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2 (2003), Nr. 1: Inhalt
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Hubertus Kohle

Interview mit Lutz Heusinger

Professor für Informatik in der Kunstgeschichte und Leiter des Bildarchiv Foto Marburg

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Nachdem die Neuen Medien in der Kunstgeschichte lange Zeit ein Schattendasein geführt haben, scheint sich das seit einigen Jahren zu ändern. Womit hängt das wohl zusammen?

Wenn Sie unter ‚Neuen Medien’ kunstgeschichtliche Materialsammlungen, Publikationen und Dienste in digitaler Form verstehen, liegt die Antwort auf der Hand: Es brauchte einfach Zeit, die Technik und die Inhalte soweit zu entwickeln und zu verbreiten, dass sich ihre Nutzung wenigstens in Teilbereichen auch lohnt.

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Sie haben in Marburg sehr früh mit elektronisch basierter Dokumentation von Kunstwerk-Reproduktionen angefangen. Welches war die Ausgangsüberlegung dabei?

Das Bildarchiv Foto Marburg betreut eine der großen, wenn nicht die größte Sammlung fotografischer Aufnahmen (Negative) der abendländischen Kunst, darunter einige hunderttausend, die physisch nicht mehr existierende oder einschneidend veränderte Kunst- und Bauwerke wiedergeben. Diese Aufnahmen gehören zum unersetzlichen europäischen Kulturgut. Sie müssen so effektiv wie möglich vermittelt werden, damit nicht große Teile unseres kulturellen Erbes in Vergessenheit geraten. Deshalb war es unsere Pflicht, als digitale Arbeitsverfahren allmählich neue Vermittlungsperspektiven eröffneten, diese unverzüglich auszuloten.
Heute stehen Interessierten auf dem Internet-Server des Bildarchivs 1,5 Millionen der wertvollsten alten kunstgeschichtlichen Fotografien zur Verfügung. Jeder glückliche Inhaber eines Internet-Anschlusses kann sie überall auf der Welt ungehindert und kostenlos in bestmöglicher Qualität konsultieren. Eine kontinuierlich wachsende Datenbank erleichtert das Suchen. Derzeit kopieren sich täglich durchschnittlich 650 Interessierte 2.400 Fotografien in höchster Auflösung. Von einer derartigen Nutzung unserer Bestände hätten wir früher nicht zu träumen gewagt.

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Die Marburger Bilddatenbank basiert bekanntlich auf Ihrem Regelwerk für die Erfassung kunstgeschichtlicher Sachverhalte MIDAS und dem Datenbankprogramm HIDA der Firma startext. Neben MIDAS und HIDA haben sich in der Zwischenzeit andere, weniger komplexe, aber auch leichter zu bedienende Systeme etabliert. Was muss getan werden, damit MIDAS und HIDA hier Boden gut machen?

Das Regelwerk MIDAS zur Erfassung kunstgeschichtlicher Objekte und Sachverhalte ist in der aktuellen 4. Auflage ohne Einbußen an Differenzierung vereinfacht worden. Das Datenbankprogramm HIDA erscheint demnächst - neu programmiert - in einer aktuellen Standards entsprechenden neuen Version (HIDA 4 CS). Die Firma ZETCOM erweitert ihr leichter zu bedienendes Programm MuseumPlus auf der Grundlage eines entsprechenden Vertrags mit der Stiftung Preußischer Kulturbesitz zur Zeit gerade so, dass es in Zukunft auch Dokumente aufnehmen kann, die nach den Regeln von MIDAS angelegt worden sind und werden. Die 80.000 Objektbeschreibungen der Museen der europäischen Kunst der Stiftung können also demnächst in zwei verschiedenen Systemen gehalten werden. Dies verbessert die Verbreitungsmöglichkeiten des Regelwerks MIDAS als Erfassungsstandard noch einmal erheblich.
Das eigentliche Problem liegt aber weder im Regelwerk noch im Computerprogramm, sondern in der so massiv vorangetriebenen Verwirtschaftlichung der Museen. Sie lässt selbst den größten Häusern kaum mehr eine Chance für die wissenschaftliche Bestandsbearbeitung und gefährdet die Erhaltung des Kulturguts für kommende Generationen unmittelbar.

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Halten Sie geläufige Dokumentationsmuster für Bildende Kunst auch angesichts der zeitgenössischen Kunst für ausreichend, die ja häufig flüchtig, kontextbezogen, mehrteilig etc. ist?

