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Abstract

The interview with one of the leading global historians in the German-speaking world, the Berlin-based Professor Sebastian Conrad, deals with the history, analytical innovations, and also problems of writing 'global history'. More specifically, Conrad compares this perspective with other competing approaches beyond the national framework (like transnational history), and critically analyses the potential of global history to overcome the historiographically established dichotomy between the 'west and the rest'. Here, he addresses pitfalls and problems of the still unsettled 'great divergence' debate, and also critically reflects on the question how globally is global history actually written today, and to what extent is it informed through the Anglo-Saxon cultural and lingual dominance. Lastly, Sebastian Conrad points to those fields that in his opinion will attract much attention in the coming years – such as the discussion of 'early modernities' in other world regions, which are not understood as a diffusion of European norms and values. Here, according to Conrad, the main problem will be not to construct parallel paths of historical progress, which are then ultimately culminating in a (previously defined) 'modernity'. Otherwise, processes of rationalisation, individualisation, and 'disenchantment' would remain the implicit categories of analysis, thus preventing the analysis of autochthonous processes of 'modernisation' in different parts of the world.

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(Kulke): 2006 wurde das "Journal of Global History" gegründet – seither fungiert es als eines der wichtigsten Organe dieser Methodik und sieht seinen eigenen Auftrag darin, die Dichotomie "between the West and the rest" aufzuheben: Ist die Globalgeschichte dazu in der Lage?

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Grundsätzlich gehört es zu den Anliegen der Globalgeschichte, diese Dichotomie und den ihr zugrundeliegenden Eurozentrismus zu überwinden. Die Betonung von relationaler Geschichte, der Transfer- und Austauschprozesse, trägt grundsätzlich dazu bei, sich vom West-Rest-Denken zu verabschieden. Gerade für die frühneuzeitliche Epoche gilt ja, dass dieses Erklärungsmodell noch gar nicht zur Verfügung stand.

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Allerdings muss man auch sagen, dass "Westen" und "Osten/Orient/Rest" ja nicht nur eine Analysekategorie ist, sondern seit dem 19. Jahrhundert ein Vokabular bereitstellte, mithilfe dessen historische Akteure die Welt ordneten. In Ostasien beispielsweise entstand in dieser Zeit schon auf begrifflicher Ebene die Gegenüberstellung von "Medizin" und "westlicher Medizin", von "Kleidung" und "westlicher Kleidung" und so weiter. Viele Akteure operierten dabei mit einem Konzept vom "Westen", das Dipesh Chakrabarty einmal als "hyperreal Europe" bezeichnet hat und das ihnen half, Argumente für oder wider Reformen zu formulieren und zu begründen. Diese Dimension des West-Ost-Denkens wird also auch für Globalhistoriker relevant bleiben, als Untersuchungsgegenstand.

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Schließlich kann man sich auch fragen, ob nicht auch als Analysekategorie einige der neueren Debatten die Dichotomie durch die Hintertür wieder einführen. Oder sogar durch die Vordertür: Die große Diskussion über die "Great Divergence" ist ja im Kern eine Frage nach Europa oder Asien, West oder Ost. Für Autoren wie Ken Pomeranz geht es nicht in erster Linie darum, diese räumlichen Einheiten zu überwinden, als darum, die Balance zwischen ihnen neu zu justieren.

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(von Brescius): Welche Vorteile besitzt die Methode der Globalgeschichte gegenüber konkurrierenden Ansätzen wie der transnationalen Geschichtsschreibung, die ebenfalls das 'container-Modell' des Nationalstaats überwinden möchten?

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Ja, auf dem akademischen Marktplatz konkurriert Globalgeschichte gegenwärtig mit einer Reihe anderer Ansätze, die ebenfalls versprechen, enge nationalgeschichtliche Deutungsmuster zu überwinden. Neben der transnationalen Geschichte kann man ja auch an Weltgeschichte oder die Geschichte der Globalisierung denken. Um es gleich vorweg zu sagen: Bei allen Nuancen im Einzelnen sollte man sich mit einer scholastischen Feinunterscheidung zwischen ihnen nicht allzu lange aufhalten. Die genannten Ansätze haben viel gemein; vor allem teilen sie das Ziel, historische Fragestellungen zu verfolgen, ohne sich durch die Grenzen von Nationalstaaten, von Imperien oder anderen politischen (aber auch wirtschaftlichen oder kulturellen) Einheiten beschränken zu lassen. Sie zielen also auf eine Abkehr vom methodologischen Nationalismus.

