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  3 (2004), Nr. 2: Inhalt
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Dr. Edward Kossoy, geboren 1913 in Radom, Polen, war Anwaltsassessor in Warschau, als die Wehrmacht Polen überfiel. 1939 wurde er vom NKWD zu acht Jahren Arbeitslager verurteilt. Aufgrund des Vertrags zwischen der Regierung Sikorski und Molotow kam er nach zwei Jahren von dort frei und schloss sich der polnischen 'Anders'-Armee an. Mit dieser kam er 1942 in den Iran, wo er ein Jahr später nach einer schweren Malariaerkrankung 1943 vom Militärdienst entlassen wurde, sodass er noch im gleichen Jahr nach Palästina auswandern konnte. Sein Vater, seine erste Frau und seine Tochter aus dieser Ehe wurden im Holocaust ermordet.

In Palästina ließ man ihn 1948 als Rechtsanwalt zu, seine Anwaltslizenz war die letzte, die der letzte britische High Commissioner of Palastine noch unterzeichnete. Durch persönliche Kontakte zu Displaced Persons, die 1949 in Massen von Deutschland nach Israel auswanderten, kam er mit dem damals noch völlig neuen Rechtsgebiet der Wiedergutmachung in Berührung. Als erster Anwalt in Israel vertrat er von da an (gemeinsam mit dem Notar Arnold M. Apelbom) etwa 60.000 Entschädigungs- und Rückerstattungsfälle; seine Klienten lebten vor allem in Israel, aber auch in anderen Ländern, später insbesondere in den USA, Kanada, aber auch in der Bundesrepublik. Dort unterhielt er auch mehrere Vertretungen; er selbst lebte zwischen 1953 und 1958 in München und führte dort persönlich sein Büro. Seit 1958 lebt er in Genf. In seiner zwanzigjährigen Tätigkeit verhalf er unzähligen Antragstellern zur Durchsetzung ihrer Ansprüche und setzte mit seinen anwaltlichen Vertretungen und diversen Publikationen immer wieder Maßstäbe vor allem im Entschädigungsrecht. Er gilt als einer der wichtigsten Akteure der Wiedergutmachung.

"Ich habe gesehen, dass es auch ein 'anderes Deutschland' gibt."
Der NS-Verfolgte und spätere Wiedergutmachungs-Anwalt Dr. Edward Kossoy über seine Beschäftigung mit Rückerstattung und Entschädigung.
Interview im August 2002 in Genf. [*]

Das Gespräch führte Tobias Winstel.
 
<1>
In der Wiedergutmachung ging es – zumindest aus staatlicher Sicht – zunächst einmal um Geld; um Geld, das in der ökonomisch schwierigen Lage der Nachkriegszeit schwer aufzubringen war. Glauben Sie, dass die Durchführung der Wiedergutmachung deshalb von Anfang an unter fiskalischen Vorzeichen stand?

Hundertprozentig. Man versuchte – vor allem in Bayern – die Berechtigten herunterzuhandeln, immer runterzuhandeln, denn die Leute waren doch in einer Zwangslage. Sie waren immer auf das Geld angewiesen und daher bereit, für eine rasche Auszahlung auf einen Teil der Zahlungen zu verzichten. Das lag auch an der Linie des damaligen Bundesfinanzministers, übrigens ein Mann aus Bayern.

Sie meinen Fritz Schäffer.

Ja, und Schäffer behauptete damals, wenn man für Haftschäden mehr als 150 Mark pro Monat zahlen würde, dann ginge die Bundesrepublik bankrott. Solche Aussprüche blieben nicht ohne Folgen: So hat man diese 150 Mark beibehalten bis in das Schlussgesetz von 1965. Immer blieb es bei 150 Mark. Für eine Haft in Buchenwald oder in irgendeinem Lager 150 Mark – können Sie sich die Gefühle der Leute vorstellen? Nun, wenn man ganz allgemein von Wiedergutmachung spricht, dann – das ist meine persönliche Meinung – muss man feststellen, dass das eine sehr große und respektable Leistung der Bundesrepublik war. Aber andererseits sollte man auch in Betracht ziehen, dass das nicht aus reinen Wohlfahrtsgedanken entstand; es ging vielmehr um wirtschaftliche Interessen der Bundesrepublik. Zum einen wurde mit dem deutsch-israelischen Wiedergutmachungsabkommen der Boykott gegen Waren aus Deutschland hinfällig – schließlich bestand diese Wiedergutmachung zum Großteil gerade aus Warenlieferungen. Zum anderen hat auch die Bereitschaft der Bundesrepublik zur Entschädigung die weltweiten Tore für den deutschen Export wieder geöffnet, insbesondere nach Amerika. Und die Vereinigten Staaten hatten überall großen Einfluss, den sie diesbezüglich auch geltend machten. Ich bin absolut davon überzeugt, dass Adenauer, als er sich für die Wiedergutmachung einsetzte, diese Zusammenhänge im Auge gehabt hat.

