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  3 (2004), Nr. 2: Inhalt
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Zu dieser Ausgabe

 

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Bibliotheken finden "braune Erblast im Regal", Versicherungen erinnern sich an Policen, deren Inhaber vor über einem halben Jahrhundert ermordet wurden, Banken entdecken "vergessene" Konten aus der NS-Zeit, überall auf der Welt wird nach Kunstwerken gefahndet, die ihren Besitzern von den Nationalsozialisten geraubt worden sind. Der Bereicherungswettlauf zwischen Privatpersonen, Unternehmen, Verbänden, Partei- und Reichsstellen um das Vermögen von NS-Verfolgten ist fast 60 Jahre nach dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft erneut ein hochaktuelles Thema.

 
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Auch in die wissenschaftliche Forschung zur Beraubung von NS-Verfolgten ist in den letzten Jahren Bewegung gekommen. Seit den späten 1990er-Jahren wurde eine große Zahl von Quellen aus den staatlichen Finanzbehörden für die Forschung zugänglich gemacht. Diese sehr umfangreichen Bestände an Einzelfallakten zur NS-Enteignung und späteren Wiedergutmachung zogen sofort das Interesse der Forschung auf sich und in mehreren Bundesländern wurden Forschungsprojekte initiiert (siehe die Projektvorstellungen in dieser Ausgabe). Die neu zugänglichen Quellen erlauben es, die Perspektive auf das Forschungsfeld in vierfacher Hinsicht auszuweiten.
 
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Erstens geraten Opfergruppen in den Blick, die bislang im Schatten der 'Arisierungs'-Forschung standen. Die fiskalische Verfolgung zielte vor allem auf das Privatvermögen, so dass neben Kaufhäusern, Einzelhandelsgeschäften und Industrieunternehmen erstmals auch die Masse der jüdischen Bevölkerung greifbar wird, die über kein markantes Betriebsvermögen verfügte, aber ebenfalls wirtschaftlicher Verfolgung ausgesetzt war – hierzu gehören beispielsweise auch Ärzte und Rechtsanwälte.
 
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Die neuen Quellen erweitern zweitens den zeitlichen Rahmen. Die meisten älteren Studien zur 'Arisierung' blieben auf die Zeit bis zur staatlichen Regulierung des Prozesses Ende 1938 beschränkt. In jüngster Zeit wird die Zäsur zwischen der "wilden Arisierung" im Kräftespiel der Gesellschaft und der staatlich geregelten und kontrollierten 'Zwangsarisierung' mit Hilfe der neuen Quellen überbrückt. Dies räumt nicht zuletzt der Perspektive der Opfer ein stärkeres Gewicht ein, für die die wirtschaftliche Ausplünderung einen kontinuierlichen Erlebniszusammenhang bildete, in dem ihnen die Handlungsautonomie zunehmend entzogen wurde.
 
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Drittens lenken die Quellen den Blick auf die unmittelbaren und mittelbaren Profiteure des Raubzugs gegen die Juden. Die anfangs genannten Institutionen – Bibliotheken, Versicherungen, Banken und Museen – sind auch durch die Vermittlung der staatlichen Finanzbehörden zu ihrem Besitz gekommen. Dass sie nach so langer Zeit wieder im Rampenlicht der öffentlichen Aufmerksamkeit stehen, verdanken sie nicht zuletzt der Offenlegung der Akten aus den Finanzbehörden. Hinzu kommt die große Gruppe der mittelbaren Profiteure – Speditionen, Gutachter, Lagerfirmen, Handwerker usw. –, die im Auftrag der Finanzbehörden die Enteignung und Verwertung jüdischen Eigentums abwickelten. Auch auf sie richtet sich zunehmend das Interesse der Forschung.
 

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Mit Blick auf die staatlichen Finanzbehörden erscheint schließlich viertens der Gesamtcharakter der wirtschaftlichen Verfolgung in neuem Licht. Frühere Forschungsansätze betonten die gesellschaftliche Dimension der 'Arisierung' und konzentrierten sich vor allem auf die breite Beteiligung von Bevölkerung, Unternehmen und gesellschaftlichen Institutionen. Die neuen Quellen aus den Finanzbehörden legen nahe, die gesellschaftlichen Faktoren enger mit der staatlich kontrollierten Ausplünderung zu verschränken. Die bürokratische Verwaltungspraxis der Finanzbehörden prägte die Verfolgungswirklichkeit im NS-Staat erheblich mit.

