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1 (2002), Nr. 1: Inhalt
Im Interview erwähnte Schriften von Carlo Ginzburg
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"Zwischen den Zeilen, gegen den Strich".
Ein Interview mit Carlo Ginzburg

Carlo Ginzburg
Carlo Ginzburg
Carlo Ginzburg wurde 1939 in Turin geboren und lehrt als Franklin D. Murphy Professor of Italian Renaissance Studies an der University of California / Los Angeles. Ehrenmitglied der American Academy of Arts and Sciences. 1993 Aby M. Warburg-Preis der Stadt Hamburg. Publikationen: Die Benandanti. Feldkulte und Hexenwesen im 16. und 17. Jahrhundert, Frankfurt/M. 1980; Erkundungen über Piero. Piero della Francesca, ein Maler der frühen Renaissance, Frankfurt/M. 1981; Der Käse und die Würmer. Die Welt eines Müllers um 1600, Frankfurt/M. 1983; Hexensabbat. Entzifferung einer nächtlichen Geschichte, Berlin 1989; Spurensicherung. Die Wissenschaft auf der Suche nach sich selbst, Berlin 1995; Holzaugen. Über Nähe und Distanz, Berlin 1999.

GUDRUN GERSMANN:
Herr Ginzburg, Ihre erste, später in viele Sprachen übersetzte Studie über Hexerei und Hexenverfolgungen haben Sie Mitte der 1960er Jahre veröffentlicht - I Benandanti, ricerche sulla stregoneria e sui culti agrari tra Cinquecento e Seicento - ein ungewöhnliches und aufregendes Buch, das bekanntlich eine große Forschungsdiskussion entfachte. Im Mittelpunkt der Untersuchung steht ein im Friaul des 16. und 17. Jahrhunderts weit verbreiteter Feldkult: Die "Benandanti" - Männer und Frauen, die sich als "Wohlfahrende" bezeichnen und angeblich in eine Eihaut eingehüllt zur Welt gekommen sind - erklären ihren Inquisitoren, dass sie um der Fruchtbarkeit ihrer Felder willen viermal im Jahr, bewaffnet mit Fenchelzweigen, des Nachts ausziehen müssten, um gegen Hexen und Hexer zu kämpfen. Sie haben die überlieferten Quellen benutzt, um zu einer Schicht archaischer volkstümlicher Mythen und Vorstellungsweisen vorzudringen, die sich nur verzerrt und bruchstückhaft in der "Geschichtsschreibung der Sieger", mithin in den Quellenzeugnissen der Inquisition wiederfinden lassen - wie ist dieses Werk denn überhaupt entstanden?

CARLO GINZBURG:
Das Buch habe ich auf der Grundlage von Archivbeständen aus Udine geschrieben. Damals war das, womit ich mich beschäftigte, wirklich noch ein ziemlich entlegenes Thema für Historiker, obwohl ich selber seit Ende der 1950er, Anfang der 1960er Jahre darüber gearbeitet und 1961 einen Aufsatz über Hexerei und Volksbräuche publiziert hatte. Allerdings hatte ich bereits ab einem frühen Zeitpunkt die Rekonstruktion des Verlaufs oder der Umstände von Prozessen aus dem Blick zu verlieren begonnen: Es war der Glaube, die Vorstellungswelten der vermeintlichen Hexer und Hexen, die einen nachhaltigen Einfluss auf mich ausübten - ein wahrlich marginales Sujet in einem noch marginaleren Bereich, ein Sujet von einer geradezu doppelten Marginalität, wenn man so will.

GUDRUN GERSMANN:
So haben Sie schon zu diesem frühen Zeitpunkt die Entscheidung getroffen, eine ganz bestimmte Forschungsrichtung einzuschlagen?