 
<2>
Wiedergutmachung für NS-Opfer als eine Art Entre-billet Bonns für die westliche Welt – diesen Zusammenhang sieht man auch in der historischen Forschung immer klarer. Aber was war denn der Antrieb der USA? Was erwarteten sie sich davon, dass die Bundesrepublik dieses Problem anging?

Ich glaube, Washington bzw. die Besatzungsmacht übte in dieser Hinsicht aus zwei Gründen sehr starken Druck auf Westdeutschland aus: Der eine war, dass in den Vereinigten Staaten viele deutsche Emigranten – Juden und Nicht-Juden – lebten, die wesentliche Vermögenswerte in Nazideutschland verloren hatten. Außerdem waren zahlreiche ehemalige Displaced Persons in die USA ausgewandert, die ebenso wie die deutschen Emigranten eine beachtliche Anzahl an Wählern und 'holy tax payers' darstellten. Von dieser Seite spürte die Regierung in Washington einen großen Druck; daher hatte auch die Rückerstattung, nicht die Entschädigung, für die Besatzungsmächte Priorität.

 

<3>
Waren die Displaced Persons nicht in der Mehrzahl arme Juden aus Osteuropa, die schon vor der Verfolgung nicht viel besessen und praktisch keinen Anspruch auf Rόckerstattungszahlungen hatten?

Das stimmt, das waren sehr oft arme Leute – zunächst; doch das änderte sich sehr schnell, denn: Wer waren die Überlebenden? Das waren doch meistens junge Leute, die von jüdischen Organisationen noch in den DP-Lagern gut ausgebildet wurden, etwa in den ORT-Schulen. [1] Denn die jüdischen Organisationen haben die große Bedeutung einer guten Ausbildung schnell erfasst und Konsequenzen daraus gezogen. Das heißt, die jungen Leute, die nach Amerika kamen, waren nicht jene, die zum Beispiel in der berühmt-berüchtigten Möhlstraße in München mit Zigaretten oder falschen Dollars schwarz handelten. Das waren Leute, die beruflich ausgebildet waren und nach ihrer Ankunft in Amerika sofort etwas anfangen konnten. Übrigens halfen ihnen beim beruflichen Start meistens die Wiedergutmachungszahlungen aus Deutschland. Sicherlich hatten einige auch Verwandte, die ihnen am Anfang helfen konnten, natürlich auch jüdische Organisationen. Aber die Wiedergutmachung – das war ihr Startmoney.

Aber sie haben doch nur einen Teil ausgezahlt bekommen.

Ja, sicher, zunächst nur einen Teil. Und der Rest, die so genannte 'zweite Rate' wurde erst später bezahlt. Einige haben gewartet, andere nicht. Aber eigentlich sind diejenigen am besten gefahren, die gewartet haben, da es dann doch nicht so lange gedauert hat – und sie vor allem den gesamten Betrag erhalten haben. Die anderen, die nicht warten konnten – beispielsweise, weil sie auswandern wollten – haben ihre Ansprüche verkauft, und zwar oft zu einem schlechten Kurs.

Das heißt, wenn ein Häftling noch 2.000 Mark offen hatte, dann ist er zur Bank gegangen, und die haben ihm auf den Feststellungsbescheid dann 1.000 Mark gegeben und haben die anderen 1.000 Mark sozusagen auf diesen Wechsel behalten und das später bei den Wiedergutmachungsbehörden eingefordert. Im Grunde haben Banken, Makler etc. somit an der finanziellen Not der ehemaligen NS-Opfer verdient.

Genau so war das. Erst Ende der 1950er-Jahre hat man die Ansprüche komplett ausgezahlt. Wer so lange warten konnte, war eben im Vorteil.

 

<4>
Meinen Sie denn, die deutsche Wiedergutmachungsverwaltung hat die Zahlungen bewusst verschleppt?