Nein. Komplexe, ephemere Produktionen (Happenings, Performances, Installationen usw.) erfordern andere Verfahren der Dokumentation und Erschließung als traditionelle, dauerhafte Kunstwerke, Verfahren, wie sie in zunehmender Perfektion in anderen gesellschaftlichen Bereichen, vor kurzem beispielsweise bei den Regatten um den America's Cup eingesetzt worden sind oder im italienischen Fußball-Fernsehen (leider nicht im deutschen) werden. Die grafisch unterstützte Verdeutlichung oder auch Rekonstruktion von Abläufen in Verbindung mit bewegten Bildern fasziniert mich und gibt viel zu studieren und zu erkennen. Die dokumentarisch befriedigende Erschließung des Bild- und Tonmaterials gehört heute zur Routine guter Fernsehanstalten. Technische und wissenschaftliche Probleme gibt es also nicht, wohl aber wirtschaftliche und rechtliche. Dafür ein einziges Beispiel:
Zu den wichtigsten Exponaten der documenta 11 gehörten 74 Stunden Film- und Fernsehmaterial, das kaum einer der 600.000 Ausstellungsbesucher auch nur zu einem Fünftel gesehen haben dürfte. Dieses Material hätte für wenig Geld auf DVDs übertragen und in Ergänzung zu den gedruckten Katalogen der Ausstellung verkauft werden können. Zu dieser zukunftsweisenden Dokumentation ist es jedoch nicht gekommen, weil niemand rechtzeitig die erforderlichen Genehmigungen hätte einholen können. Ein sehr wesentlicher Teil der documenta 11 ist damit für die Überlieferung verloren und der wissenschaftlichen Bearbeitung ebenso entzogen wie verbrannte Bilder.

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An welchen Stellen besteht Ihrer Meinung nach in der Frage EDV und Kunstgeschichte zur Zeit besonders dringender Handlungsbedarf?

Im Publikationswesen. Unser gegenwärtiges Publikationssystem funktioniert bekannter- und zugegebenermaßen seit langem nicht mehr. Ohne Druckkostenzuschüsse geht so gut wie nichts. Die erscheinenden Bücher können längst nicht mehr bezahlt und - wegen der schieren Menge - auch längst nicht mehr gelesen werden. Das System funktioniert also weder wirtschaftlich noch wissenschaftlich. Deshalb müssen umgehend neue Formen elektronischen Publizierens in unterschiedlichen Formaten (Newsletter, Zeitschrift, Datenbank, Diskussionsliste usw.) systematisch erprobt und so ausgebaut werden, dass sie eine tragfähige Grundlage für ein neues und besseres wissenschaftliches Honorierungssystem bilden können. Selbstverständlich ist dies eine Notwendigkeit nicht nur in der Kunstgeschichte, sondern in allen Buchwissenschaften. Den Universitäten und wissenschaftlichen Gesellschaften kommt in diesem Prozess eine Schlüsselrolle zu, denn sie können und müssen - wie in den USA zu studieren - das Publikationswesen und das Honorierungssystem beeinflussen.

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Was wird aus der Kunstgeschichte unter elektronischen Bedingungen? Wird es eine andere Wissenschaft sein, oder wird sie alte Fragen einfach nur mit höherer quantitativer Dichte und schneller erledigen?

Computergestützte Arbeitsverfahren und digitale Informationsmittel der Kunstgeschichte üben keinen nennenswerten Einfluss auf die Disziplin aus. Als kunstgeschichtliche Bibliotheken und Museen vor 30 Jahren Computer zu nutzen begannen, hatten sie eine bezaubernde Illusion: Sie glaubten, ein neues Produktionsmittel könne die Produktionsverhältnisse verändern. Sie hofften, via Terminals an zentrale Rechner angeschlossene Bibliotheken und Museen würden zu einer neuen Form interinstitutioneller Zusammenarbeit finden und ein Zeitalter kostenlosen Datenaustauschs eröffnen. Das Research Library Information Network der USA mit seiner wirtschaftlich effektiven, verteilten Katalogisierung ist der Beweis dafür, dass diese Erwartung nicht grundsätzlich falsch war. In der Kunstgeschichte hat sie sich jedoch - von wenigen Ausnahmen abgesehen - nicht verwirklicht, so dass die Infrastruktur des Faches unverändert geblieben ist und auf längere Sicht bleiben wird. Eine fachinterne Technikfolgenabschätzung ist deshalb nicht von Belang.