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Was konkret die transnationale Geschichte betrifft, so zielt sie meist auf Phänomene, die räumlich deutlich beschränkter sind – und für die der Begriff der Globalgeschichte auch anmaßend wirken könnte. Ganz allgemein formuliert geht es bei transnationaler Geschichte darum, Gesellschaften in ihren grenzüberschreitenden Verflechtungsbeziehungen zu untersuchen. Inwiefern war gesellschaftliche Dynamik geprägt durch Prozesse, welche die Grenzen der jeweiligen Gesellschaften transzendierten? Auch hier handelt es sich in erster Linie um einen heuristischen Zugriff, nicht um eine Methode.

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In der Praxis haben sich viele Untersuchungen zur transnationalen Geschichte auf Austauschprozesse zwischen zwei Gesellschaften konzentriert. Diese bilaterale Struktur hat bisweilen dazu geführt, dass darüber hinausreichende Zusammenhänge nicht in den Blick kommen; darin liegt eine Grenze transfergeschichtlicher Arbeiten. Eine andere Kritik richtet sich auf die konzeptionelle Rückbindung an die Nation – ohne analytische Sensibilität für die große Prägekraft des Nationalstaats in vielen Bereichen historischer Wirklichkeit, so das Argument, erscheint auch eine transnationale Perspektive wenig sinnvoll. Doch wird, so lautet die Gegenposition, dadurch nicht an genau jener Einheit festgehalten, die eigentlich überwunden werden soll? Darüber hinaus würde ein solcher Zugriff transnationale Perspektiven auf die Frühe Neuzeit schon terminologisch unmöglich machen. Und schließlich: Selbst in der modernen Welt waren Nationalstaaten lange Zeit eine Ausnahmeerscheinung. Eine zu enge Auslegung des Begriffs "transnational" würde ihn also fast unbrauchbar machen – und ihm, angesichts der späten Nationalstaatsbildung in vielen Teilen der Welt, zugleich eine eurozentrische Schieflage geben. Einige Autoren haben versucht, diesen begrifflichen Engpässen durch alternative Formulierungen – transregional, translokal – Rechnung zu tragen. Diese Debatten sind wichtig im Sinne einer Schärfung unseres theoretischen und methodischen Zugriffs. Aber wie schon gesagt, sollte man sich nicht auf eine penible Unterscheidung von Begriffen einlassen; in erster Linie kommt es auf die Überzeugungskraft der Darstellung und Analyse an.

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(von Brescius): Studien zum Imperialismus unterlagen in den letzten Jahrzehnten spürbaren Schwankungen, und genießen zurzeit wieder erhöhte Aufmerksamkeit (nicht zuletzt in den Debatten über den vermeintlichen Imperiums-Charakter der Vereinigten Staaten). Gleichzeitig hat das Feld der Globalgeschichte seit den 1990er Jahren einen erheblichen Aufschwung erlebt. Ungeachtet des modernen 'Labels', wie neu ist das Schreiben von Globalgeschichte, und wie ist ihr Verhältnis zur Geschichte des Imperialismus?

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Die Globalgeschichte kann auf verschiedene Vorläufer zurückgreifen – und dabei sind die früheren Formen der Universal- und Weltgeschichtsschreibung nicht einmal die wichtigsten. Tatsächlich knüpfen viele Beiträge, die sich nun auf den Seiten des Journal of Global History oder des Journal of World History finden, an Untersuchungsfelder an, die es schon lange gibt: Die Migrationsgeschichte, die Geschichte der Weltwirtschaft, die Geschichte der Technologie und des Technologietransfers, die Geschichte kulturellen Austauschs und so fort. Dazu gehört auch die Imperialgeschichte – und auch in den jüngeren und viel gelobten Globalgeschichten der Imperien ist nicht alles revolutionär, sondern war in den entsprechenden Teilgebieten schon bekannt. Nicht alles ist also neu.

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Trotzdem gibt es zweifellos neue Tendenzen in der Empire-Forschung. Erstens haben Historiker eruiert, in welchem Maße die großen Reichsbildungen zur Integration der Welt beigetragen haben. Insbesondere das British Empire ist dabei als treibende Kraft von Globalisierungsprozessen beschrieben worden. Zweitens geraten nicht-westliche Imperien – der Imperialismus der Qing, Russland, aber auch das islamische Sokoto-Kalifat in Westafrika oder das Imperium der Komantschen – nun stärker in den Blickpunkt. Und drittens wird die "Normalität" von Empires betont, insbesondere im Vergleich zum Nationalstaat, der in einer historischen Langzeitperspektive viel weniger prominent erscheint als in der bisherigen Geschichtsschreibung.