Nicht generell, aber es gab schon Entscheidungsträger, die der Entschädigung sehr negativ gegenüber standen. Zum Beispiel kannte ich einen Ministerialrat im Baden-Württembergischen Justizministerium; der hat Anfang der 1950er-Jahre, als die Wiedergutmachung durch die Affäre Auerbach ohnehin in Misskredit gebracht war, mir ins Gesicht gesagt: "Herr Kossoy, das mit der Entschädigung, das ist reiner Betrug!" Ich habe ihn erstaunt angesehen und gemeint, das müsse er mir erklären. Und er sagte zu mir: "Schauen Sie, es ist doch so: Wenn wir Deutsche etwas machen, machen wir es genau. Es wurde beschlossen, die Juden zu vernichten – also wurden sie vernichtet. Das heißt, es kann eigentlich kaum Wiedergutmachungsberechtigte geben. Diejenigen, die jetzt kommen, das sind nicht die, denen Wiedergutmachung zustehen würde. Das sind doch alles irgendwelche weiteren Verwandten, die erfahren haben, dass jemand aus ihrer Familie umgekommen ist. Und genau die kommen jetzt und wollen Entschädigung."
Da habe ich ihm entgegengehalten, es kämen doch auch Leute mit Auschwitz-Tätowierungen in die Entschädigungsämter, die habe man ja nicht irgendwo erhalten. Die sind in einer bestimmten Reihenfolge vergeben worden; das könne man doch nachprüfen, wann und woher die Leute kommen. Ich selbst hätte ja eine Tabelle erstellt, anhand deren man genau feststellen könne, wann und für welchen Häftlingstransport die eintätowierte Auschwitz-Nummer vergeben worden war. Damit konnte ich den Ministerialrat überzeugen, und er verfügte die sofortige Freigabe zu Bearbeitung aller Antragsteller mit Auschwitz-Tätowierungen. So lief das ab. Aber sehen Sie, das waren die Leute, die etwas in der Wiedergutmachung zu sagen hatten. Gott sei Dank waren nicht alle so.
 

<5>
Konnten Sie gut mit den deutschen Behörden zusammenarbeiten?

Im Prinzip ja, aber manche haben mir übel genommen, dass ich den Staat mit meiner Tätigkeit viel Geld gekostet habe. Ich kann noch so eine Geschichte erzählen, diesmal von Dr. Hermann Zorn, einem Richter im Entschädigungssenat des Bundesgerichtshofs. Ich habe einmal, um die Anmeldefristen des Entschädigungsgesetzes einzuhalten, Sammelanmeldungen – übrigens auch eine Erfindung von mir – gemacht. Nur so konnte ich sicherstellen, dass die Berechtigten nicht reihenweise ihre Ansprüche verloren. Aus dem Bayerischen Finanzministerium kam ein besorgter Anruf vom zuständigen Ministerialrat Dr. Ernst Hebeda, da man für jeden einzelnen auf diese Weise angemeldeten Anspruch einen formellen Feststellungsbescheid erlassen hätte müssen. Da ich mit Hebeda – übrigens ein sehr anständiger Mensch und Beamter – aus dem Finanzministerium sehr gut zusammenarbeiten konnte, haben wir uns dahingehend geeinigt, dass ich zwei Jahre Zeit bekäme dafür, die Anträge zu spezifizieren. Täte ich das nicht, wäre der Antrag als zurückgezogen bzw. ungültig anzusehen. Diese sogenannte Kossoy-Klausel sollte mir dann jedoch zum Verhängnis werden. Denn die zwei Jahre sind schnell vorübergegangen; in der Zwischenzeit war das Schlussgesetz gekommen, das neue Fristen eröffnete.
Das gab nun aber Hermann Zorn Gelegenheit, mir Schwierigkeiten zu machen. Ich kannte ihn schon aus seiner Zeit in den Finanzministerien in München und später in Bonn, wo er als Mitarbeiter von Georg Blessin eigentlich gute Arbeit leistete. Daher hatte ich im Grunde keine Probleme mit ihm. Erst seit seiner Berufung in den Entschädigungssenat des Bundesgerichtshofs kam seine grundsätzlich ablehnende Haltung gegenüber der Wiedergutmachung zum Vorschein. Er wurde zum Garant für eine sparorientierte und offensichtlich entschädigungsfeindliche Rechtsprechung. Ich hatte ihn daher in einem Artikel mit dem Titel 'Zornige Wiedergutmachung' diesbezüglich einmal angegriffen, und nun sah er seine Zeit gekommen, sich an mir zu rächen:

Er sorgte dafür, dass ein einmal ausgesprochener Verzicht gültig blieb, unabhängig von einer neuen gesetzlichen Regelung; man konnte ihn nicht mehr zurückziehen. Das heißt, ein großer Teil der Sammelanmeldungen wurde somit ungültig, die Leute verloren alle ihre Ansprüche. Das Ergebnis davon war, dass mich meine eigenen Klienten verklagt haben wegen entgangener Ansprüche.
 

