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Nach einem Studium der Politikwissenschaft und Philosophie in Delhi und Kunstgeschichte an der Sorbonne Promotion 1985 in Paris, Lehrtätigkeiten in Indien, USA, Österreich und Deutschland. Seit 2009 als „Professor of Global Art History“ beim Exzellenz-Cluster "Asia and Europe in a Global Context", dort Sprecherin des Bereichs "Historicities and Heritage". Zu den Forschungsschwerpunkten ihrer Indien- und Europastudien gehören Praktiken der visuellen Repräsentation, Aspekte vergleichender und transkultureller Geschichte, religiöse Konversion sowie geschlechterspezifische und politische Ikonographie.

Aktuelle Publikationen in Auswahl: Religion und Grenzen in Indien und Deutschland. Studien zu einer transnationalen Historiographie, Göttingen 2009 (hg. mit Margrit Pernau); Global Art History and the 'Burden of Representation', in: Hans Belting et al. (Hg.), Global Studies. Mapping Contemporary Art and Culture, Stuttgart 2011, 274-297; Universalität in der Kunstgeschichte? Themenheft Kritische Berichte. Zeitschrift für Kunst- und Kulturwissenschaften, Heft 2, 2012 (hg. mit Matthias Bruhn und Elke Werner).
 

 

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Seit dem 'Cultural Turn' in den 1980er Jahren reden zwar alle über 'Kultur', aber was ist überhaupt 'Kultur'? Ist der Begriff mittlerweile nicht vollkommen zerredet? Sie selbst arbeiten über Kulturtransfer und Transkulturalität. Macht der Begriff der Kultur als analytische Kategorie forschungsstrategisch noch Sinn? Worin besteht Ihr Ansatz als Kunsthistorikerin mit globaler Perspektive und Asienkennerin?

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Es stimmt zwar, dass 'Kultur' mittlerweile zu den höchst inflationär verwendeten Begriffen gehört und uns daher völlig sinnentleert vorkommt. Aber verzichten können wir auf den Begriff trotzdem nicht. Als analytische Kategorie bildet 'Kultur' sowohl einen Gegenstand als auch einen Prozess; damit definiert der Begriff ein Spannungsfeld, in dem sich unsere Forschung orientieren kann. In meiner Arbeit geht es weniger darum, einen Konsens zum Kulturbegriff zu finden, als vielmehr darum, die Begriffsbildung selbst zu hinterfragen und die Konstituierung von Kultur(-en) als Spannungsverhältnis zwischen Norm und Prozess aufzudecken. Unser gängiges Verständnis schreibt Kulturen häufig als ethnisch, religiös oder nationalstaatlich definierte, homogene Essenzen fest. Diese Definition geht auf die territorialbezogene Bildung von Nationalstaaten im späten 18. und im 19. Jahrhundert in Europa zurück und fand im 20. Jahrhundert in den jungen postkolonialen Nationen von Afrika bis Asien eine weitere Verankerung. In jüngster Zeit begegnen wir dieser Auffassung von 'Kultur' in den neuen Republiken der postsowjetischen Ära wieder.

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Mein Ansatz im Forschungskontext des Heidelberger Clusters 'Asia and Europe in a Global Context' bevorzugt die Untersuchung von Transkulturalität, um den Kulturbegriff von einer ethnisch, religiös oder sprachlich bedingten Geschlossenheit zu befreien. Das Konzept der Transkulturalität beleuchtet Transformationsprozesse, die sich in Begegnungen und den daraus folgenden Beziehungen zwischen Regionen und Kulturen entfalten. Solche Prozesse lassen sich in allen Epochen untersuchen, lange bevor die Entstehung von globalen Kapitalmärkten und weltumspannenden Datennetzen die moderne Welt geformt hat. Transkulturalität kann sich sowohl auf ein konkretes Untersuchungsobjekt beziehen als auch als eine heuristisch-analytische Kategorie herangezogen werden. Das Präfix 'trans' sensibilisiert für ein dynamischeres Verständnis von 'Kultur'. Diese wird aus Konstellationen grenzüberschreitender Mobilität konstituiert und ist einem stetigen Prozess des Wandels unterworfen. Der Ansatz macht Akteure, Prozesse und Phänomene jenseits der bisher als statisch verstandenen Kulturgrenzen 'sagbar' und ermöglicht damit eine polyvalent und reziprok konzipierte Beziehungsgeschichte.