CARLO GINZBURG:

Carlo Ginzburg
In der Tat, der Entschluss, primär, vor allem anderen, den Glauben der Opfer, der Verfolgten, zum Gegenstand der Analyse zu erheben, wirkt bis heute in meinen Forschungen nach und ist nach wie vor mit einer für mich zentralen methodischen Frage verknüpft: Was kann man aus Archivdokumenten lernen, die per se allein deshalb parteiisch sein müssen, weil sie von den Hexenverfolgern angefertigt wurden? Man kommt nicht umhin, um es einmal so zu formulieren, stets zwischen den Zeilen, gegen den Strich zu lesen. Ich bin ursprünglich von der einfachen Hypothese ausgegangen, dass es sich bei den Hexenprozessen wohl um eine frühe Form des Klassenkampfes handele, und habe auch tatsächlich einige Belege dafür gesammelt: Der erwähnte Aufsatz von 1961 handelte ja von einem Bauern und einer Bäuerin, die ihre Herrschaft verflucht haben sollten, nachdem sie von dem Hof, auf dem sie arbeiteten, verjagt worden waren. In meinen Augen hatten wir hier also zunächst einen sehr schönen Fall von Klassenkampf vor uns. Doch im Laufe meiner Recherchen änderte sich allmählich meine Sichtweise, und am Ende des Artikels blieb mir nichts als die unvorsichtige Schlussfolgerung übrig, dass man in der Rekapitulation dieses Prozesses so etwas wie einen Bruch zwischen den Wahrnehmungswelten des Anklägers und der vermeintlichen Hexe beobachten konnte, das Ergebnis eines echten Kulturschocks, denn es schien unübersehbar, dass die Ansichten des Anklägers der Frau aufoktroyiert, ja, aufgepfropft worden waren. So habe ich mein Klassenkampfmodell letztlich verworfen und gegen ein neues Erklärungsmodell eingetauscht, ich hatte nach der einen Sache gesucht und dabei eine andere gefunden. Das kommt vor.

GUDRUN GERSMANN:
Wenn dies der Ausgangspunkt Ihrer Untersuchung war, wie ging es dann weiter?

CARLO GINZBURG:
Auf der Suche nach Inquisitionsarchiven habe ich daraufhin erst einmal ein Jahr auf Reisen zugebracht: Obwohl viele Archive - insbesondere die Kirchenarchive - der Forschung damals bestenfalls kaum oder aber gar nicht zur Verfügung standen, konnte ich mich dem überwältigenden Sog der von mir konstatierten Differenz zwischen den Kulturen einfach nicht mehr entziehen, um so weniger, als die "Gefängnisnotizen", die von Antonio Gramsci in den zehn Jahren seiner Gefangenschaft unter den Faschisten verfasst worden waren, einen nachhaltigen Einfluss bei mir hinterlassen hatten. Ich teilte diese Erfahrung wohl mit der Mehrheit der italienischen Wissenschaftler meiner Generation. Die Auseinandersetzung mit Gramsci war außerordentlich bedeutsam für mich, denn er hatte über die Volkskultur geschrieben, über die Brüche und inneren Oppositionen einer Kultur, was mir sehr half.

GUDRUN GERSMANN:
Verraten Sie uns ein bisschen mehr über Ihre Arbeit in den italienischen Archiven?

CARLO GINZBURG:

Carlo Ginzburg
Gut, da war ich nun in Venedig und verfügte, gemessen an den unerhört reichen Beständen des Archivs, über viel zu wenig Zeit. Also ließ ich mich vom Zufall leiten. Da ich nur drei Akten oder Bücher pro Tag ausleihen durfte, sagte ich 'ins Blaue hinein': 35, 34, 18. Dies war venezianisches Roulette, oder, genau genommen, berechneter Zufall, denn es gab lediglich ein aus dem späten 19. Jahrhundert stammendes Inventar, mit dessen Hilfe sich die Hexenprozessakten grob ermitteln ließen. Ich habe die Eintragungen überflogen und plötzlich einen auf wenigen Blättern dokumentierten Prozess gegen einen jungen Mann mit folgender Aussage entdeckt: "Ich verlasse viermal im Jahr nachts das Haus, um mit den Hexern um die Fruchtbarkeit des Bodens zu kämpfen. Wir kämpfen auf einem großen Feld. Überall ist Rauch und es riecht nach Rosen." Ich habe das gelesen und war wie geblendet. Nichts von dem, was mir in dieser Quelle begegnete, ließ sich mit dem, was von Seiten der Inquisition über Dämonologie geschrieben worden war, vereinbaren. Etwas vollkommen Anderes schimmerte hier auf, ein Gefühl kultureller Andersartigkeit. Mein Gefühl der Überraschung muss dem des Inquisitors entsprochen haben, der sich Hunderte von Jahren zuvor nach dem Sinn des Begriffes "Benandanti" gefragt haben dürfte, da ihm das Wort selbst unbekannt war. Ich erinnere mich daran, die Quellen wie in Ekstase überflogen zu haben. Damals habe ich noch geraucht, und ich bin auf die Straße hinaus gegangen, habe Kaffee getrunken, bin auf und ab spaziert und habe immer nur gedacht: Was hast du da bloß gefunden? Du hast etwas Außerordentliches gefunden! Das war für mich ein ganz neuer Beginn, denn nun wollte ich unbedingt verstehen, was genau es mit den nächtlichen Spektakeln auf sich hatte.

GUDRUN GERSMANN:
Was haben Sie nach Ihrer Entdeckung getan?

CARLO GINZBURG:
Einige Wochen später fuhr ich nach Udine, um in der städtischen Bibliothek zu arbeiten, da mir das Kirchenarchiv leider verschlossen blieb. Und dort, in Udine, stieß ich, ein echter Glücksfall, auf ein vor langer Zeit aus dem Kirchenarchiv gestohlenes Manuskript mit einem Verzeichnis der in der Stadt geführten Inquisitionsprozesse: Ich begann intensiv zu lesen und gelangte dabei auf die Spur weiterer Prozesse gegen die "Benandanti", wurde mithin erneut mit jener Terminologie konfrontiert, die mich schon in Venedig verstört hatte. In dem Archiv war ein Geistlicher tätig, der mir Zugang zu einem Raum mit Schränken voller Handschriften gewährte. Wohlgemerkt, damals stand ich vollkommen allein auf weiter Flur und war praktisch der erste Forscher, der sich mit dem Material auseinander setzte, ohne auf eine wissenschaftliche Tradition zum Thema zurückgreifen zu können. So stürzte ich mich in die Transkription der Quellen und gelangte im Laufe der Zeit zu folgender Hypothese: Die überlieferten Prozesse gaben in meinen Augen sehr klar zu erkennen, dass die Menschen, die ursprünglich gegen die Hexen gekämpft hatten, am Ende selbst zu Hexen geworden waren. Und ich meinte, das volkstümliche Pendant zur gelehrten Darstellung des Hexensabbats gefunden zu haben: Es gab das magische nächtliche Fliegen, den Teufel, die Fruchtbarkeit.

GUDRUN GERSMANN:
Ich habe den Eindruck, dass sich Ihr Buch über die "Benandanti" vor allem durch drei Charakterzüge auszeichnet. Erstens durch die Betonung des für Sie immens wichtigen Faktors Zufall: Sie sind mit einer These von Klassenkampf angetreten und haben diese angesichts der Resultate ihrer Forschungen unerwartet revidieren müssen; zweitens durch das Nachwirken einer geradezu schockhaften visuellen Begegnung mit den Quellen, drittens durch die Benennung eines spezifischen methodischen Zugangs zum Gegenstand, der auch stark an Ihr Buch "Der Käse und die Würmer" erinnert.