<6>
Kaum zu glauben, dass man sich wirklich persönlich an Ihnen gerächt hat. Aber Sie sagten immerhin, dass nicht alle so waren in der Wiedergutmachungsverwaltung.

Nein, sicher, es wäre falsch, das zu behaupten. Es gab auch eine Reihe an Leuten, mit denen man ausgezeichnet zusammen arbeiten konnte – in den Ministerien ebenso wie in den Ämtern. Beispielsweise hatte ich zu Dr. Georg Blessin, dem Vater der bundesdeutschen Wiedergutmachungsgesetzgebung, eine exzellente Beziehung. Mit ihm konnte ich mich immer auch über schwierige Fragen verständigen. Es kam eben auch darauf an, ob jemand ein Gespür für die Sache hatte. Wobei mir eigentlich diejenigen am liebsten waren, die einfach korrekt und nüchtern die Entschädigungsregelungen anwandten und ein wenig im Sinne der Verfolgten dachten. Lassen Sie mich ein letztes Beispiel geben:
Als man im Gesetz das Tragen des Judensterns für entschädigungsfähig betrachtete, wurde heftig darum gestritten, wo und zu welchem Zeitpunkt ein Zwang zum Stern-Tragen existierte. Anfangs sollte man sogar nachweisen, dass man den Stern auch tatsächlich getragen hat. Ich hab dann immer gefragt, ob man die Nacht auch belegen muss, schließlich würde doch auch die Nacht gezahlt. Also gut, irgendwann hat es dann gereicht, wenn in einem Gebiet das Stern-Tragen zum entsprechenden Zeitpunkt dekretiert gewesen war. In Bayern gab es einen Regierungsrat – ein an sich sehr anständiger Mensch – der ein Verzeichnis zusammengestellt hatte mit den Daten, wo und wann der Judenstern eingeführt worden war. In diesem Verzeichnis war das Tragen des Sterns im Generalgouvernement auf den 8. Januar 1940 datiert; das stimmte aber nicht, richtig war der 1. Dezember 1939. Auch wenn das wie eine Kleinigkeit aussieht, für die Berechtigten hieß das zwei volle Monate weniger H aftentschädigung, als ihnen eigentlich gesetzlich zustand. Ich war sehr wütend und habe massenweise Klagen eingereicht. Für mich persönlich hat sich das nicht gelohnt – von den jeweils 300 Mark, die die Verfolgten bekamen, erhielt ich 30 Mark. Sie können sich vorstellen, dass das nicht meinen Aufwand deckte. Aber es ging mir ums Prinzip.
 
<7>
Irgendwann dann saß ich mit besagtem Regierungsrat bei einem Glas zusammen und fragte ihn: "Sie wussten doch genau, dass Ihr Verzeichnis nicht stimmt; warum machen Sie das?" Er hat gelacht und gesagt: "Ihre Mandanten erhalten in der Regel für Schaden an Freiheit zwischen sechs- und neuntausend Mark, je nachdem, ob sie aus dem Ostteil Polens kamen oder aus dem Generalgouvernement. Und wenn einer 300 Mark weniger erhält, so ist das doch für den einzelnen keine große Differenz. Aber wenn der Staat bei 1.000 solchen Fällen 300.000 Mark spart, dann ergibt das eine Dorfschule, die wir davon finanzieren können." Und da sehen Sie die Mentalität von Finanzbeamten. Er will mit Geldern von Leuten, die von den Nazis verfolgt waren, in Bayern Dorfschulen bauen. Unglaublich, aber so war es.
 
<8>
Gab es denn nicht auch Juden in der Wiedergutmachungsverwaltung?

Wenige. Ich erinnere mich an einen in Nordrhein-Westfalen. Ach ja, in Baden-Württemberg gab es einen jüdischen Wiedergutmachungsrichter, vielleicht auch noch einige in den Behörden. Nicht zu vergessen den Berliner Senator Lipschitz, aber auch in Bayern die Präsidenten des Entschädigungsamtes Meier und natürlich Auerbach. Die wurden dort auch als eine Art praktische Wiedergutmachung eingesetzt.

 
<9>
Haben Sie eigentlich auch Rückerstattungsverfahren gemacht oder nur Entschädigung?

Auch ein paar Rückerstattungsfälle, aber zu wenig meines Erachtens. Denn erstens ging das bedeutend schneller und einfacher…

…weil die Alliierten die Vermögensverhältnisse in der jungen Bundesrepublik möglichst schnell geklärt haben wollten?

