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  3 (2004), Nr. 1: Inhalt
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Georg Schmidt-von Rhein

Traditionslinien

Interview mit Herrn Georg Schmidt-von Rhein
 
<1>
Sie waren im aktiven Berufsleben Landgerichtspräsident in Limburg und später in Darmstadt. Gleichzeitig sind Sie Initiator und Gründer der Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung, die mit ihrem Museum und der Forschungsstelle inzwischen weit über die Grenzen Deutschlands bekannt ist. Wann sind Sie überhaupt zum ersten Mal mit dem Reichskammergericht in Berührung gekommen? Und was bewog Sie schließlich dazu, die Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung zu gründen?
 
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Die Institution des Reichskammergerichts war mir schon früh aus dem rechtsgeschichtlichen Studium bekannt. Mit den Akten des Gerichts wurde ich zum ersten Mal bei einer Stadtführung in Wetzlar im Jahre 1977 konfrontiert, als wir das damals noch unter der Leitung von Herrn Flender stehende Stadtarchiv besichtigen durften.
 
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1983 wurde ich zum Präsidenten des Landgerichts Limburg berufen und besuchte kurz darauf den damaligen Oberbürgermeister Walter Froneberg in Wetzlar. Aus dem Gespräch ergab sich, dass eine zusammenhängende Darstellung des Reichskammergerichts nicht existierte. Mein Vorschlag, die noch vorhandenen Relikte des Gerichts in einem Spezialmuseum der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, fiel bei Herrn Froneberg auf fruchtbaren Boden. Die Stadt Wetzlar stellte die Räumlichkeiten zur Verfügung, das notwendige Geld wurde durch die neu gegründete Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung und zahlreiche Sponsoren aufgebracht. Herr Museumsdirektor Hartmut Schmidt stellte sich für die Museumsleitung zur Verfügung.
 
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Die Gründung der Forschungsstelle war ein Produkt aus der harmonischen Zusammenarbeit mit dem Rechtshistoriker Prof. Dr. Dr. Bernhard Diestelkamp von der Universität Frankfurt/M., der schon frühzeitig zu dem Gründungsteam der Gesellschaft gestoßen war und mit seinen Initiativen einen neuen Forschungsschub in Sachen "Reichskammergericht" auslöste.
 
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Die ältere Forschung hat immer die Ineffizienz des Reichskammergerichts betont und sich dabei auf mangelnde Urteile und die lange Bearbeitungszeit bezogen. Heute wissen wir, dass viele Verfahren außergerichtlich durch Vergleich beendet wurden, eine Vorgehensweise, die von den Reichsgerichten nachdrücklich unterstützt wurde. Angesichts der heutigen Tendenz zur Mediation stellt sich die Frage, ob das Rechtssystem des Alten Reiches eine Neubewertung verdient. Was meinen Sie?
 
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Das Rechtssystem des Alten Reiches kann man ohne Kenntnisse der mittelalterlichen Verhältnisse nicht beurteilen. Das Fehderecht des Mittelalters, das die Durchsetzung vermeintlicher Ansprüche im Wege der Selbsthilfe auch mit Gewalt legitimierte, musste bei Fehlen einer starken unabhängigen Autorität zu kriegerischen Auseinandersetzungen unter den Territorien und unbefriedigenden Zuständen im gesellschaftlichen Zusammenleben führen. Insoweit können die Beschlüsse des Reichstages zu Worms von 1495, die zur Sicherung eines "Ewigen Landfriedens" ein oberstes unabhängiges Reichsgericht geschaffen haben, gar nicht hoch genug eingeschätzt werden.
 
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Die ältere Forschung, welche die Praxis des Reichskammergerichts mehr unter den Gesichtspunkten der Dauer des Verfahrens und seines Abschlusses durch Urteil untersucht hat, ist nicht zu Unrecht von zahlreichen Mängeln im Einzelnen und unbefriedigenden Ergebnissen in bestimmten spektakulären Fällen ausgegangen. Sie hat jedoch der Tatsache zu wenig Beachtung geschenkt, dass durch die Beschlüsse von 1495 und die Existenz des Reichskammergerichts an sich das Bewusstsein der Gesellschaft und ihr Verhältnis zum Recht grundlegend geändert worden ist. An die Stelle der Gewalt trat der Gedanke des Ausgleichs, die Betonung der friedensstiftenden Funktion des Rechts und faktisch auch die Möglichkeit, diesen Rechtsweg mit Erfolg zu beschreiten. Insofern muss das Bild der älteren Forschung sicher ergänzt und korrigiert werden.
 