CARLO GINZBURG:

Carlo Ginzburg
Richtig, die "Benandanti" haben mich auch als Individuen angezogen, deren Schicksal es zu erzählen galt. Heute, ein paar Jahrzehnte später, hält man eine Annäherung an die große Geschichte in Gestalt des Erzählens subjektiver kleiner Geschichten zwar für legitim. Seinerzeit existierte auf Seiten der Historiker jedoch ein mehrheitlicher und merkwürdiger Widerstand gegen das Erzählen. So habe ich für das Recht des Erzählens gekämpft, von dem ich heute noch nach wie vor fasziniert bin. Gleichzeitig frage ich mich jedoch immer stärker danach, was das Individuelle eigentlich sein soll: Wie ist es zum Beispiel um die Beziehungen des einzelnen Individuums zu seiner Umwelt bestellt? Ich glaube, Historiker laufen einfach häufig Gefahr, Individualität als zu selbstverständlich hinzunehmen. Die Frage, die sich mir heute im nachhinein stellt, ist die, ob man nunmehr nicht eine ganz andere Form von Biographie schreiben könnte und sollte. Ein Buch, das wie "Der Käse und die Würmer" um ein einzelnes Individuum kreist, ist einfacher zu lesen, was denn auch den Erfolg des Werkes erklärt. Im Falle der "Benandanti" gibt es dagegen keinen einzelnen Helden, sondern mehrere, wenn Sie so wollen, und das ist der Unterschied. Ich erinnere mich übrigens noch gut an die Freude, die ich verspürte, als ich mich daran machte, die ersten Zeilen zu den "Benandanti" zu schreiben.

GUDRUN GERSMANN:
In der deutschen Hexenforschung ist ein aktuell sehr starker Trend zu lokalen Fallstudien unübersehbar, haben die 'Orte des Geschehens' - zum Beispiel im ländlichen Friaul der Frühen Neuzeit - für Sie bei Ihren Forschungen eigentlich eine wichtige Rolle gespielt?

CARLO GINZBURG:
Nein, denn obwohl ich durchaus um ihre Bedeutung weiß, hängt mein Gefühl der Zugehörigkeit keineswegs von speziellen Räumen ab. Ich bin Italiener, ohne mich an einen einzelnen Ort gebunden zu fühlen.

GUDRUN GERSMANN:
Ihrer Studie über den Müller Menocchio und seine Welt ist ein Zitat des Schriftstellers Louis-Ferdinand Céline vorangestellt: "L'histoire véritable se passe dans l'ombre", - "die wahre Geschichte vollzieht sich im Dunkeln". Dürfen wir annehmen, dass Sie Ihre Arbeit als Historiker als die eines Anatomen betrachten, der eine Bedeutungsschicht nach der anderen freizulegen hat?

CARLO GINZBURG:

Carlo Ginzburg
Das ist ein guter Vergleich, denn mein Großvater war Histologe. Sicher hat mich das Bewusstsein von der Existenz übereinander liegender Schichten, ob geologischer oder körperlicher Art, geformt, die Idee mithin, dass irgend etwas irgend wo in der Tiefe existiert, was, wenn auch nicht immer unmittelbar wahrgenommen und realisiert, dennoch sehr gegenwärtig ist und sein kann. Für mich ist das eine fundamentale Erkenntnis gewesen, und mich haben stets vor allem die Bücher fasziniert, in denen gar kein Individuum vorkommt. Ein Buch über das Wirken "unpersönlicher Kräfte" hätte ich selbst freilich vielleicht gar nicht schreiben können.

Ja, der glühende Wunsch, etwas aus den tiefen Schichten und Millionen von Ablagerungen hervor zu Tage zu fördern: Nachdem ich in Princeton die erste Stummfilmversion des "Phantoms der Oper" gesehen hatte, war es mir unmöglich, dieses Bild je wieder loszuwerden. Denn im "Phantom der Oper" haben wir es mit einer sich auf unterschiedlichen Ebenen - im Theater wie im unterirdischen Paris - abspulenden Geschichte zu tun. Als ich mir den Film anschaute, dachte ich sofort an mein - zwischendurch unterbrochenes - Projekt, an die vielfältigen Bedeutungsebenen und Implikationen nämlich des Phänomens der "Benandanti". Also begann ich wieder daran zu arbeiten, musste mich bald jedoch des übermächtigen Eindrucks erwehren, mit dem Thema und der Fragestellung im Grunde überfordert zu sein. So steht es auch in der Einleitung, und ich bin nach wie vor davon überzeugt. Es lag eigentlich etwas Unrealisierbares in meinem Vorhaben, und dennoch musste ich es angehen, obwohl es für mich dabei nur zwei Aussichten gab, - entweder die eines kleinen Erfolges oder die einer großen Niederlage. Natürlich wollte ich einen "großen Wurf", doch das schien schlicht unmöglich.