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Der transkulturelle Ansatz unterscheidet sich von jenem der Transferforschung, die sich mit der Übertragung von Inhalten und Praktiken von einem kulturellen oder semantisch-visuellen System in ein anderes beschäftigt und dabei häufig von zwei autonomen, klar definierten Einheiten ausgeht – auch wenn diese Forschung heute von Übersetzungsprozessen und hybriden Formen spricht. Geht man von der Annahme aus, dass sich Kulturen über Beziehungsprozesse erschließen lassen und sich im stetigen Prozess des Werdens befinden, so postuliert diese transkulturelle Sicht eben auch nicht strikt vorgegebene Untersuchungseinheiten – wie etwa nationalstaatliche oder zivilisationsgeschichtliche Konstrukte. Vielmehr konstituiert sie ihre Untersuchungseinheiten entsprechend der Logik der verschiedenen involvierten Akteure, und das heißt mit Blick auf Zirkulationsprozesse und historische Beziehungen. Diese verlaufen häufig quer zu den etablierten Kategorien wie etwa Territorium, Staat, Nation, Religion, Ethnie oder Sprachgemeinschaft. Innerhalb von großräumigen, durch Begegnung und Austausch konstituierten geographischen Regionen treten damit spezifische lokale Formen und Praktiken in den Vordergrund, deren Untersuchung eine mehrfach gelagerte, somit transkulturelle Perspektive verlangt. Dazu ist ein Ansatz notwendig, der zwischen Lokalem, Nationalem und Globalem alterniert, diese Bezugsebenen aber nicht nebeneinander, sondern quasi simultan behandelt und sich mit dem Spannungsverhältnis zwischen diesen Ebenen auseinandersetzt.

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Der Begriff 'Transkulturation' (transculturación) geht auf den kubanischen Anthropologen Fernando Ortiz zurück: Er prägte ihn in seiner 1940 erschienenen Studie über die Geschichte des Tabaks und des Zuckers, um diejenigen transitiven Prozesse zwischen Kulturen zu erschließen, die sich mit dem gängigen kulturanthropologischen Erklärungsmuster der Akkulturation nur unzureichend erklären lassen. In jüngerer Zeit wurde der Begriff auf unterschiedliche Weise von Historikern, Soziologen und Kulturwissenschaftlern verwendet – nicht zuletzt von dem Philosophen Wolfgang Welsch. [1]

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Konstruktivismus und weite Teile der 'Postcolonial Studies' fokussieren in erster Linie Wahrnehmungen von Kulturen, das heißt die Konstruktion von kultureller Andersartigkeit ('othering'). Dabei scheint klar, dass sich die Wahrnehmung 'des Anderen' stets und stereotyp am 'Eigenen' orientiert. Können Sie diese Sichtweise bestätigen oder wird das Handlungsvermögen, werden die Spielräume und Optionen der Akteurinnen und Akteure in der interkulturellen Kommunikation unterschätzt?