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Globalgeschichtliche Deutungen haben also das Feld der Empire-Forschung verändert. Aber umgekehrt bleibt die Untersuchung von Imperien ganz zentral für die Globalgeschichte – und zwar ganz einfach deshalb, weil sie dafür sorgt, dass die Dimensionen von Gewalt und Unterdrückung nicht aus dem Fokus verschwinden. Das ist insbesondere deshalb wichtig, weil sich die Integration der Welt seit dem 16. Jahrhundert, und mehr noch seit dem 19. Jahrhundert, unter Bedingungen kolonialer Herrschaft vollzog. Globale Verflechtung – die Mobilität von Waren, Menschen, Ideen und Institutionen – stand im Zeichen imperialer Strukturen. Die Weltwirtschaft beruhte auf dem Einsatz und der bisweilen gewaltsamen Ausbeutung von Arbeitskraft, Rohstoffen und auch der Nachfrage kolonisierter Gesellschaften. Kolonialismus war ein zentraler Bestandteil der Weltordnung – aber auch der rechtlichen und ideologischen Legitimierung dieser Ordnung. Globalisierungsprozesse waren also von der imperialen Ordnung der Welt nicht zu trennen. Umso wichtiger ist es, bei der Rekonstruktion der globalen Vergangenheit die Begleiterscheinungen und Kosten dieser Ordnung nicht aus dem Blick zu verlieren. Globalisierung war nicht einfach ein naturgesetzlicher Drang zu immer engerer Vernetzung und Marktintegration.

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(von Brescius): Studien zum Imperialismus waren – und sind weiterhin – oft geleitet durch die Dichotomie von einer imperialen Metropole und einer überseeischen Peripherie – selbst in Werken, welche beide Sphären in einem gemeinsamen analytischen Feld betrachten und stets die 'Rückwirkungen' der kolonialen Erfahrung auf europäische Gesellschaften betonen. Was dabei aus dem Blick rückt, sind die Rückwirkungen der kolonialen Expansion auch auf Länder, welche offiziell keine Überseegebiete besaßen, aber durch eine Vielzahl individueller Akteure in das koloniale System anderer Staaten eingebunden waren. Inwiefern können Globalgeschichten ein Korrektiv zu solch national abgegrenzten Imperialgeschichten darstellen?

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Das ist eine gute Beobachtung. Ich sehe das genauso – auch die postkoloniale Kritik, und die Arbeiten, die an "repercussions" und "Rückwirkungen" interessiert waren, haben oft im Kern eine binäre Struktur beibehalten. Das hat auch damit zu tun, dass Imperien und Kolonien meist lediglich als territoriale Einheiten verstanden werden. Es könnte hilfreich sein, eher an imperiale Strategien oder Praktiken zu denken – an Technologien in einem Foucaultschen Sinne, und dann zu verfolgen, wo diese Technologien zur Anwendung kamen, unabhängig von der Hier-versus-Dort-Struktur von "Mutterland" und Kolonie. Der von Ann Laura Stoler, Carole McGranahan und Peter Perdue herausgegebene Band Imperial Formations bietet hierzu interessante Anregungen.

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(von Brescius): Sind Globalgeschichte und die Geschichte der Globalisierung identisch? Und wie lässt sich der Kritik begegnen, die Geschichte der Globalisierung sei eine Form von writing history backwards?

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Seit einigen Jahren findet der Begriff auch bei Historikern Verwendung. Aber das Konzept der Globalisierung ist theoretisch vage und relativ unbestimmt. Es macht wenige Annahmen über die Qualität des historischen Wandels, und es bleibt unklar, ob Globalisierung die Ursache oder vielmehr die Folge eines grundlegenden historischen Prozesses darstellt. Auch die Datierung des Phänomens ist umstritten. Historiker wie Bruce Mazlish knüpfen an eine ganz auf die Gegenwart fokussierte Sicht auf Globalisierung an, die erst um 1970 eingesetzt habe, und postulieren eine New Global History, die sich ganz auf diese Epoche konzentriert. Die meisten Historiker nehmen hingegen an, dass der Prozess deutlich länger in die Vergangenheit zurückverfolgt werden kann. In jedem Fall aber lässt sich Globalgeschichte nicht mit Globalisierungsgeschichte gleichsetzen; vielmehr ist die Geschichte der Globalisierung nur ein Teilgebiet mit einer ganz spezifischen Fragestellung aus dem viel weiter gefassten Bereich der Globalgeschichte. Ich bin auch skeptisch, ob Globalisierungsgeschichte auf Dauer ein wichtiges Feld sein wird, genau aus dem Grund, den Sie ansprechen, denn in der Tat bleibt sie teleologisch ausgerichtet.