Carlo Ginzburg
Lassen Sie mich eine kleine Geschichte einfügen: Ich habe es hin und wieder mit dem Roulette-Spiel probiert und gleich beim ersten Mal gemerkt, dass ich ein potentieller Spieler bin: Und so bekam ich es mit der Angst zu tun, denn ich fürchtete, mein Leben zu ruinieren. Als ich bei meinem ersten Roulettespiel eine geringe Summe auf die Nummer 17 gesetzt hatte, tauchte vor meinem inneren Auge plötzlich das Bild meiner beiden - zu diesem Zeitpunkt noch kleinen - Kinder auf, wie sie völlig verarmt in der Kanalisation hausten. Heimgesucht von schrecklichen Zukunftsvisionen, wollte ich schon gehen, als mich der Croupier mit den Worten zurückhielt, "Aber, aber mein Herr, sie haben doch gewonnen!" Da bin ich umgekehrt, obwohl ich jäh begriffen hatte, dass dort schreckliche (Anziehungs)kräfte walteten, die mich unter Umständen sogar töten konnten. Danach habe ich nur noch zwei, dreimal gespielt, übrigens äußerst kontrolliert und stets mit der gleichen Nummer gewonnen. Das sind selbstverständlich Anekdoten, aber sie dokumentieren ein bisschen das Gewicht des Spiels mit dem Zufall: Die Energien, die ich in das Roulette hätte investieren können, habe ich schließlich in die Forschung eingebracht. Obwohl manches per se unmöglich scheint, muss man es doch gerade deshalb um so energischer 'anpacken'. Doch ich habe sehr lange, fast fünfzehn Jahre, an dem Buch gearbeitet - und ein ums andere Mal gedacht, es niemals vollenden zu können.

GUDRUN GERSMANN:
Was empfanden Sie gegenüber Ihrem Buch, als es nach so vielen Jahren, in denen es Ihr Leben begleitet hatte, schließlich in gedruckter Form vor Ihnen lag?

CARLO GINZBURG:
Ich freute mich sehr darüber, aber es war damit auch für mich erledigt. Ich habe mich danach neuen Themen und literarischen Gattungen zugewandt. Meinem Eindruck nach arbeiten viele Forscher ihr ganzes Leben lang auf einem einzigen Gebiet, das trifft auf mich jedoch gar nicht zu.

GUDRUN GERSMANN:
Als Historiker- Spieler plädieren Sie für den Zufall: Heißt das, dass Sie sich auch gerne einmal - gleichsam "en passant" - von einer Quelle oder einer "Geschichte" verführen lassen?

CARLO GINZBURG:

Carlo Ginzburg
Unbedingt! Am Anfang steht bei mir immer die zufällige Begegnung mit einem Dokument, einem Objekt oder einer Fragestellung, die sich aufdrängt. Es sind jene flüchtigen Augenblicke, erste Forschungsschritte, die mich elektrisieren, eben die Momente, wenn man zu tasten und zu lesen beginnt. Von diesem Stadium des Forschens wird gewöhnlich zwar kaum gesprochen, doch hat mich gerade die "Vagheit" stets besonders angezogen: In meinem Leben und meinen Forschungen habe ich viele Entscheidungen im Dunkeln, ja, in fast völliger Finsternis, ohne vorheriges Überlegen oder Planen, getroffen. Das gängige Bild von der Wissenschaft und dem Leben ist doch arg künstlich: Man meint, Entschlüsse auf der Grundlage bestimmter rationaler Konstellationen zu treffen, doch wird man in Wahrheit häufig durch so etwas wie ein dunkles 'stummes' Wissen' vorangetrieben, das eben nicht immer mit dem 'klaren Wissen' korrespondiert.