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Anders verhält es sich mit der Bedeutung der neuen Medien im üblichen Wortsinn, des Fernsehens, des Films und der digitalen Bilder aus der Wissenschaft und Wirtschaft, deren Bearbeitung die Kunstgeschichte, ohne den Vorgang auch nur zu thematisieren, der Medienwissenschaft überlassen hat. Wir konzentrieren uns auf die alten Bildgattungen, die Malerei, die Graphik, die Skulptur, als hätten diese nicht längst ihre ursprüngliche gesellschaftliche Funktion an die neuen Medien verloren. Wem es um mehr als die ästhetische Funktion von Bildern geht, der müsste der fortschreitenden Archäologisierung unseres Faches entgegenwirken und eine Kunstgeschichte betreiben, die wirklich alle Bilder einbezieht. Die documenta 11 war in dieser Hinsicht eine vorbildliche und wichtige Ausstellung. Klammert die Kunstgeschichte die heute relevanten Bilder weiterhin aus, wird sie im 21. Jahrhundert verdientermaßen zu einem Randgebiet der Kulturwirtschaft und Tourismusindustrie werden.

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Konservative Kunsthistoriker erwarten von der Digitalisierung häufig eine Verflachung traditioneller Forschungs- und Lehrinhalte. Progressive dagegen eine völlige Neudefinition dessen, was erforscht und gelehrt werden kann. Wie sehen Sie das?

Beides ist falsch. Traditionelle Forschungs- und Lehrinhalte werden heute durch die brachiale Verwirtschaftlichung der Kulturwissenschaften gefährdet und sind am ehesten zu sichern, wenn rationeller und effizienter als bisher, das heißt mit digitalen Verfahren und Medien gearbeitet wird. Nutzen wir unsere Computer und digitalen Bildbearbeitungsplätze nur, um unsere alten Diatheken zu digitalisieren und fortschrittlichstenfalls Videokunst zu betrachten, ändert dies unsere Forschung und Lehre nicht im geringsten. Eine Neuorientierung erwarte ich vielmehr allein aus einer Rückbesinnung. Gerade in diesen Tagen sollten wir uns daran erinnern, wie Aby Warbung, wenngleich scheiternd, 1914 den Ausbruch des 1. Weltkriegs für sich zu meistern versucht hat: durch textliche und bildliche Dokumentation und kulturwissenschaftliche Analyse des Geschehens. Folgen wir seinem Beispiel, werden die digitalen Bilder und Texte des 2. Golfkriegs zu unserem primären wissenschaftlichen Gegenstand, den wir freilich mit Computern effektiver als ohne sie bearbeiten können.

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Was sollten Studierende in diesem Feld besonders tun, wenn sie sich beruflich qualifizieren wollen?

Sich nicht auf die Seite der geisteswissenschaftlichen Geisteshünen schlagen, die sich mit ihrem technischen Unvermögen brüsten, sondern Neugier, Kompetenz und Spaß auch im Feld digitaler Technik und Angebote entwickeln. Wer regelmäßig mit einem Handy, einem DVD- oder DAT-Recorder, einem Computer, dem Internet und Datenbanken umgeht, sich für Gott und die Welt interessiert und alles einmal ausprobiert, kann in der Universität, im Museum oder in der Denkmalpflege einfach mehr beitragen als einer, der dies alles nicht tut. Technische Grundkenntnisse sollten heutzutage ebenso selbstverständlich erworben werden wie das Seepferdchen oder der Führerschein.
Im übrigen sieht es so aus, als gewännen Studierende mit dem Erwerb der genannten technischen Kenntnissen nebenbei auch an (heute mitunter schmerzlich vermisster) sozialer Intelligenz, vielleicht, weil man im digitalen Feld ohne kollegiale Hilfe nicht weit kommt und deshalb selbst zu helfen lernt.

Gesprächspartner

Hubertus Kohle
Ludwig-Maximilians-Universität München
E-Mail: Hubertus.Kohle@lrz.uni-muenchen.de
Web: http://www.fak09.uni-muenchen.de/Kunstgeschichte/dozenten/kohle

Lutz Heusinger
Bildarchiv Foto Marburg
E-Mail: heusinger@fotomr.uni-marburg.de
Web: http://www.fotomarburg.de

Empfohlene Zitierweise:

Lutz Heusinger: Interview, in: zeitenblicke 2 (2003), Nr. 1 [08.05.2003],
URL: <http://www.zeitenblicke.historicum.net/2003/01/interview/index.html>

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