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(von Brescius): Gerade komparative Studien neigen mitunter dazu, Europa als Maßstab zu nehmen, anhand dessen die Entwicklung außereuropäischer Kulturen gemessen wird und deren historische Verläufe somit nicht für sich stehen, sondern vielmehr in einen eurozentrischen Analyserahmen eingegliedert werden. Die zurzeit geführte 'great divergence debate' scheint emblematisch zu sein, im Spiegelbild Europas eine (zumindest für lange Zeit) 'failed modernity' anderer Welt-Regionen zu erkennen. Wie erlauben globalgeschichtliche Arbeiten, den inhärenten Eurozentrismus dieser komparativen Arbeiten zu überwinden?

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Die Great-Divergence-Debatte ist insofern ein interessanter Fall, weil ja hier der Eurozentrismus der Interpretation häufig mehr oder weniger durch ihre Inversion überwunden werden soll. Es besteht bisweilen die Tendenz, das anti-eurozentrische Glaubensbekenntnis zu verabsolutieren und auf den Kopf zu stellen. Eine solche Umkehrung – die Privilegierung nicht-europäischer Vergangenheiten – trägt nicht dazu bei, die grundsätzliche Problematik – die Bemessung historischer Realität an einem normativ aufgeladenen Standard – zu lösen. Das Buch ReOrient von Andre Gunder Frank ist ein gutes Beispiel für eine Richtung, die den Eurozentrismus durch einen dezidierten Sinozentrismus ersetzt. Die europäische Dominanz im 19. Jahrhundert wird bei Frank als kurzes Interludium gedeutet, das eine Jahrhunderte währende chinesisch-asiatische Hegemonie lediglich kurzfristig unterbrochen hat. Solche Beispiele findet man gegenwärtig häufiger.

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Generell bleibt das Bestreben, den Eurozentrismus zu überwinden, eine der Antriebsfedern des gegenwärtigen Globalgeschichte-Booms; aber zugleich werden Historiker auch immer wieder an die Grenzen erinnert, die einem dabei gesetzt sind. Analytisch gesprochen meint Eurozentrismus ja immer zweierlei: Einerseits die Tatsache, dass Begriffe und Konzepte der europäischen Geschichte auf andere Vergangenheiten übertragen werden und so die Deutung dieser Vergangenheiten prägen; und andererseits die sozusagen "realgeschichtliche" Bedeutung Europas in der Weltgeschichte der letzten 200 Jahre. Allerdings sind diese beiden Ebenen miteinander verbunden – und eine Kritik am Diskurs des Eurozentrismus, der man häufig begegnet, greift so gesehen zu kurz. Schließlich hat es ethnozentrische Perspektiven ja immer und in vielen Regionen gegeben – neben dem Eurozentrismus also auch den Sinozentrismus und andere Zentrismen. Aber solange man sich auf der Ebene von Begriffen und Narrativen bewegt, blendet man die ungleichen Machtverhältnisse aus, die eurozentrische Kategorien überhaupt erst so allgegenwärtig gemacht haben.

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(Kulke): Kurz vor Erscheinen der ersten Ausgabe des "Journal of Global History" äußerte Margrit Pernau in einem wichtigen Artikel ihre Bedenken gegenüber globalgeschichtlichen Ansätzen; und auch Birgit Schäbler deutet in ihrer letzten Studie auf die Gefahr hin, dass außereuropäische Geschichte "nur in (…) Beziehung zum Westen erfasst wird"... "dass die Weltregion nur in der Terminologie eines Narratives auftaucht, das als die globale Geschichte des Westens definiert wird". Bestehen diese Ängste zu Recht?

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Diese Befürchtungen sind ernst zu nehmen und kaum einfach von der Hand zu weisen. Insbesondere besteht die Tendenz, die Suche nach relevanter Sekundärliteratur zunehmend auf englischsprachige Publikationen zu beschränken. Einige Felder – etwa die Globalgeschichte der Menschenrechte – sind für solche Perspektiven besonders anfällig. Es ist auch klar, dass das nicht ausreicht. Das Ziel muss eine avancierte Globalgeschichte sein, die nicht im Vogelflug über die Erde kreist und lediglich eine abstrakte Makroebene historischer Entwicklung bearbeitet, sondern lokal und regional zurückgebunden bleibt und auf der Basis ausgeprägter fachlicher Expertise zu sprachlichen, kulturellen und historischen Bedingungen in unterschiedlichen Regionen betrieben wird. Ohne die Verankerung in den Regionalwissenschaften und ihren Forschungsergebnissen bleibt Globalgeschichte unbefriedigend.