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In der transkulturellen Forschung geht es vor allem um die Dynamik kultureller Prozesse und damit um Fragen der Relationalität. Kulturbeziehungen bringen mehrere und oft konträre Dimensionen von Relationalität hervor, die sich schlecht auf die Polarität von 'Eigenem' und 'Anderem' reduzieren lassen. In dieser Hinsicht ermöglicht das methodische Herangehen an das Transkulturelle, die komplexere Vielfalt von Differenzkonstruktionen und Aushandlungsstrategien zu untersuchen. Mit anderen Worten: Kulturelle Differenz ist keine feststehende Essenz, sondern wird im Kontext von Begegnungen und den daraus folgenden Beziehungen vermessen, ausgehandelt und stets neu definiert. Solche Aushandlungsprozesse offenbaren folgerichtig eine breite Palette an Strategien, also Optionen und Handlungsmöglichkeiten, die von der selektiven Aneignung, Mediation, Übersetzung, Umdeutung, Neukonfigurierung und Re-Semantisierung bis hin zu Nicht-Kommunikation, Abgrenzung, Ablehnung oder Widerstand reichen können – oder aber durch eine Abfolge oder gar Durchmischung mancher dieser Strategien charakterisiert sind. Eine historisch ansetzende, durch mehrsprachige Quellen abgestützte Untersuchung dieser Strategien, Prozesse und Dynamiken stellt die zentrale Herausforderung transkultureller Forschung dar. Sie dient dazu, etablierten Vorstellungen von festgeschriebenen Identitäten und Alteritäten sowie unverrückbaren Dichotomien zwischen Assimilation und Resistenz entgegenzuarbeiten. Ein Beispiel für Komplexität: Kriege stellen sowohl in der Geschichte als auch in der Gegenwart ein zutiefst paradoxes Phänomen dar. Sie ermöglichen Mobilität von Menschen über globale Grenzen hinweg, auf Dauer fördern sie Erfahrungen des kosmopolitischen Austausches, und erzeugen zugleich doch auch Abgrenzung durch Diskurse und Praktiken radikaler Alterität.

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Laut Edward Said hat die 'Orientalisierung' Asiens erst relativ spät – gegen Ende des 18. Jahrhunderts – eingesetzt, während andere AutorInnen bezüglich des westlichen Blicks auf Asien neuerdings eine Kontinuität seit dem Mittelalter feststellen. Gibt es eine genuin europäische Sichtweise in der 'longue durée' oder können wir einen epochenspezifischen Wandel feststellen?

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Der analytische Wert von Saids Orientalismus-Kritik, die auf das Jahr 1978 zurückgeht, liegt vor allem in der Verquickung von Wissensproduktion, Selbstverortung und Machtstrategien, für die er uns sensibilisiert hat. An seinem Ansatz wurde zu Recht die homogenisierende Sicht und die Verabsolutierung von Identitäten und Alteritäten bemängelt, zudem die Tatsache, dass er den Kolonisierten – den 'Objekten' der Wissensproduktion – kaum Handlungsvermögen zugesteht, darüber hinaus die unscharfe, monolithische Konstitution sowohl des 'Orients' als auch des 'Westens'. Über all diese Aspekte ist bereits viel geschrieben worden. Said selbst hat in einem späteren Buch seine frühere Polemik etwas differenzierter dargestellt. Jedenfalls sollte man es vermeiden, nach Kontinuitäten zu suchen, die kaum historisierbar sind.

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Ebenso problematisch finde ich die Vorstellung einer 'genuin europäischen Sichtweise' – wie soll sie überhaupt aussehen? Innerhalb des europäischen Kontinents gibt es viele Grenzen und Randgebiete, so etwa der Osten, den man oft als 'Orient' Europas bezeichnet hat. Die Einstellung zum Islam unterschied sich innerhalb Europas je nach Standort, Zeit und sozialer Zugehörigkeit der beteiligten Akteure. Am Habsburger Hof im 17. und 18. Jahrhundert zum Beispiel herrschte ein ambivalentes Bild der muslimischen Welt, das durch die unmittelbare Nähe zum Osmanischen Reich geprägt war: 'Die Türken', die bereits einmal Wien erreicht hatten, verkörperten zwar einerseits eine Bedrohung. Diese Wahrnehmung wurde andererseits aber von kontinuierlichen diplomatischen und kulturellen Beziehungen, und dabei von Austausch und Bewunderung überlagert. In Paris dagegen betrachtete man die 'islamische Welt' aus einem ganz anderen Blickwinkel.

