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  3 (2004), Nr. 3: Inhalt
Gabriele Recker
Karten vor Gericht
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Kartographische Darstellungen als Medien in einem Kommunikationsprozess über räumliche bzw. räumlich zu verortende Sachverhalte stellen keine Erfindung der Moderne dar, sondern sind in Mitteleuropa seit dem Beginn der Frühen Neuzeit in zunehmendem Maße überliefert. Von Anfang an spielen die in rechtlichen Zusammenhängen entstandenen kartographischen Darstellungen eine entscheidende Rolle. Prozesskarten, die im Umfeld des Reichskammergerichts (RKG) entstanden sind, gehören dabei mit zu den ältesten überlieferten archivischen Karten überhaupt. Ihr Einsatz als Informations- und Beweismittel lässt sich über einen Zeitraum verfolgen, der vom ausgehenden 15. bis zum beginnenden 19. Jahrhundert reicht. Damit sind Betrachtungen über die Entwicklung dieses Bereiches der neuzeitlichen Kartographie sowie den damit eng verbundenen Aspekten der Raumwahrnehmung und -darstellung in ihrer räumlichen und zeitlichen Differenzierung möglich.
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Entstanden sind die Prozesskarten entweder im Auftrag der Prozessparteien selbst, die die Altkarten in unterschiedlichen Stadien des Prozessverlaufes ihren Schriftsätzen beilegten, oder auf Veranlassung des Gerichts bzw. der von diesem bestellten Kommissare im Rahmen einer Augenscheinnahme der strittigen Örtlichkeiten. Die Vielfältigkeit der bei ihrer Herstellung verwendeten kartographischen Methoden und graphischen Darstellungsformen, die von einfachen schematischen Zeichnungen oder Skizzen bis hin zu künstlerisch anspruchsvollen Gemälden versierter Maler reichen, aber vor allem ihr in der Regel noch gewahrter bzw. rekonstruierbarer Aktenzusammenhang, der zahlreiche Hinweise auf die Entstehung und Nutzung der Prozeßkarten enthält, lassen sie zu einer potentiell äußerst wertvollen Quelle für eine Vielzahl von Wissenschaftsdisziplinen werden.

Abb. 1

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An erster Stelle ist hier natürlich die Kartographiegeschichte zu nennen, die anhand ihrer für den weiten Bereich der archivischen Karten vergleichenden Betrachtungen über die Entwicklung dieses Gebietes der neuzeitlichen Kartographie nachgehen kann. Des Weiteren haben diese forensischen Karten als hervorragende Quellen derjenigen historisch arbeitenden Fachrichtungen zu gelten, die sich mit den in den Prozesskarten überlieferten Rauminformationen beschäftigen. So liefern insbesondere auch Altkarten, die aufgrund ihrer vermeintlich rückständigen, da kartometrisch und topologisch oftmals ungenauen Darstellungen von Seiten der modernen Kartographie gerne belächelt werden, aufgrund ihrer häufig sehr anschaulichen und auch die dritte Dimension erfassenden Bildlichkeit wertvolle Informationen über vergangene Kulturlandschaftszustände.

Abb. 2

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Auch Disziplinen wie die Volkskunde, die Kunst- sowie Architekturgeschichte profitieren von den oftmals auf den Karten enthaltenen szenischen Darstellungen und Ansichten einzelner Gebäude oder Siedlungen.

Abb. 3

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Nicht unberücksichtigt bleiben dürfen selbstredend die mit der Nutzung von kartographischen Darstellungen vor Gericht verknüpften rechtshistorischen Aspekte, vornehmlich die Frage nach der Beweiskraft, die diesem Kommunikationsmedium eingeräumt wurde. Darüber hinaus stellt sich die Frage, welche Personen(-gruppen) in diese Art der Kommunikationsprozesse involviert waren. Dies beginnt bei den Auftraggebern und den von ihnen mit der - damals vergleichsweise kostenintensiven - Erstellung der Karten verfolgten Ziele, betrifft die als Kartenmacher herangezogenen Personen und ihre jeweiligen Vorkenntnisse bzw. Fähigkeiten, aber nicht minder die als Rezipienten fungierenden und mit Karten sicherlich nicht allzu vertrauten Juristen. Informationen für diese Aspekte finden sich des Öfteren in den jeweiligen Parteiakten, vor allem aber in den von den Prozessparteien an das Reichskammergericht gerichteten Schriftsätzen, die die Glaubwürdigkeit der Karten und ihrer Hersteller diskutieren.
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Beispielhaft sei im Folgenden eine dieser Prozesskarten etwas näher vorgestellt: [1]
In einem seit einigen Jahren schwelenden Streit um die Mühlenbannrechte und Mahlgebühren wandten sich 16 Colone (Hofleute) aus dem Kirchspiel Gütersloh 1798 an das Reichskammergericht mit der Bitte um Erkennung eines Mandates gegen ihren Landesherrn, den Grafen zu Bentheim-Tecklenburg, sowie die Witwe des Meiers Edeler von der Langerts Mühle. Hintergrund des Streites war, dass die Witwe diesen, seit 1666 an die von ihr betriebene Mühle gebundenen Hofleuten höhere Entgelte für ihre Tätigkeit in Rechnung stellen wollte und sie die Colonen zuerst vorläufig, dann jedoch endgültig an die herrschaftliche Mühle bannen wollte. Auf diesem Wege wollte sich die Meierin von einem Teil ihrer landesherrlichen Abgaben und Lasten befreien.
Die Colonen weigerten sich aber sowohl die höheren Gebühren zu zahlen, als auch die wesentlich weiter entferntere gräfliche Mühle aufzusuchen. Um ihre Position zu verdeutlichen fügten sie dem vom Reichskammergericht extrajudizialiter eingeforderten Gegenbericht einen "Situations Plan von denen in der herrschaft Rheda belegenen quaestionirten wegen, nach unten benannten respectiven Mühlen" bei.