Ja. Wenn ein Haus 'arisiert' worden war, kam der frühere Eigentümer, und meistens ist er sich mit dem neuen Besitzer einig geworden. Dann hat man sich verglichen, und das war es. Das war viel einfacher als in der Entschädigung. Außerdem bestand fast bis zum Abschluss der Rückerstattung eine international besetzte, von bundesdeutschen Behörden unabhängige Gerichtsbarkeit.
Und zweitens konnte man als Anwalt nur in der Rückerstattung wirklich Geld verdienen, nicht in der Entschädigung. Sie sehen ja selbst an dem vorigen Beispiel, wenn ich so eine Sache monatelang durchfechten musste und dafür 15 oder 30 Mark erzielte, das war doch gar nichts. Und selbst diese bescheidenen Einkünfte wollte man uns Anwälten streitig machen, da das anfangs nicht geregelt war. Außerdem hat man mir vorgeworfen, ich arbeite ohnehin illegal in Deutschland.

 

<10>
Sie waren ja auch nach deutschem Recht kein Anwalt.

Nein. Als ich nach München gekommen bin, das erste Mal 1950 als Anwalt, ging ich in den Justizpalast zum Vorsitzenden der Anwaltskammer, stellte mich vor und sagte ihm, wozu ich gekommen bin und was ich da beabsichtige zu machen. Man schrieb das Jahr 1950. Er hat mich sehr höflich empfangen und mir alle mögliche Hilfe zugesagt. Wenige Jahre später, etwa 1953 oder 1954, hat die Münchner Anwaltskammer gegen mich Anzeige erstattet. Der Vorwurf lautete, ich führe unbefugterweise die Bezeichnung Rechtsanwalt, dazu sei ich nicht berechtigt, da ich in Deutschland nicht zugelassen war. Im Entschädigungsgesetz war jedoch vorgesehen, dass ich mit einer Bewilligung vom Amtsgerichtspräsidenten München als so genannter 'Prozessagent' in Wiedergutmachungsdingen agieren durfte. Diese Bewilligung erhielt ich dann schließlich; in Baden-Württemberg war so etwas gar nicht nötig, dort gab es einen Landgerichtsbeschluss, nach dem ich zur Vertretung berechtigt war. In Bayern dagegen durfte ich immer nur als 'Prozessagent' auftreten.

 

<11>
Da wir gerade über die Rückerstattung sprachen: Haben Sie noch Erinnerungen an die JRSO, die 'Jewish Restitution Successor Organization'?

Sicher.

Ich habe dazu eine Frage: Wenn man sich Akten jüdischer Gemeinden und Artikel jüdischer Zeitungen aus den 1950er-Jahren ansieht, gewinnt man den Eindruck, dass die JRSO sehr unpopulär war bei vielen Juden im Nachkriegsdeutschland. Wie erklären Sie sich das?

Dass sie bei den Deutschen unbeliebt waren, ist klar, denn sie haben Forderungen gestellt. Bei den Juden waren sie unbeliebt, weil sie eine Konkurrenz für die hiesige Ortsgemeinde waren. Nur wenige Gemeinden hatten wirklich etwas von der JRSO. Wenn zum Beispiel die JRSO in Landsberg etwas rückerstattet bekommen hat, hat die jüdische Gemeinde in Landsberg davon nichts gehabt; denn dort waren nur noch ein paar Juden, die waren zu wenige, um von der JRSO etwas zu bekommen, denn sie galten nicht als lebensfähige Gemeinde. Nur große Gemeinden wie München haben davon profitiert – und natürlich die im Ausland.
Aber eigentlich muss man nicht bei der JRSO, sondern schon bei der URO anfangen. In Israel hießen sie MILTAM, und die haben alles gemacht, um meine Arbeit zu erschweren. Das waren sozusagen unsere Konkurrenten. Sie hatten viele Mitarbeiter, die im Großen und Ganzen nicht schlecht gearbeitet haben. Aber sie hatten eben andere Interessen als ich und mein Partner Apelbom.

 

<12>
Aus welchem Grund hatten Sie eigentlich mit Apelbom in Israel gemeinsam eine Kanzlei?

Das hatte auch private Gründe. Apelbom hat nie wirklich etwas von der Wiedergutmachung verstanden, ihn interessierte das nicht. Aber er war englischer Barrister; und wir haben angefangen zusammenzuarbeiten, da ich für alle Beglaubigungen in Wiedergutmachungssachen eben einen Notar brauchte. Und die anderen Kollegen wollten selbstverständlich Geld dafür. Er war derjenige, der kein Geld wollte; er sagte, ich arbeite mit dir und wir machen die Rechnung später. So sind wir zusammen gekommen. Wir haben uns auch persönlich sehr gut verstanden.