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Welche Bedeutung haben aus Ihrer Sicht individuelle Akteurinnen und Akteure insbesondere für die Kontakte zwischen Europa und Asien und den 'kulturellen Transfer' bzw. das 'entanglement' zwischen diesen kulturellen Räumen?

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Die Handlungsmacht der individuellen Akteurinnen und Akteure in den Mittelpunkt zu stellen, – als wichtiges Korrektiv gegen Meistererzählungen – ist relevant. Für diese Frage haben uns die Genderforschung sowie die Mikrogeschichte seit geraumer Zeit sensibilisiert. Vor allem im Rahmen asymmetrischer Machtbeziehungen ermöglicht uns der Fokus auf die Handlungen von einzelnen Akteuren/-innen, Brüche und produktive Ambivalenzen zu entdecken.

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Durch die Konzentration auf Kulturen als Konstrukte ist auch die Vorstellung von einer 'Vermittlung' bzw. von 'Mittlern' zwischen den Kulturen fragwürdig geworden. Wie stehen Sie zu diesen Begriffen? Machen sie neben dem eingeführten Begriff der 'Hybridität' Sinn?

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Wenn man Kulturen in ihrer Prozesshaftigkeit erschließt, spielen 'Mittler' oder 'cultural brokers' eine eigenständige Rolle, indem sie vielfach Grenzen überschreiten und transkulturelle Beziehungen ermöglichen und mitgestalten. Es handelt sich zum Beispiel um Menschen, die mehrere Sprachen beherrschen, sich zwischen kulturellen Kontexten und Medien bewegen und diese 'übersetzen': Missionare, Diplomaten, Dolmetscher, Händler, Journalisten, Verleger, Kuratoren. Im Gegensatz zum Ansatz von Said erweist sich die Produktion von Wissen als vielschichtiger Verhandlungs- und Übersetzungsprozess, der ohne Mittler vor Ort kaum denkbar wäre. Transkulturelle Begegnungen und die daraus folgenden Beziehungen zeigen ein breites Spektrum an Möglichkeiten, die oft fragil bzw. wenig stabil sind. Sie stehen stets in einem Spannungsverhältnis zwischen der Absicht der Selbstvergewisserung und der Erfahrung des sich In-Beziehung-Setzens und bringen häufig viel Neues und Unerwartetes hervor. Mittler sind ebenso Mediatoren wie Gestalter von neuem Wissen.

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Der Begriff der 'Hybridität', geprägt von Homi Bhabha, um für nicht-essenzialistische Formen der Identitäten und Konstellationen, für Paradoxe und Ambivalenzen zu sensibilisieren, [2] hat heute durch inflationären Gebrauch an Erklärungspotenzial verloren. Prinzipiell finde ich den Begriff problematisch, nicht nur aufgrund seiner biologistischen Konnotationen, sondern vor allem weil er 'reine' Kulturen voraussetzt, die dann zu einer Mischform verschmolzen werden, ohne allerdings die Prozesse ihrer Beziehung, das heißt die konkreten und vielschichtigen Aushandlungsmodi der beteiligten Akteure genauer beleuchten oder morphologisch erklären zu können.

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Ein weiteres Problem, das in den letzten Jahren intensiv diskutiert wurde, ist das der Grenzüberschreitung. Eine Grenzüberschreitung ist ja nur möglich, wenn es eine Grenze gibt. Inwiefern trägt das Interesse etwa an 'Grenzgängern' oder an Grenzüberschreitungen aus Ihrer Sicht zur Öffnung oder aber – im Gegenteil – zur Verfestigung von (konzeptionellen oder räumlichen) Grenzen bei?