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Das ist übrigens auch der Grund, warum der MA-Studiengang Global History, der seit Herbst 2012 in Berlin angeboten wird, als gemeinsames Angebot von Freier Universität und Humboldt Universität, stark auf den Regionalwissenschaften basiert. Die Idee ist, dass die Studierenden zwar mit den Themen, Fragestellungen und Problemen der Global History konfrontiert werden, dass sie aber zugleich in einer Region verankert bleiben und in dem jeweils zuständigen Institut Seminare belegen. Dieser regionale Schwerpunkt kann dabei alles Mögliche sein – von Kamerun und Vietnam bis Indien oder Portugal. Oder von mir aus auch Deutschland. An diesem Studiengang arbeitet übrigens auch Margrit Pernau mit – was zeigt, dass Globalgeschichte und Regionalstudien sich hier in einem sehr produktiven Dialog befinden.

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(Kulke): Das europäische 18. Jahrhundert wird romantisiert als Zeitalter der Aufklärung bezeichnet und stellt ein wichtiges Forschungsfeld innerhalb der Geschichts- und Kulturwissenschaften dar. Mitte der 1990er Jahre argumentierte Reinhard Schulze, es hätte diesen intellektuellen Prozess von der Selbstbefreiung des Menschen auch analog in islamisch geprägten Kulturräumen gegeben, sei aber hier durch den europäischen Kolonialismus verhindert worden. Hierfür wurde Schulze stark kritisiert und die Debatte scheint, zumindest innerhalb der Islamwissenschaft, seither festgefahren. Kann der globale Blick auf die Aufklärung hier neue Impulse setzten. Wie sieht es beispielsweise in China und Japan in dieser Epoche aus?

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Die Diskussion über eine islamische Aufklärung ist bislang eine deutsche Debatte geblieben, und als Fachfremder kann ich nicht recht beurteilen, wie produktiv diese Argumentation ist. Aber wenn man einen Schritt zurücktritt, dann zeigt sich rasch, dass Thesen wie die von Reinhard Schulze in einen größeren Zusammenhang gehören, nämlich in die an verschiedenen Orten geführte Diskussion über "early modernities". Ganz allgemein gesprochen geht es dabei um die Frage, welche Bedeutung den unterschiedlichen kulturellen Ressourcen nicht-westlicher Gesellschaften beim Übergang in die moderne Welt zugesprochen werden kann. Historiker haben schon länger nach autochthonen Prozessen der Rationalisierung gefragt, die nicht als Ergebnis einer Diffusion europäischer Werte und Normen verstanden werden müssen. Die Suche nach den nicht-eurozentrischen Ursprüngen der Moderne basierte auf der Anerkennung kultureller und sozialer Dynamik in vielen Gesellschaften vor ihrer Begegnung mit und Übermächtigung durch den Westen. Das Ziel bestand darin, konventionelle Vorstellungen von traditionellen und stagnierenden Gesellschaften, von "Völkern ohne Geschichte" durch eine Anerkennung multipler Modernisierungspfade zu ersetzen.

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Ich bin überzeugt, dass auf diesem Feld in den nächsten Jahren sehr interessante Diskussionen zu erwarten sind. Allerdings besteht die Gefahr, aus verschiedenen "early modernities" parallele Entwicklungswege zu konstruieren, die dann doch bei einer (vorher definierten) "Moderne" ankommen. Prozesse der Rationalisierung, der Individualisierung, der "Entzauberung" bleiben dann der implizite Maßstab. Lokale Dynamik wird dann mit welthistorischer Besonderheit aufgeladen, wenn sie als Fortschritt auf einem universalen Pfad verstanden werden kann. Aber diese Deutung ist problematisch, da sie letzten Endes ein identisches Ziel suggeriert – eine moderne, kapitalistische Gesellschaft – die jedoch nicht durch die umwälzenden Wirkungen des Kontakts mit dem Westen, sondern auf der Basis eigener Bestände und eines "wiederentdeckten" kulturellen Erbes hervorgebracht wurde: eine Teleologie universaler "Entzauberung", die sich innerhalb jeder Gesellschaft selbständig realisiert, ganz intern aber gleichzeitig in der ganzen Welt. Auf diese Weise wird die moderne Geschichte zu einer Anordnung paralleler Zivilisationen stilisiert, die von der tatsächlichen Verflechtung und systemischen Integration der Welt abstrahiert. Von diesen Teleologien muss sich die Diskussion lösen; nur dann kommt die Vielfalt kultureller Dynamik, die grundsätzliche Offenheit der Zukunft in der Frühen Neuzeit wieder in den Blick.