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In der Frühen Neuzeit spricht man von einer immer stärkeren Verrechtlichung von Konflikten. Schon die Zeitgenossen sahen darin den Grund, warum die Französische Revolution im Reich nicht Fuß fassen konnte. Die Möglichkeit gegen die eigene Obrigkeit an den Reichsgerichten klagen zu können, habe gewalttätiges Aufbegehren überflüssig gemacht. Die Rechte der Untertanen seien durch das Rechtssystem des Reiches gewahrt gewesen. Wie sehen Sie das? Kann man aus dieser Behauptung eine bestimmte Rechtsstaatstradition der Deutschen ableiten?
 
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Der Gedanke, dass das deutsche Rechtssystem eine Revolution wie in Frankreich verhindert habe, ist bestechend, aber in dieser allgemeinen Form sicherlich nicht richtig. Zum einen hat es auch in Deutschland Unruhen und Revolutionen gegeben, wie man am Beispiel der Bauernkriege, des 30-jährigen Krieges und der Revolution von 1848 ablesen kann. Auch gab es für die Französische Revolution nicht nur eine Ursache, sondern eine ganze Reihe von Faktoren, die das Fass zum Überlaufen brachten. Darüber hinaus darf man nicht verkennen, dass infolge der Appellationsprivilegien für viele Untertanen der Weg vor das Reichskammergericht ohnehin verschlossen war.
 
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Trotzdem bin ich der Meinung, dass das Bewusstsein, sich notfalls auch mit rechtlichen Mitteln gegen unrechtmäßiges Verhalten der jeweiligen Herrschaft wehren zu können, dazu beigetragen hat, in den meisten Fällen zunächst eine Streitbeilegung auf friedlichem Wege zu suchen. Von entscheidender Bedeutung ist nach meiner Auffassung, dass die Rechtsprechung des Reichskammergerichts im Laufe seiner Tätigkeit viele heute grundrechtlich gesicherte Positionen im Ansatz bestätigt und dann teilweise sehr differenziert ausgebaut hat. Ich glaube deshalb schon, dass man den Kameralen den Verdienst zuschreiben muss, Wegbereiter des Rechtsstaates in Deutschland gewesen zu sein.
 
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Reichshofrat und Reichskammergericht mussten sich mit vielen verschiedenen territorialen Rechtsnormen und dem Herkommen auseinandersetzen. Angesichts der zunehmenden Europäisierung des Rechts stellt sich heute ebenfalls die Frage, wie das Verhältnis von territorialem und überterritorialem Recht geregelt werden soll. Kann man hier etwas aus dem Alten Reich lernen?
 
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Die Geschichte kann eine gute Lehrmeisterin sein. Das gilt auch für das heutige Verhältnis von nationalem und europäischem Recht. Die Geschichte hat jedoch auch gezeigt, dass die Angleichung des Rechts nur in dem Maße von statten gehen kann, wie sich die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse einander nähern. Das Überstülpen fremder oder zu stringenter Rechtsvorschriften führt nicht zu einer Akzeptanz der Bevölkerung, die jedoch für ein effizientes Rechtssystem Voraussetzung ist. So wie das Reichskammergericht eine außerordentlich lange Zeit benötigte, um in Deutschland ein rechtsstaatlich fundiertes System auf- und auszubauen, so wird auch das europäische Rechtssystem im Hinblick auf die unterschiedlichen Interessen nur längerfristig erfolgreich etabliert werden können.
 
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Das Gespräch wurde im Dezember 2003 geführt. Die Fragen für 'zeitenblicke' stellte Anette Baumann
 
 

Gesprächspartner

Georg Schmidt-von Rhein
Vorsitzender der Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung e.V.
Hofstatt 19
35578 Wetzlar
forschungsstelle@reichskammergericht.de
 
Dr. Anette Baumann M.A.
Leiterin der Forschungsstelle
der Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung
Rosengasse 16
35578 Wetzlar
forschungsstelle@reichskammergericht.de
 

Anmerkung der Redaktion:

Empfohlene Zitierweise:

Ein kulturhistorisches Experimentierfeld par excellence: Traditionslinien: Interview mit Georg Schmidt-von Rhein; Landgerichtspräsident a. D., in: zeitenblicke 3 (2004), Nr. 3 [13.12.2004], URL: <Bitte fügen Sie hier aus der Adresszeile des Browsers die aktuelle URL ein.>

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ZEITENBLICKE ISSN: 1619-0459