 

<13>
Sie haben so viele tausend Wiedergutmachungsfälle betreut. Mich würde daher noch ihre Einschätzung zu der Frage interessieren, was die Entschädigung für die Berechtigten bedeutete. Hatte sie in erster Linie eine materielle Relevanz, etwa um sich eine neue berufliche Existenz aufzubauen. Oder veränderte die Wiedergutmachung auch etwas im psychologischen Bereich der ehemaligen Verfolgten? Führte sie dazu, dass die Berechtigten in irgendeiner Hinsicht ihre Identität – oder womöglich sogar das Verhältnis zum ehemaligen Verfolgerstaat Deutschland – reparieren konnten?

Vor allem würde ich sagen, das ist individuell sehr unterschiedlich, und auch von der jeweiligen Situation nach dem Krieg abhängig. Ohne Zweifel war die materielle Hilfe für viele nach dem Krieg enorm wichtig. Ich würde aber auch nicht unterschätzen, dass durch die Wiedergutmachung bei vielen ehemaligen Verfolgten, die ja über die ganze Welt verstreut lebten, das Verhältnis zu Deutschland, seinen Menschen und seiner Kultur wieder besser wurde. Viele deutsche Emigranten kehrten in den 1950er- oder 1960er-Jahren wegen der Wiedergutmachung nach Deutschland zurück.

 

<14>
Weil sie dadurch mit ihrer Heimat versöhnt waren, oder nur um ihre Ansprüche zu regeln?

Beides. Man darf nicht vergessen, dass die Wiedergutmachungsgelder in Israel zu einem sehr schlechten amtlichen Kurs umgetauscht wurden. In Israel blieb von dem Geld nicht so viel übrig; beispielsweise konnte man sich von einer Entschädigung über 8.000 Mark dort nur ein Ein-Zimmer-Appartement kaufen. Damit konnte aber keiner etwas anfangen. In Deutschland dagegen konnte man sich davon ein kleines Geschäft aufbauen, einen Kurzwarenladen, eine Bar, irgendetwas. Dazu hat man auch ohne große Bemühungen etwas Kredit erhalten, außerdem hat die jüdische Gemeinde vor Ort geholfen, die damit eine Rückkehr emigrierter Juden unterstützen wollte. Aus diesem Grund haben massenweise Leute Israel verlassen. Und das hat dann natürlich auch für Juden in der ganzen Welt das Bild von Deutschland verändert, auch wenn die meisten tatsächlichen Zahlungen schon vor dreißig, vierzig Jahren geleistet wurden.
Natürlich haben dazu auch andere – nicht-finanzielle – Formen der Wiedergutmachung beigetragen; so zum Beispiel, dass einige Städte irgendwann damit begonnen haben, regelmäßig ehemalige jüdische Mitbürger in ihre Heimatstadt einzuladen. Gerade für die Juden im Ausland spielt das eine große Rolle. Im Übrigen wäre auch das gute Verhältnis zwischen der israelischen und deutschen Regierung heute ohne die Wiedergutmachung so nicht denkbar. Wenn Sie heute einen israelischen Reisepass aufschlagen, so steht dort nicht mehr so wie früher der Vermerk 'Gültig für alle Länder außer Deutschland' – ohne die Wiedergutmachung wäre das nicht denkbar.

 

<15>
Das hört sich so an, als habe die Wiedergutmachung erfahrungsgeschichtlich im Leben der Berechtigten nur Positives gewirkt. Aber gab es nicht auch Opfer, die mit Deutschland und seinem Geld überhaupt nichts zu tun haben wollten?

Ja natürlich, gerade am Anfang gab es sehr viele, die bewusst keine Wiedergutmachung beantragten. Aber wenn sie mich fragen, wie viele das waren: Das ist schwer zu sagen, denn wer keinen Antrag stellte, wurde eben auch nicht aktenkundig. Wenn ich es richtig sehe, wurden es mit der Zeit auch immer weniger.

 

<16>
Wie steht es denn mit Ihrer eigenen Wiedergutmachung – Sie waren ja auch verfolgt. Haben Sie persönlich Entschädigungszahlungen erhalten?

Nur meine Frau, aber auch nur sehr begrenzt: Sie hat Haftentschädigung bekommen vom Bayerischen Landesentschädigungsamt. Die Wiedergutmachung für ihren Gesundheitsschaden, den sie durch die Nazi-Verfolgung erlitten hat, hat man ihr nicht zugestanden.