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Grenzüberschreitung wird unter anderem stark von der Globalisierungsforschung betont, die die Auflösung von Grenzen durch die beschleunigte Mobilität und mediale Vernetzung der Gegenwart zelebriert. Die berühmten 'Scapes' von Arjun Appadurai zum Beispiel setzen eine Polarität zwischen einem vollkommenen raumüberschreitenden Fluss und fest eingegrenzten Räumen voraus. [3] Die transkulturelle Forschung dagegen plädiert für die Transzendierung dieses Gegensatzes, um diejenigen neuen Räume zu lokalisieren, die als Ergebnisse der Grenzüberschreitung entstehen, zugleich aber Grenzen stets aufs Neue definieren. Mit anderen Worten: Dem von Appadurai beschriebenen Phänomen der 'De-territorialization' folgt zugleich eine neue 'Re-territorialization'. Zum einen machen solche Räume in der Wahrnehmung der Akteure kulturelle Differenzen auf eine besondere Art sichtbar und erfahrbar und eröffnen somit ein Feld, auf dem sie die Konstruktion von kulturellen Differenzen selbst in ihren Handlungskonzepten und deren Hervorbringung – etwa ein Kunstwerk, ein architektonisches oder denkmalpflegerisches Konzept – vorführen können. Zum anderen schafft der Prozess der Entgrenzung neue Grenzen, die quer durch nationale und kulturelle Einheiten gezogen werden und neue Konflikte generieren. Heute wird zum Beispiel ein gemeinsamer moderner Begriff für Kunst oder Kulturerbe grenzüberschreitend von Eliten weltweit rezipiert. Dies setzt eine gemeinsame Teilhabe an maßgeblichem Wissen über Kunst und Architektur sowie einen Konsens über die museale oder identitätsstiftende Funktion des Kulturerbes und die Autonomie des modernen Kunstwerks voraus.

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Allerdings trennt heute eine neue Grenze – ebenfalls Nationen und Regionen überschreitend – diese globalen Eliten von denjenigen, die nicht an modernen Kunstinstitutionen und den Diskursen über das moderne Kulturerbe beteiligt sind, und produziert dabei Brüche und Spaltungen auf lokaler Ebene, die dann über die Medien zu globalen Kontroversen und Diskursen werden können. Die Zerstörung der Buddha-Statuen von Bamiyan, der Streit um die dänischen Karikaturen des Propheten Mohammed, die Zerstörung der Werke des indischen Künstlers M. F. Husains durch die Anhänger der radikalen Hindu-Bewegung oder die Inhaftierung des Künstlers Ai Wei-Wei durch die chinesische Regierung sind allesamt Beispiele für brisante Konflikte, die durch neue Hierarchien und Differenzen auf lokaler Ebene erzeugt werden, wo die Sprache über die Autonomie des Kunstwerks keine einheitliche oder gemeinsame Resonanz findet. Gerade die transkulturelle Forschung ermöglicht eine differenzierte und kritische Betrachtung des Kosmopolitismus oder ähnlicher nicht allzu präziser Konzepte wie etwa métissage oder 'Hybridität', die zu Schlüsselbegriffen der modernen Globalisierungsforschung avancierten.

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Auf der konzeptionellen Ebene plädiere ich dafür, die Grenzen und Grenzverschiebungen selbst zum Gegenstand der Forschung zu machen. Es ist dabei konzeptionell hilfreich, zwischen einer Grenze als konkreter linearer Trennungsform und einem Grenzgebiet (Englisch: boundary/frontier) zu unterscheiden. Das letztere wäre vielmehr ein Übergangsraum, der sowohl einen Verbindungsraum als auch eine Abgrenzungszone bildet.