GUDRUN GERSMANN:
Das ist also das Fazit des Historikers Carlo Ginzburg und des Menschen Carlo Ginzburg?

CARLO GINZBURG:
Gewiss kann man bestrebt sein, bereits im Vorfeld Licht in eine Angelegenheit bringen und diese gewissermaßen systematisch betrachten zu wollen. Doch dreht es sich häufig nicht vor allem darum, bereits vorhandene Dinge zutage zu fördern, die nur darauf warten, entdeckt und freigelegt zu werden? Hier sind wir übrigens wieder bei der "verborgenen Geschichte" angelangt.

GUDRUN GERSMANN:
Sie haben oft mit den - häufig von ihnen so genannten - "Archiven der Repression" gearbeitet, nimmt man daraus nicht einen pessimistischen Blick auf die Entwicklung der Geschichte mit nach Hause?

CARLO GINZBURG:
Optimistisch und pessimistisch sind zweifellos relative Begriffe. Antonio Gramsci hat in Anlehnung an Romain Rolland vom Pessimismus des Verstandes und vom Optimismus des Willens geprochen. Das lässt sich sicher auf verschiedenen Ebenen interpretieren, in jedem Fall muss man etwas tun, das heißt den "Archiven der Repression" das Wissen über die Vergangenheit, das sie beherbergen, entreißen.

GUDRUN GERSMANN:
In den 1980er und 1990er Jahren haben Sie außerordentlich viel zu kunsthistorischen Themen publiziert - zitiert sei nur Ihr Buch über Piero oder über Guernica. War dies ein neues "zufälliges" Interessengebiet oder liegen die Gründe hierfür bereits weiter zurück? Und sehen Sie sich selbst sogar als eine Art epochenüberschreitenden interdisziplinären "Wanderer zwischen den Welten"?

CARLO GINZBURG:
Anfang der 60er Jahre war ich im Londoner Warburg Institute und habe dort Arbeiten Warburgs und anderer, die im Umfeld des Instituts forschten, gelesen. Das hat mich stark geprägt, 1966 habe ich dann einen langen Artikel über diese Forschungstradition geschrieben. Eigentliches Thema des Artikels war die Frage nach der Möglichkeit einer Interpretation bildlicher Zeugnisse als historische Dokumente, ein Thema, das mich immer wieder von neuem stark beschäftigt hat. Mit dem Bild des "Wanderers" haben Sie recht, tatsächlich bedeutete es stets eine Herausforderung für mich, in bis dahin unbekannte Bereiche und Wissensgebiete vorzudringen.

GUDRUN GERSMANN:
Sie haben seit Beginn unseres Gesprächs vielfach den bei der Konfrontation mit Archivquellen empfundenen Schock thematisiert, gilt dies auch für die Konfrontation mit anderen ästhetischen Gebilden, für die Betrachtung von Gemälden beispielsweise?

CARLO GINZBURG:
Ja, da gibt es eine eindeutige Entsprechung. Leo Spitzer hat einmal über den "Kick" geschrieben, den ihm die wiederholte Lektüre eines Textes vermittelt habe. Für ihn waren es die "Kicks" der Erkenntnis, doch ich möchte noch einmal ein weiteres Element hervorheben: Normalerweise geht man bei seinen Forschungen davonm aus, in der Dunkelheit zu starten und sich dann allmählich immer stärker zum Licht hin zu bewegen. Aber nein, so ist es gar nicht: Ich habe einmal geschrieben, dass man mit der Antwort beginnt und dann die Frage rekonstruiert. Das kann mit Dokumenten und auch mit Bildern passieren.