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Ähnlich würde ich die Problematik im Hinblick auf das Thema der Aufklärung sehen. Die Suche nach anderen, parallelen Aufklärungen kann faszinierend sein – mehr verspreche ich mir jedoch von einer globalgeschichtlichen Kontextualisierung. Damit meine ich zwei Aspekte: Zum einen war "Aufklärung" eine Reaktion auf globale Herausforderungen; denken wir an die Wissenschaften vom Menschen, an das Völkerrecht, die Ethnologie, natürlich die Stadientheorien aus Edinburgh, die Menschenrechte und so weiter: all diese Felder zeugen von dem Bemühen, mit der Herausforderung globaler Horizonte zurecht zu kommen. Und zum anderen war "Aufklärung" nicht nur das Werk von Europäern, sondern in vieler Hinsicht das Ergebnis von Austauschbeziehungen und Interaktionen, das Ergebnis einer transnationalen Ko-Produktion von Wissen. Die Arbeiten, die in den letzten Jahren zur Revolution in Haiti erschienen sind, aber auch viele neuere Studien im Feld der Wissenschaftsgeschichte haben viel zu dieser neuen Sicht beigetragen.

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(von Brescius): In Anlehnung an die Kritik zahlreicher Afrikahistoriker, nicht zuletzt pointiert hervorgebracht von Frederick Cooper, lässt sich fragen: wie global ist Globalgeschichte wirklich?

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Grundsätzlich glaube ich, dass Cooper hier einen wichtigen Punkt getroffen hat – auch wenn mir seine radikale Skepsis zu weit geht; Cooper tendiert ja dazu, fast alle Makrokonzepte zu verbieten (bis auf Empire, das lässt er eigentlich für alle Zeiten gelten) – mit der Begründung, dass es immer Ausnahmen gegeben habe und die Wirklichkeit komplexer sei, als diese Konzepte suggerieren. Aber wir bleiben auf Makrokonzepte angewiesen, jedenfalls für die Beantwortung einer ganzen Reihe von Fragen.

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Aber die Skepsis gegenüber einer vorschnellen Verwendung von global und "Globalisierung" ist nicht unbegründet. Auch Cooper räumt ja ein, dass grenzüberschreitende Interaktionen häufig eine wichtige Rolle spielen. Aber er beharrt darauf, dass sie von Fall zu Fall eine unterschiedliche Dynamik aufweisen und sich nicht ohne Gewaltanwendung unter ein Großkonzept subsumieren lassen. Zu behaupten, die Reichweite sozialer Netzwerke oder Prozesse sei "global", mag bisweilen gut klingen, sagt aber im Einzelfall nicht unbedingt etwas aus. Vielmehr geht es darum, die konkreten räumlichen Verbindungen zu beschreiben, ohne dabei von vorneherein eine globale Ausdehnung zu unterstellen. Dieses Plädoyer für genaues Hinsehen, für raum-zeitliche Spezifik und die Berücksichtigung lokaler Dynamik leuchtet mir eigentlich sehr ein.

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(Kulke): Der Zeitraum vor dem 15. Jahrhundert, in dem europäische Mächte erst gewaltvoll in ein Weltsystem eindringen mussten, dass bestens ohne europäische Güter und kulturelle Errungenschaften auskam, wird allzu gerne übersehen. Und seit der wichtigen Studie Janet Abu-Lughods "Before European Hegemony. The World System 1250-1350", die genau diesen Ansatz umgehen will, indem sie sich auf das Weltsystem des 13. und 14. Jahrhunderts bezieht, ist nur wenig dazugekommen. [1] Macht man es sich also nicht ein wenig zu einfach, wenn man sich bei der Analyse globalhistorischer Narrative sowie bei der Erklärung der späteren Dominanz europäischer Gesellschaften in der Regel auf die letzten 200 Jahre fokussiert?