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Welche Chancen bietet die Identifizierung der Ideen wichtiger AkteurInnen aus 'Außereuropa' bzw. Asien mit Blick auf Europa für eine nachhaltige 'Provinzialisierung' Europas? Man denke nur an die große Bedeutung, die etwa Gandhi oder andere antikoloniale Politiker auch für die europäische Geschichte haben. Oder ist die Orientierung an Einzelpersonen und -biographien aus Ihrer Sicht bereits ein genuin europäisches (eurozentrisches) Projekt?

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Einzelbiographien sind keineswegs eine ausschließlich westliche Gattung. Moderne Wissenschaftspraktiken, wie die Biographie, die sich über die Welt verbreitet haben, sind in nicht-europäischen Kontexten in spezifischer Weise angeeignet und für neue Zwecke adaptiert worden. Zum einen verlangt der Anspruch der modernen Wissenschaft eine kritische Distanz und empirische Rigueur gegenüber älteren hagiographischen Traditionen; zum anderen sind Biographien vor allem von 'großen Männern' über längere Zeit in Nationsbildungsprozesse mit einbezogen worden. Aus einer aktuellen Forschungsperspektive ließen sich auch biographische Erzählungen, etwa über Gandhi, jenseits von nationalen Untersuchungseinheiten erschließen. Sein Leben entfaltete sich zwischen Südafrika, Indien und England, seine Philosophie sowie die Praxis des gewaltlosen Widerstands speiste sich aus den verschiedensten Quellen und entwickelte sich zum Teil aus der Auseinandersetzung mit Schriften quer über Sprachen und kulturelle Grenzen hinweg. Untersuchen wir diese Geschichten nicht ausschließlich in den Termini nationaler Großgestalten (zum Beispiel Gandhi als Quintessenz 'indischer' Traditionen) oder aber als 'westliche Derivate' (zum Beispiel Nehru), sondern vielmehr im globalen Rahmen als Teil einer Verflechtungsgeschichte der Moderne, so ist die Polarität zwischen Zentrum und Peripherie oder auch zwischen Metropole und Kolonie bereits gebrochen.

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Wir verfügen über Berichte aus der Feder zahlreicher europäischer Reiseschriftsteller über 'indigene' Menschen in Ländern außerhalb Europas. Deren Sicht bleibt dagegen unterrepräsentiert, oft auch in der Forschung selbst. Wie gehen Sie diesen Punkt in Ihren eigenen Arbeiten methodisch und quellentechnisch an?

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Die Suche nach marginalisierten Stimmen in den Quellen hat die Forschung immer wieder herausgefordert und stimuliert. Über längere Zeit haben wir Methoden entwickelt und gelernt, Quellen gegen den Strich zu lesen. Für Wissenschaftler, die sich mit Themen der Vormoderne beschäftigen, ist das ein bekanntes Problem. Es ist aber nicht ausschließlich eine Frage der 'fehlenden' Quellen, sondern oft auch eine der fehlenden Sprach- und kulturellen Kompetenzen der Forscher. Die transkulturelle Forschung ist häufig auf die Zusammenarbeit von Wissenschaftlern mit unterschiedlichen Kompetenzen angewiesen.

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Aus der Sicht meiner Arbeit über die Kunstgeschichte des indischen Subkontinents besteht das Problem oft darin, dass schriftliche Quellen, etwa über den Kunstbegriff, die Organisation der künstlerischen Produktion oder über die biographischen Wege einzelner Künstler, einfach fehlen oder aber einen stark normativen Charakter haben, der viel mehr Stabilität und Homogenität suggeriert, als die Kunstwerke selbst zeigen. Es geht also auch darum, Text und Praxis zusammenzubringen. Das Verständnis von 'Kunst' lässt sich für den indischen Kontext schlecht rein lexikalisch-philologisch erschließen. Textquellen, wenn vorhanden, blenden eine ganze Reihe von Phänomenen, die für den Kunstbegriff konstitutiv waren, fast völlig aus: etwa die Migration von Künstlern, Gegenständen und Praktiken im eurasischen Großraum sowie auch zwischen den regionalen Höfen des Subkontinents oder die Begegnung mit europäischen Werken und Traktaten über die Vermittlung der Jesuiten. Ein Beispiel ist die Rezeption von Dürers Traktaten über die Perspektive, die weitere Bildkonzepte mit sich brachten. Die Bildpraxis ist also beteiligt an diesen Phänomenen. Der Kunstbegriff ist konstituiert aus der Verflechtungsgeschichte zwischen normativen Vorstellungen von Ästhetik, eingewanderten Texten und Objekten sowie deren Umsetzung in der Bildpraxis.

