziologie und Sozialgeschichte, Berlin 2010, 9-24.

[6] Vgl. dazu allgemein Oliver Lubrich: Welche Rolle spielt der literarische Text im postkolonialen Diskurs?, in: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen, 242 (2005), 16-39; ders., Postcolonial Studies, in: Literaturtheorien des 20. Jahrhunderts, hg. von Ulrich Schmid, Stuttgart 2010, 351-376.

[7] Vgl. Rudolf Stichweh: Die Semantik des Fremden in der Genese der europäischen Welt, in: Stichweh, Der Fremde (wie Anm. 5), 75-83, hier: 75.

[8] Chakrabarty: Provincializing Europe (wie Anm. 2), 17.

[9] So die These im Hinblick auf den europäischen Humanismus von Justin Stagl: Eine Geschichte der Neugier. Die Kunst des Reisens 1550-1800, Köln 2002.

[10] Vgl. Thomas Nutz: 'Varietäten des Menschengeschlechts'. Die Wissenschaften vom Menschen in der Zeit der Aufklärung, Köln 2009.

[11] Daniel Carey / Sven Trakulhun: Universalism, Diversity, and the Postcolonial Enlightenment, in: dies. (Hg.): The Postcolonial Enlightenment. 18th-century Colonialism and Postcolonial Theory, Oxford 2009, 240-280; Franz Leander Fillafer / Jürgen Osterhammel: Cosmopolitanism and the German Enlightenment, in: Helmut Walser Smith (Hg.): Modern German History, Oxford 2011, 119-143.

Empfohlene Zitierweise:

Joachim Eibach / Claudia Opitz-Belakhal : Einführung. Zwischen den Kulturen - Mittler und Grenzgänger , in: zeitenblicke 11, Nr. 1, [07.11.2012], URL: https://www.zeitenblicke.de/2012/1/Einfuehrung/index_html, URN: urn:nbn:de:0009-9-34213

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