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Die Frage nach den Ursachen für die Great Divergence hat in der Tat einen hohen Stellenwert in gegenwärtigen Diskussionen, und sie bringt bisweilen einen Fokus auf die letzten beiden Jahrhunderte mit sich. Aber das ist nur eine unter vielen möglichen Fragestellungen, und mir scheint, dass in den letzten Jahren doch viele interessante Arbeiten zu früheren Epochen entstanden sind. In der Mediävistik kommt die Diskussion gerade erst in Gang, aber einige Kolleginnen und Kollegen - etwa Michael Borgolte an der Humboldt-Universität, oder Catherine Holmes in Oxford - haben dazu interessante Überlegungen angestellt. Für die Frühe Neuzeit gibt es mittlerweile eine Reihe von sehr spannenden Arbeiten. Dazu gehören etwa die umweltgeschichtlichen Arbeiten wie etwa von John Richards; die große Makroperspektive von Victor Lieberman, der in seinen beiden monumentalen Bänden die Strange Parallels der Staatsbildung in Südostasien, Japan, China, Indien, Russland und Frankreich vergleicht, und zwar ab dem 8. Jahrhundert.

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(von Brescius): Wie global wird Globalgeschichte heute praktiziert? Inwiefern findet die Methodik Verwendung in den Arbeiten von Historikern nicht-westlicher Kulturkreise – und wenn nicht (oder kaum): warum? Daran anschließend: inwiefern wird das Erkenntnispotenzial der Globalgeschichte durch die sprachliche und kulturelle Dominanz der angelsächsischen Forschung begrenzt?

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Das ist eine wichtige Frage, denn "Welt" und Globalität können von unterschiedlichen Orten aus ganz unterschiedlich erscheinen. Umso wichtiger ist es, sich darüber klar zu werden, dass globalgeschichtliche Perspektiven immer auch ein Element der Positionalität enthalten. Nicht überall ist Welt- oder Globalgeschichte gegenwärtig gleichermaßen en vogue. Besonders hohe Aufmerksamkeit gibt es in Ostasien, vor allem in China und Japan. Dabei muss man dazusagen, dass eine weltgeschichtliche Tradition hier eine lange Geschichte hat und lange Zeit sehr viel wichtiger war als etwa in Europa oder den Vereinigten Staaten. In anderen Regionen ist die Skepsis größer – und die Ursachen dafür sind jeweils ganz unterschiedlich. Generell kann man drei Aspekte unterscheiden, die eine Rolle spielen: Erstens hängt der Anschluss an globalgeschichtliche Debatten ganz wesentlich damit zusammen, in welchem Maß eine wissenschaftliche community die englischsprachigen Diskussionen verfolgt und ihr ausgesetzt ist. Das ist beispielsweise in Frankreich weniger der Fall als in den Niederlanden, und auch in den meisten lateinamerikanischen Ländern schaut man eher nach Frankreich oder auch nach Spanien als nach Großbritannien. Zweitens und damit eng verbunden lässt sich beobachten, dass in vielen Ländern die Nationalgeschichte sich großer Akzeptanz erfreut und wenig diskreditiert ist. In vielen afrikanischen Staaten beispielsweise sieht die Mehrzahl der Historiker ihre politische Aufgabe in erster Linie im Bereich der Nationsbildung. Und drittens schließlich lässt sich an politische und ideologische Vorbehalte denken. Solche Positionen finden sich etwa in Indien oder in Ägypten. Hier vermischt sich der methodische Zweifel mit der Befürchtung, es mit einer neuen Form des intellektuellen Imperialismus zu tun zu haben, also mit der Eingliederung der Welt in ein (westliches) Narrativ der Globalisierung. Dominic Sachsenmaier und Sven Beckert verfolgen seit einigen Jahren ein sehr interessantes Projekt mit dem Titel "Global history, globally", in dem die ganz unterschiedlichen Debatten über Globalgeschichte weltweit rekonstruiert werden.

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Der andere Punkt ist natürlich auch relevant: Ein großer Teil der globalgeschichtlichen Institutionen, Foren und Diskussionen ist nach wie vor im "Westen" angesiedelt, und mehr noch: nicht-englischsprachige Publikationen werden zunehmend marginalisiert. Dieser Trend ist nicht zu bezweifeln, und er hat sich in den vergangenen beiden Dekaden sicherlich noch einmal radikalisiert. Damit geht natürlich ein Verlust der Vielstimmigkeit einher – und es ist in der Tat problematisch, wenn etwa in Patrick Mannings Überblickswerk Navigating World History die Forschungslandschaft konsequent mit der englischsprachigen Literatur gleichgesetzt wird.