Sie meinen zu Unrecht?

Ja, eindeutig. Ich würde sogar so weit gehen und sagen, dass man sich damit einmal wieder an mir gerächt hat.

 

<17>
Aber es gab doch klare gesetzliche Regelungen. Wie hätte man sich da an Ihnen rächen sollen?

Schauen Sie, meine Frau, die ja wie ich aus Polen kam, war nicht nur im Ghetto, sondern auch zwei Jahre lang im Lager in Bergen-Belsen. Um Entschädigung für Gesundheitsschäden zu bekommen, hätte sie aber den so genannten Stichtag, also den Aufenthalt in Deutschland zu einem bestimmten Zeitpunkt, gebraucht. Den hatte sie aber nicht, und deswegen musste sie laut Gesetz ihre Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis belegen. Damit hatte sie aber keinen Erfolg. Obwohl ihre Familie immer einen großen Bezug zu Deutschland hatte; ihr Bruder hatte – noch vor Hitler – eine Berufsschule im Erzgebirge besucht, für sie selbst war Deutsch nach Polnisch so etwas wie eine zweite Muttersprache. Das zählte aber alles nichts. Sie wollte sogar einen Sprachtest machen. Aber die Behörden haben das abgelehnt mit der Begründung, sie hätte Deutsch – wir lebten mittlerweile in Genf – eben in der Schweiz gelernt.

Ja, aber Genf ist doch französischsprachig. Das ist ja unglaublich.

Es war aber so. Das Landgericht und später das Oberlandesgericht haben diese behördliche Sicht auch noch bestätigt. Ich meine, später war das ohne Bedeutung für uns – in finanzieller Hinsicht. Aber es hätte ihr zugestanden.

Haben Sie nie dagegen geklagt?

Nachdem das Oberlandesgericht das Urteil bestätigt hatte, wollte ich nicht mehr weiter prozessieren. Denn im Entschädigungssenat des Bundesgerichtshofs saß Hermann Zorn, von dem ich Ihnen vorhin erzählt habe. Der war mir auch nicht wohl gesonnen, dort wäre ein 'Fall Kossoy' nicht zu gewinnen gewesen.

 

<18>
Das ist wirklich kaum zu glauben.

Ja, so war es. Sie müssen verstehen: Ich habe den Staat durch meine Arbeit viel Geld gekostet. Mich wundert es nicht, dass ich in den staatlichen Wiedergutmachungs-Kreisen der Bundesrepublik nicht sehr beliebt war.

Aber das widerspricht doch dem Rechtsgrundsatz: Wenn jemand berechtigte Ansprüche auf Entschädigung hat, müssen sie erfüllt werden, unabhängig von anderen, persönlichen Erwägungen.

Natürlich, doch zu so einem Verständnis kommt wohl erst die heutige Generation. Früher hat man das oft anders gesehen: Die Verfolgung sei eine – zugegeben schwere – Last, die der Verfolgte eben leider tragen muss. Wenn man schon bezahlen musste, dann wollte man es wenigstens begrenzen. So war die allgemeine Meinung nach dem Krieg in Deutschland.
Andererseits habe ich auch angenehme Erfahrungen während meiner Tätigkeit in Deutschland gemacht. Ich erinnere mich beispielsweise gerne an ein Rückerstattungs-Verfahren, das Ende der 1960er-Jahre vor dem Landgericht in Berlin verhandelt wurde. Es war mein letzter Fall, mit dem ich mich sozusagen aus der Wiedergutmachung verabschiedete. Mein 'Gegner' in dem Verfahren, der Vertreter des Finanzsenators, überraschte mich mit einer veritablen Laudatio am Ende des Verfahrens, mit der er nicht nur meine "einzigartigen Fachkenntnisse", sondern auch meine "immer faire Verhandlungsweise" lobte.

 

<19>
Würden Sie denn sagen, dass die Geschichte der Wiedergutmachung eine Erfolgsgeschichte ist?

Im Großen und Ganzen ja, in mancherlei Hinsicht: Sie hat vielen Opfern eine neue Existenzgründung ermöglicht und auch sonst ihre Lage verbessert; und sie hat vor allem, wie ich vorher schon angedeutet habe, eine atmosphärische Besserung gebracht.

 

<20>
Auch für Sie persönlich? Immerhin haben Sie beziehungsweise Ihre Frau als Antragsteller ja keine guten Erfahrungen gemacht?