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Was sind aus Ihrer Sicht Desiderate für zukünftige Forschungen?

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Eine wichtige Herausforderung – und damit ein Desiderat – für die künftige Forschung besteht darin, eine neue Reflexion über die gängigen Fachgrenzen und institutionellen Strukturen anzuregen. Darüber hinaus geht es darum, die von den modernen Disziplinen in den 'Humanities' – etwa die Kunstgeschichte – inzwischen über globale Grenzen hinweg mitgetragenen Wertigkeiten kritisch zu hinterfragen. So hat sich im Westen die Kunstgeschichte das Hegelianische Narrativ des Fortschritts angeeignet, ein Narrativ, das sich im Einklang mit der musealen Konstruktion der Geschichte der Errungenschaften einer als 'westlich' bezeichneten Zivilisation entfaltete. Dagegen pflegten die relativ jungen Staaten der außereuropäischen Welt – zu denen heute die noch jüngeren Nationalstaaten der postsowjetischen Welt hinzugekommen sind – eine im Rahmen der einzelnen Nation geformte Erzählung von einer uralten, einzigartigen Kultur, die ebenfalls über ihre neu geschriebene Geschichte und jüngst etablierte Museen zur Schau gestellt wird. Beide Positionen – sowohl die westeuropäische als auch die außereuropäische – bedingen sich gegenseitig und bilden gemeinsam den Kanon der Kunstgeschichte. Dabei werden historische Prozesse der Verflechtung sowie die konstitutive Wirkung von ethnisch-religiöser Pluralität häufig ausgeblendet oder unter unzureichende Begriffe wie etwa 'Einfluss', 'Transfer' oder 'Anleihe' subsumiert. Damit hängen auch diejenigen typisierenden Bezeichnungen zusammen – islamisch, buddhistisch oder sogar westlich beeinflusst, oder auch indisch, koreanisch, usbekisch usw. –, mit denen Kunstformen und Gegenstände oft etikettiert und die über diesen Weg zur Stiftung von Identitäten gebraucht werden. [4] Konstituieren wir unsere Untersuchungseinheiten nach anderen Kriterien, wie bereits oben erwähnt, so verlieren die gängigen Etiketten und Taxonomien an Erklärungswert.

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Weiterhin hinterfragt die transkulturelle Sicht auf die Kunstgeschichte etliche durch die Disziplin getragene Werturteile kritisch – etwa die von der künstlerischen Moderne inspirierte Erhöhung der 'Originalität' zum zentralen Wert, welche neue Dichotomien zwischen 'Original' und Kopien oder Derivaten stiftet und damit historisch verbreiteten Prozessen wie etwa der Wiederverwendung, der Nachahmung oder dem Replizieren nicht gerecht wird oder sie als kulturell minderwertig abtut. Vor allem, aber nicht nur, in der Baukunst sind Praktiken wie die materielle Wiederverwendung und Imitation stets quer über Zeiten und Räume anzutreffen. Ihre vielfältige Morphologie verlangt danach, mit neuen Termini beschrieben zu werden, etwa als Form des kreativen Umgangs mit angeeigneten oder 'eingewanderten' Objekten, als dialogische Beziehung mit kultureller Differenz, als Mittel der Domestizierung des Fremden oder als Anerkennung seiner Autorität.