Abb. 4

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Auf diesem sind die in schematischen Ansichten wiedergegebenen Höfe der 16 involvierten Colonen, die Langerts Mühle in ihrer Nähe und - deutlich weiter im Süden - die sogenannte herrschaftliche Neue Mühle sowie die herrschaftliche Avenstroths Mühle im Grundriss zu erkennen. Eher als Orientierungshinweis zu werten ist die angedeutete Abbildung der Ortslage von Gütersloh. Ebenfalls dargestellt, da für den Streitfall von großer Relevanz, sind die Verbindungswege. Neben dem beigegebenen graphischen Maßstab verweisen die ausführlichen, auf dem Kartenblatt enthaltenen Entfernungsangaben für die Strecken zwischen den einzelnen Höfen und den Mühlen auf eine der Kartierung zugrunde liegende Vermessung des Gebietes. Über diese erfahren wir in den zugehörigen Akten einiges mehr: Von den Klägern beauftragt wurde der auswärtige (und damit vermeintlich unabhängige), von der königlich-preußischen Kriegs- und Domänenkammer vereidigte Landmesser Carl Heinz Wiepke aus Bielefeld. Da dieser jedoch "billig bedenken leug, in einem auswärtigen Lande, ohne Erlaubniß der Landes herrschaft eine förmliche vermessung mit der Kette vorzunehmen; so musste er die Ausmessung nach geometrischen Schritten verrichten" [2], was allerdings, laut Ansicht der Auftraggeber, "auch zu dem vorhabenden Endzweck völlig aus langend" [3] war. Nichtsdestotrotz versuchte die Gegenseite der Karte jegliche Glaubwürdigkeit abzusprechen. Allerdings ebenfalls nicht zu Unrecht entgegneten die Kläger hierauf: "Mit bloßem Läugnen ist gegen einen wirklich geführten Beweiß nichts ausgerichtet, und warum hat denn nicht der Impetratische Sachführer, wenn die diesseitige von dem Feldmesser Wiepke geschehene Ausmessung der distanzen und der von ihm aufgenommenen Situations Plan für unrichtige gehalten wurde, durch eine anderweitige vermessung der distanzen und ein darüber beigebrachtes Certificat den Beweis des Gegentheils oder Irrthums angetreten? Dies hätte doch durch eine ganz simple Operation auf die leichteste Art bewirket werden können, und schon allein aus der vermeidung eines solchen Gegenbeweises erhellet schon auffallend, daß man an der Richtigkeit der diesseits nachgewiesenen grosen Entlegenheit der herrschaftlichen Mühlen gar nicht gezweifelt habe" [4].
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Wie das Reichskammergericht diesen Sachverhalt letztendlich bewertet hat, bleibt leider im Dunkeln, da in dieser Sache kein Endurteil gefällt wurde. Hervorzuheben an diesem Fall ist aber nicht zuletzt, dass eine Prozesspartei, deren Mitglieder teilweise nicht einmal des Schreibens kundig waren [5], sich des auch im 18. Jahrhundert noch vergleichsweise unüblichen und modernen Kommunikationsmittels 'Karte' bedienten, um räumliche Beziehungen anschaulich darzustellen. Dies mag zwar auf Betreiben ihres örtlichen Rechtsberaters geschehen sein, aber zumindest die nicht unerheblichen Kosten für einen auswärtigen, zudem offiziell geprüften und zugelassenen Feldmesser hatte die Partei allein zu genehmigen und zu tragen [6]. Der Nutzen von Karten als Beweismittel in der (Frühen) Neuzeit blieb also nicht nur, wie vielleicht zu erwarten wäre, Prozessparteien wie Adeligen, Territorialherren oder den Reichsstädten vorbehalten.
Anmerkungen
[1] Vgl. zum folgenden: StA Münster, RKG G 968/3129b.
[2] StA Münster RKG G 968/3129b, fol. 121r.
[3] Ebd.
[4] StA Münster RKG G 968/3129b, fol. 331v.
[5] So unterzeichneten einige von ihnen die Vollmacht ihrer Prokuratoren Lic. F. W. Bissing und Dr. M. J. Schick lediglich mit drei Kreuzen (StA Münster RKG G 968/3129b, fol. 187r-188v, fol. 231r-232v).
[6] Dass dies auch für die dem Kloster Marienfeld leibeigenen Colonen gilt, wird explizit durch den dortigen Prälaten bescheinigt (StA Münster, RKG G 968/3129b, fol. 263r).

Autorin:

Dr. Gabriele Recker M.A.
Pestalozzistr. 6
55239 Gau-Odernheim
g.recker@gmx.de

Empfohlene Zitierweise:

Gabriele Recker: Karten vor Gericht, in: zeitenblicke 3 (2004), Nr. 3, [13.12.2004], URL: <Bitte fügen Sie hier aus der Adresszeile des Browsers die aktuelle URL ein.>

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