Das stimmt, aber abgesehen davon: In den ersten ein, zwei Jahren, die ich in Deutschland lebte, wollte ich mit keinem deutschen Nicht-Juden sprechen, außer wenn es um Dienstliches ging. Doch allmählich habe ich diese abweisende Haltung immer mehr abgelegt; zum einen, weil ich beeindruckende Menschen kennen gelernt habe. Zum anderen habe ich durch die Wiedergutmachung in der Bundesrepublik auch wieder einen Rechtsstaat erkennen können. Es ist auch nie immer alles nur schwarz oder weiß. Ich habe auf der Straße mit Menschen gesprochen, die noch immer der Meinung waren, dass die Häftlinge in Dachau dort nicht zu Unrecht eingesperrt waren; und zugleich habe ich auch entgegengesetzte Erfahrungen gemacht.
Insgesamt habe ich nicht zuletzt durch meine Beschäftigung mit der Wiedergutmachung gesehen, dass es auch ein 'anderes Deutschland' gibt. Das hat mich dazu bewogen, im Jahre 1961 an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen eine Stiftung zu errichten mit dem Ziel, deutsch-jüdische Aussöhnung über einen akademischen Austausch zwischen israelischen Fakultäten und Tübingen zu fördern. Übrigens habe ich diese Stiftung mit über 300.000 Mark ausgestattet – Geld, das ich in der Wiedergutmachung verdient hatte.

 

<21>
Nun gibt es ja vor allem in den letzten zehn Jahren geradezu einen Boom, was Entschädigungs- und Rückerstattungsforderung mit Blick auf Massenverbrechen angeht. Debatten über Nazi-Gold, aber auch Fragen wie Reparationen für Kolonialisierungsschäden etc. beziehen sich oft bis in sprachliche Wendungen hinein auf den deutschen Umgang mit dem Holocaust. Könnte man vielleicht so weit gehen, zu sagen, die Welt hat – was die Wiedergutmachung betrifft – von Deutschland gelernt?

Ich weiß nicht, da wäre ich vorsichtig. Wir haben diese Forderungen in der Schweiz erst kürzlich erlebt, da geht es im Grunde nur um globale wirtschaftliche Interessen. Ich muss Ihnen sagen, ich bin grundsätzlich gegen diese Methoden – grundsätzlich, weil das eigentlich Erpressung ist, was dort geschieht. Natürlich können die amerikanischen Anwälte, also Fagan und Co., argumentieren, sie handelten im Interesse der Berechtigten; und dagegen kann man auch nichts sagen. Mir ist auch klar, dass man mit der Gentlemen-Art nicht besonders weit kommt. Aber ihre Forderungen sind übertrieben, übrigens auch ihre Honorare. Ich finde ihre Methode einfach übertrieben, brutal und nicht gut. Ich als Anwalt wäre für so etwas nicht geeignet – sie sind es, dann sollen sie es machen.

 
<22>
Herr Dr. Kossoy, ich danke Ihnen für das Gespräch.
 

Anmerkungen:

[*]
Eine Kurzfassung des Interviews wurde bereits im AUFBAU LXIX (2003)/ 10 veröffentlicht.
[1]
DP = Displaced Persons; ORT = Organisation for Rehabilitation through Training.
 

Internet-Websites:

ORT-Schulen: www.ort-deutschland.de/pages/textonly.htm
JRSO: http://aufbauonline.com/2001/issue7/pages7/5.html
Auerbach: in dieser Ausgabe: Gerhard Fürmetz : Neue Einblicke in die Praxis der frühen Wiedergutmachung in Bayern: Die Auerbach-Korrespondenz im Bayerischen Hauptstaatsarchiv und die Akten des Strafprozesses gegen die Führung des Landesentschädigungsamtes von 1952
 

Gesprächspartner

Dr. Edward Kossoy

 
Tobias Winstel, M.A.
Historisches Seminar der LMU München
Abteilung Neueste Geschichte und Zeitgeschichte
Geschwister-Scholl-Platz 1
80539 München
winstelt@hotmail.com
 

Anmerkung der Redaktion:

Empfohlene Zitierweise:

"Ich habe gesehen, dass es auch ein 'anderes Deutschland' gibt." Der NS-Verfolgte und spätere Wiedergutmachungs-Anwalt Dr. Edward Kossoy über seine Beschäftigung mit Rückerstattung und Entschädigung. Interview im August 2002 in Genf., in: zeitenblicke 3 (2004), Nr. 2 [13.09.2003], URL: <http://www.zeitenblicke.historicum.net/2004/02/interview/index.html>

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ZEITENBLICKE ISSN: 1619-0459