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  3 (2004), Nr. 2: Inhalt
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Claudia Moisel

Grenzen der Wiedergutmachung
Die Entschädigung für Verfolgungsopfer des Nationalsozialismus in West- und Osteuropa

Ein Forschungsprojekt des Lehrstuhls für Neueste und Zeitgeschichte der LMU (Prof. Hockerts), gefördert von der Volkswagen Stiftung
http://www.geschichte.uni-muenchen.de/ngzg/
hockerts/forschung_entschaedigung.shtml
 
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Die bundesdeutsche Entschädigungsgesetzgebung bezog sich auf deutsche NS-Verfolgte, hingegen nicht – von sehr eng begrenzten Ausnahmen abgesehen –auf ausländische NS-Verfolgte. Deren Ansprüche wurden als Teil der Kriegsfolgenregelung betrachtet und daher der Reparationsproblematik zugerechnet. Da das Londoner Schuldenabkommen (1953) die Regelung der Reparationsfrage bis zum Zustandekommen eines Friedensvertrags mit Deutschland aufschob, waren die Ansprüche ausländischer NS-Verfolgter bis dahin im Prinzip blockiert.
 
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Diese Sperre geriet indessen unter vielfachen internationalen Druck, der im Blick auf das westliche und das östliche Europa zu signifikant unterschiedlichen Ergebnissen führte. Während die Bundesrepublik zwischen 1959 und 1964 mit elf westeuropäischen Staaten Globalabkommen abschloss, die die Ansprüche der “Westverfolgten” zumindest teilweise erfüllten, blieben die Verfolgten, die ihren Wohnsitz in Osteuropa hatten, von einer Entschädigung ausgeschlossen.
 
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Eine Ausnahme wurde allein für Opfer pseudomedizinischer Experimente gemacht: Für diese traf die Bundesrepublik Sonderregelungen mit Jugoslawien (1961 und 1963), der CSSR (1969), Ungarn (1971) und Polen (1972). Die Ansprüche anderer Opfer-Kategorien jenseits des “Eisernen Vorhangs” wurden bis zum Beginn der sozialliberalen Ära abgewiesen und dann in Verträgen mit Jugoslawien (1972 und 1974) und Polen (1975) gegen Abkommen über Wirtschaftshilfe bzw. zinsgünstige Kredite gewissermaßen eingetauscht. Diese Art “indirekter Wiedergutmachung” trug freilich den individuellen Ansprüchen der osteuropäischen NS-Verfolgten keine Rechnung.
 
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Das Projekt untersucht Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Geschichte der Entschädigung für ehemalige Verfolgte in Ost- und Westeuropa in internationaler Perspektive . In vergleichend angelegten Länderstudien werden die Abkommen mit westeuropäischen Staaten auf der einen Seite und die an dieses Präjudiz anknüpfenden Initiativen osteuropäischer Länder in den 1960er- und 1970er-Jahren auf der Grundlage bislang nicht ausgewerteter Quellen untersucht. Die Erforschung dieses bislang nur ansatzweise bearbeiteten Themas erscheint aus mehreren Gründen besonders wichtig:
 
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Erstens wird die ungleiche Behandlung der ehemaligen Verfolgten in West- und Osteuropa als Epochenphänomen des Ost-West-Konflikts und somit im Kontext der Blockbildung und der internationalen Beziehungen untersucht. Im Spiegel der Verhandlungen über Entschädigungsansprüche kommen konstitutive Faktoren europäischer Politik in den Blick, zumal die Verhandlungen zumeist ein Junktim mit weiteren strittigen Fragen aus der Hinterlassenschaft des Krieges knüpften. Während die Wiedergutmachung im Westen und die Abwehr im Osten als Teil der Westintegration der Bundesrepublik in der Phase des Kalten Krieges analysiert werden können, wird die Gratwanderung der “indirekten Wiedergutmachung” als Teil der neuen Ostpolitik in der Phase der Entspannung zu untersuchen sein. Zugleich wird so erklärbar, warum Entschädigungsfragen wieder aktuell wurden, sobald der Ost-West-Konflikt beendet war.
 
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Zweitens werden diese diplomatiegeschichtlichen Zusammenhänge mit der Geschichte der Opfer des Nationalsozialismus in Europa verknüpft. In diesem Sinne versteht sich das Projekt als ein Beitrag zur Gesellschaftsgeschichte des postnationalsozialistischen Europa. In exemplarischen Fallstudien wird der jeweils spezifische Umgang der Bundesregierung einerseits und der Regierungen der beteiligten Staaten andererseits mit den Opfern des Nationalsozialismus in den während des Kriegs von Deutschland besetzten Ländern untersucht. Formen und Ziele der Interessenvertretung von NS-Verfolgten durch Opferverbände und politische Parteien werden ebenso in den Blick genommen wie die Kriterien des Verfolgungsbegriffs und die Verteilungsmodi der Entschädigungszahlungen durch nationale Gremien.
 
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Drittens kann die Erforschung der Entschädigungsabkommen neues Licht auf die deutsche Geschichte werfen. Sie erweitert die historische Analyse der westdeutschen Aufarbeitung der Vergangenheit in den 1950er-, 1960er- und frühen 1970er-Jahren um bestimmte, bisher kaum beachtete Aspekte. Dabei wird auch die Selbstdarstellung bzw. die Fremdwahrnehmung der Bundesrepublik untersucht. Auch die innerdeutschen Beziehungen kommen auf spezifische Weise in den Blick, insbesondere durch die Verknüpfung von Wiedergutmachung und Hallstein-Doktrin.
 
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Viertens können die Genese und die Wirkungen der Wiedergutmachungsabkommen mit west- und osteuropäischen Ländern in den 1960er- und 1970er-Jahren erst jetzt auf der Grundlage einschlägiger Archivalien quellennah erforscht werden. Ausschlaggebend ist dafür zum einen der Ablauf der 30 Jahre währenden Sperrfristen, die sowohl in Deutschland als auch in den meisten Nachbarländern gelten, zum anderen die Öffnung der osteuropäischen Archive seit der Epochenwende von 1989/90.
 

Autorin

Dr. Claudia Moisel
Historisches Seminar der LMU München
Abteilung Neueste Geschichte und Zeitgeschichte
Geschwister-Scholl-Platz 1
80539 München
Tel.: 089/2180-5582
moisel@lrz.uni-muenchen.de

 

Empfohlene Zitierweise:

Claudia Moisel: Grenzen der Wiedergutmachung: Die Entschädigung für Verfolgungsopfer des Nationalsozialismus in West- und Osteuropa, in: zeitenblicke 3 (2004), Nr. 2 [13.09.2004], URL: <http://www.zeitenblicke.historicum.net/2004/02/moisel.html>

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ZEITENBLICKE ISSN: 1619-0459