 
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Diese neuen Perspektiven auf das Forschungsfeld waren für die Herausgeber Anlass, eine Ausgabe der zeitenblicke aktuellen Forschungsergebnissen in dem Bereich 'Raub und Wiedergutmachung' zu widmen. Die Beiträge von Claus Füllberg-Stolberg, Hans-Dieter Schmid und Christiane Kuller gehen auf die Sektion 'Holocaust und Finanzverwaltung' der 26. Jahreskonferenz der German Studies Association im Oktober 2002 zurück, die übrigen Artikel sind neu hinzugekommen. So werden die neuen Quellengruppen in Wort und Bild von Archivaren vorgestellt: Michael Stephan stellt die Steuer-, Devisen- und Einziehungsakten von Juden aus der NS-Zeit als neue Quelle der Zeitgeschichtsforschung vor, Bernhard Grau beschäftigt sich mit den Entschädigungs- und Rückerstattungsakten und Gerhard Fürmetz gibt an Hand der Korrespondenz Philipp Auerbachs Einblicke in die Praxis der frühen staatlichen Wiedergutmachung in Bayern. Nicole Marrenbach untersucht ergänzend dazu in ihrem Beitrag Memoiren verfolgter Juden als Quelle für die 'Arisierung'.
 
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Der Blick auf die fiskalische Verfolgung hebt nicht nur die Finanzbehörden als weiteren, bisher kaum untersuchten Akteur hervor, sondern profiliert auch die fiskalische Raison im 'Arisierungsprozess”. Worin unterschieden sich die Ziele der fiskalischen Judenverfolgung von denen anderer 'Ariseure'? Welche besonderen Mittel standen den Finanzbehörden zur Verfügung, um auf das Vermögen der Juden zuzugreifen? Welche spezifischen Charakteristika zeigte die fiskalische Verfolgungspraxis? Diesen Fragen geht der Beitrag von Christiane Kuller nach. Jedoch waren Juden nicht die einzigen Opfer der fiskalischen Ausplünderung. Der Beitrag von Hans-Dieter Schmid untersucht daher vergleichend die Praxis der fiskalischen Verfolgung der Sinti und Roma und richtet den Blick dabei auf Parallelen zur Behandlung der Juden durch die Finanzverwaltung.
 
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Dass die fiskalische Verfolgung für die Opfer zum schicksalsentscheidenden Faktor werden konnte, zeigt Claus Füllberg-Stolberg in seinem Beitrag über die Bedeutung der fiskalischen Verfolgung für die Frage der Emigration einer jüdischen Familie aus Niedersachsen. Der analytische Ertrag einer integrierten Untersuchung von gewerblicher und privater Verfolgung, die eng miteinander verflochten sein konnten, wird in dem Artikel von Jan Schleusener über die 'Arisierung' des Kunsthandelshauses Bernheimer in München deutlich.
 
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Die Wiedergutmachung von NS-Unrecht war nicht nur 'Nachgeschichte' des 'Dritten Reichs', sondern ein Prozess eigenen Rechts und ein Produkt der jeweiligen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Gegenwart. Der Beitrag von Constantin Goschler arbeitet die Charakteristika der deutschen 'Binnen-Wiedergutmachung' heraus, indem er einen bilanzierenden Überblick über die inzwischen über 50jährige Entwicklung gibt. Demgegenüber zeigt der Beitrag von Susanna Schrafstetter am Beispiel Englands die Entstehungszusammenhänge der internationalen Dimension der Wiedergutmachung von NS-Unrecht.
 
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Raub und Wiedergutmachung sind zwar jeweils Prozesse eigenen Rechts, aber dabei eng aufeinander bezogen – im Leben der Verfolger wie im Leben der Verfolgten. Dieser Gedanke bildet die inhaltliche Klammer der Beiträge in dieser Ausgabe der zeitenblicke. Mit Blick auf die Wiedergutmachung muss der Bogen gespannt werden um zu prüfen, inwieweit die Entzieher von einst nach Kriegsende als Fachexperten für die Rückerstattung zuständig waren. Beraubung und Wiedergutmachung sind aber auch im lebensgeschichtlichen Horizont der NS-Verfolgten unauflöslich miteinander verbunden. Dies zeigt sich auch in der Person von Edward Kossoy, mit dem Tobias Winstel das Interview dieser Ausgabe der zeitenblicke führte. Denn Kossoy war beides: von NS-Verfolgung betroffen und Wiedergutmachungsanwalt.
 
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Wir danken den Autoren für die gute Zusammenarbeit und für die Bereitschaft, sich auf dieses immer noch ungewohnte Medium einzulassen. Besonderen Dank schulden wir Gudrun Gersmann und Michael Kaiser, die uns seitens der Kölner Redaktion zur Herausgabe dieser Ausgabe ermutigt und uns redaktionell unterstützt sowie die technische Umsetzung übernommen haben. Den Münchner Teil der praktischen Umsetzung hat Reinhild Kreis engagiert und kompetent übernommen. Nun hoffen wir, mit den zeitenblicken einen möglichst großen Kreis an Interessierten zu erreichen, und sind gespannt auf Ihre Reaktionen.
 

Christiane Kuller
Axel Drecoll
Tobias Winstel

 


ZEITENBLICKE ISSN: 1619-0459