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Aber man sollte die Hegemonie des Englischen nicht nur beklagen, sondern auch die Chancen sehen, die darin liegen. Häufig kommen die Lamentos ja aus Frankreich, Italien oder Deutschland – und sind dann immer auch Ausdruck der Trauer über den wissenschaftlichen Relevanzverlust Westeuropas. Aber wenn man auf der Gleichberechtigung des Deutschen als Wissenschaftssprache besteht – und innerhalb Deutschlands kann das durchaus sinnvoll sein – dann müsste das ja auch für das Russische und Arabische, Chinesische und Koreanische gelten. Auf diese Weise wäre ein Gespräch über verschiedene Perspektiven auf die Geschichte der Welt aber kaum möglich. Die Durchsetzung des Englischen als lingua franca ist also auch eine Voraussetzung für den globalen Dialog. Daher finde ich auch, dass europäische Historiker nicht nur die Fixierung auf das Englisch beklagen sollten, sondern auch eine Verantwortung haben, ihre Arbeiten jedenfalls in wichtigen Ausschnitten auch auf Englisch – und damit einem weiteren Publikum – zugänglich zu machen.

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(von Brescius): Zuletzt: läutet die Globalgeschichte eine Abkehr vom Ideal des einzelnen Gelehrten ein? Müssen Historiker kollaborieren, um dem Bedarf an Makrostudien (mit gleichzeitig genauerer Quellenkenntnis) zu begegnen?

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Viele der interessantesten Arbeiten sind aus Dissertationen (oder Habilitationen) hervorgegangen, und da wird es auf absehbare Zeit keine Abkehr vom einzelnen Autor geben, weil ja die Zurechenbarkeit in der Qualifizierungsphase gewährleistet bleiben muss. Das können dann aber keine Makrostudien sein, sondern Fallstudien mit globaler Perspektive. Was die großen Überblickswerke angeht, so haben Chris Bayly und Jürgen Osterhammel mit ihren großen Büchern zum 19. Jahrhundert ja gezeigt, wie reizvoll es ist, eine umfassende Deutung aus einer Hand zu haben. Ich kann mir aber durchaus vorstellen, dass auf dieser Ebene die Ko-Autorschaft zunehmen wird. Beispiele dafür gibt es ja bereits, etwa das Empire-Buch von Jane Burbank und Frederick Cooper, der neueste Beitrag zur Great Divergence-Debatte von Jean-Laurent Rosenthal und Bin Wong, oder das Buch zur globalen Transformation seit dem 19. Jahrhundert, das Charles Bright und Michael Geyer gerade zusammen schreiben. Auf diese Weise können sich inhaltliche Schwerpunkte und Kompetenzen gut ergänzen – aber damit das auch in der Praxis funktioniert, müssen auch Arbeits- und Schreib-Stil halbwegs kompatibel sein.

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(Kulke/von Brescius): Lieber Herr Conrad, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Gesprächspartner:

Prof. Dr. Sebastian Conrad
Professor of History
Friedrich-Meinecke-Institut
Freie Universität Berlin
Koserstr. 20
14195 Berlin, Germany

Tilman Kulke, M.A.
PhD Researcher, Department of History and Civilization
European University Institute
Villa Schifanoia, Via Boccaccio 121
50133 Firenze, Italia
E-Mail: Tilmann.Kulke@EUI.eu

Moritz von Brescius
PhD Researcher, Department of History and Civilization
European University Institute
Villa Schifanoia, Via Boccaccio 121
50133 Firenze, Italia
E-mail: Moritz.VonBrescius@Eui.eu



[1] Neben Janet Abu-Lughod sei an dieser Stelle noch auf die Studien Peter Feldbauers hingewiesen, die gerade für ein kleines Fach wie die Islamwissenschaften einen "Segen" darstellen. Siehe die Rezension von Stephan Conerman in den Islamischen Welten zu Feldbauers wichtiger Studie: Stephan Conermann: Rezension von: Peter Feldbauer / Gottfried Liedl: Die islamische Welt 1000 bis 1517. Wirtschaft. Gesellschaft. Staat, Wien 2008, in: sehepunkte 9 (2009), Nr. 7/8, URL: http://www.sehepunkte.de/2009/07/16514.html <14.02.2013>.

Empfohlene Zitierweise:

Conrad Sebastian / Tilman Kulke / Moritz von Brescius : Interview über die Globalgeschichte mit Prof. Dr. Sebastian Conrad (Berlin) , in: zeitenblicke 12, Nr. 1, [10.06.2013], URL: https://www.zeitenblicke.de/2013/1/Conrad/index_html, URN: urn:nbn:de:0009-9-36162

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