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Die global vernetzte Wissenschaftswelt der Gegenwart, in der der Kommunikationsprozess meistens in einigen wenigen europäischen Sprachen stattfindet, erfordert Begriffe, die aus der Zusammenarbeit einer Vielzahl von regionalen Expertisen entwickelt werden und die Herausforderung der kulturellen Pluralität sichtbar machen. Dies mag nach einem sehr utopischen Ziel klingen. Es ist jedoch unentbehrlich, um ein analytisches Raster zu schaffen, um über mehrere Kulturen in einer gemeinsamen nichthierarchischen Wissenschaftssprache kommunizieren zu können.

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Und schließlich plädiert die transkulturell ausgerichtete Kunstgeschichte dafür, die Frage der Relationalität in den Mittelpunkt des wissenschaftlichen Diskurses zu stellen, um Differenzen, Ungleichheiten und Asymmetrien für die Forschung produktiv zu machen. Dieses ehrgeizige Vorhaben ist aber mit institutionellen Hürden konfrontiert. Denn die maßgebenden Strukturen in der universitären Lehre und Forschung, zum Beispiel die institutionellen Schranken zwischen den Fachbereichen, sind ebenfalls ein Produkt von nationalstaatlichem Denken weltweit sowie der Zivilisationskategorien des 19. Jahrhunderts. Diese Strukturen transportieren entsprechende Wertigkeiten mit sich. Sie bieten kaum die notwendigen Voraussetzungen für eine neue Art der Zusammenarbeit der fachlichen und regionalen Expertisen. Diese Zusammenarbeit ist aber wichtig, um den transkulturellen Ansatz in Lehre und Forschung stringent verwirklichen zu können. Wir sind also aufgefordert, uns für den Wandel auf der institutionellen Ebene einzusetzen.

Gesprächspartner:

Prof. Dr. Joachim Eibach
Universität Bern
Historisches Institut
Länggassstrasse 49
CH-3000 Bern 9
eibach@hist.unibe.ch

Prof. Dr. Monica Juneja
Professur für Globale Kunstgeschichte
Exzellenzcluster "Asien und Europa im globalen Kontext"
Universität Heidelberg
Karl Jaspers Centre
Voßstraße 2
69115 Heidelberg
juneja@asia-europe.uni-heidelberg.de

Prof. Dr. Claudia Opitz-Belakhal
Universität Basel
Departement Geschichte
Hirschgässlein 21
CH-4051 Basel
claudia.opitz-at-unibas.ch



[1] Für eine ausführliche, kritische Auseinandersetzung mit diesen Interpretationen siehe meine Einleitung in: Michael Falser / Monica Juneja (Hg.): Kulturerbe-Denkmalpflege transkulturell: Grenzgänge zwischen Theorie und Praxis, Bielefeld 2012 (im Druck).

[2] Homi Bhabha: The Location of Culture, London 1994.

[3] Arjun Appadurai: Modernity at Large: Cultural Dimensions of Globalization, Minnesota 2000.

[4] Ausführlicher zu diesem Thema: Monica Juneja: Global Art History and the 'Burden of Representation', in: Hans Belting / Jakob Birken / Andrea Buddensieg / Peter Weibel (Hg): Global Studies. Mapping Contemporary Art and Culture, Ostfildern 2011, 274-297; dies. / Matthias Bruhn / Elke Werner (Hg): Universalität in der Kunstgeschichte. Themenheft Kritische Berichte 2012, Heft 2.

Empfohlene Zitierweise:

Joachim Eibach / Claudia Opitz-Belakhal / Monica Juneja : Kultur, Kulturtransfer und Grenzüberschreitungen. Joachim Eibach und Claudia Opitz im Gespräch mit Monica Juneja , in: zeitenblicke 11, Nr. 1, [07.11.2012], URL: https://www.zeitenblicke.de/2012/1/Interview/index_html, URN: urn:nbn:de:0009-9-34709

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