GUDRUN GERSMANN:
Da der Zufall und das Spiel von so zentraler Bedeutung für Sie sind, müssten Sie doch eigentlich ein Anhänger des Internets sein - lassen sich nicht in der Unendlichkeit des Hypertextes Dinge kombinieren, die trotz ihrer scheinbaren Nicht-Kompatiblität in einer Recherche schließlich doch zusammengefügt werden können?

CARLO GINZBURG:
Nun, ich bin gerade dabei, etwas über Online-Kataloge zu schreiben. Allerdings bin ich in Hinsicht auf das Netz ziemlich zurückhaltend, denn ich habe Angst, von Informationen überrollt zu werden, die mich nicht interessieren. Vielleicht verteidige ich mich aber auch nur!

GUDRUN GERSMANN:
Würden Sie uns mitteilen, welche Bücher von Historikern oder welche Filme Sie in der letzten Zeit besonders beeindruckt haben?

CARLO GINZBURG:

Carlo Ginzburg
Ach, ich weiß nicht, ich interessiere mich im Augenblick mehr für das Wissen, das man aus Romanen ziehen kann, allerdings habe ich vor einiger Zeit einen sehr spannenden, intelligenten und amüsanten Film gesehen, er heißt "Timecode", und die Leinwand ist von Beginn an in vier Felder aufgeteilt. Gezeigt wird eine Geschichte, die sich für vier Personen gleichzeitig abspielt. Manchmal vermischen sich die einzelnen Teile der Leinwand, und eine der Personen bewegt sich in den Gesichtskreis einer anderen. Dieser Film hat mich wirklich fasziniert; als ich ihn wenige Tage später noch einmal angeschaut habe, war der Eindruck ein völlig anderer als beim ersten Mal. Dieser Film fordert auch den Historiker heraus, denn es besteht eine deutliche Spannung zwischen dem reinen zeitlichen Ablauf des Geschehens und den Möglichkeiten, die Ereignisse darzustellen!

GUDRUN GERSMANN:
Erlauben Sie mir zum Schluss noch eine persönliche Frage: Sie leben, arbeiten und lehren teils in Bologna, teils in anderen europäischen Städten, teils in den USA. Glauben Sie, dass man mit Ihren Forschungsinteressen und Fragestellungen besser in den USA oder in Europa aufgehoben ist? Fühlen Sie sich noch als Europäer?

CARLO GINZBURG:
Ja, ich bin Italiener. Aber hier halte ich auch schon ein, denn ich habe keine emotionale Verbindung zu einer "Heimat", wenn Sie so wollen.

GUDRUN GERSMANN:
Danke, dass Sie sich während Ihres Studienaufenthalts in München Zeit für dieses Gespräch genommen haben.


Das Interview wurde von Gudrun Gersmann im Mai 2001 in München auf Französisch geführt.


Im Interview erwähnte Schriften von Carlo Ginzburg:

Carlo Ginzurg: I Benandanti, ricerche sulla stregoneria e sui culti agrari tra Cinquecento e Seicento, 2. ed., Torino 1974 (= Piccola biblioteca Einaudi, 197). Deutsche Übersetzung: Die Benandanti: Feldkulte und Hexenwesen im 16. und 17. Jahrhundert, Frankfurt/M. 1980.

Ders.: Der Käse und die Würmer. Die Welt eines Müllers um 1600, Frankfurt am Main 1983.

Ders.: Erkundungen über Piero: Piero della Francesca, ein Maler der frühen Renaissance, Frankfurt a. M. 1991.

Ders.: Das Schwert und die Glühbirne. Eine neue Lektüre von Picassos Guernica, 1. Aufl., Frankfurt a. M. 1999 (= Erbschaft unserer Zeit, 3).

Empfohlene Zitierweise:

"Zwischen den Zeilen, gegen den Strich". Interview mit Carlo Ginzburg (Gudrun Gersmann), in: zeitenblicke 1 (2002), Nr. 1 [08.07.2002], URL: <http://www.zeitenblicke.historicum.net/2002/01/ginzburg/ginzburg.html>

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