Navigation

  3 (2004), Nr. 3: Inhalt
Werner Troßbach
Untertanenprozesse am Reichshofrat
<1>
In Prozessen zwischen Verbänden ländlicher Untertanen und ihren Obrigkeiten wurden die Reichsgerichte an der "Nahtstelle" (Press) der Feudalgesellschaft tätig. Gegenstände waren Abgaben, Frondienste, Allmendenutzungen und Verfassungsfragen auf der Ebene von Dorf und Territorium. In der Praxis nutzten vorwiegend Bewohner von Kleinterritorien, in denen kein mediater Adel institutionalisiert war, die Gerichte. Die räumlichen Schwerpunkte entsprechen den 'Schütterzonen der Reichsverfassung' in Südwestdeutschland, Franken, dem Rhein-Main-Gebiet und am Niederrhein. Zunächst wurde vor allem das Reichskammergericht in Anspruch genommen; unter Kaiser Rudolf II. wandten sich Untertanenkorporationen auch an den Reichshofrat. Vor 1648 nahmen Untertanenprozesse am Reichskammergericht meist die Form des Mandatsprozesses an, obwohl die Nutzung dieses Verfahrens für Untertanen seit dem Reichstagsabschied von 1530 durch das "Schreiben um Bericht" an die betroffene Obrigkeit (Anforderung 1594 erneuert und 1654 im Jüngsten Reichsabschied (JRA) bestätigt) erschwert war.
<2>
Nach 1648 kam es am Reichskammergericht - wie bereits zuvor am Reichshofrat - häufiger zur Einleitung von Hauptverfahren. Um die Situation 'vor Ort' zu klären, wurden meistens Kommissionen eingesetzt. Seit dem späten 16. Jahrhundert war die Nutzung der Reichsgerichte durch Untertanenverbände signifikant, am Reichskammergericht überschritt sie jedoch bis zum Ende nie 10% der gesamten Fälle eines Stichjahres. Für den Reichshofrat liegen keine Zahlen vor. Das Jahr 1654 führte zu einer stärkeren Beanspruchung dieses Gerichts, da eine Reihe von Bauerndelegationen ihr Recht am Rande des Regensburger Reichstages suchte - nicht zuletzt in der Hoffnung, den Kaiser persönlich anzutreffen. Ihre Fälle wurden dann meist an das zuständige Forum, den in Regensburg gleichfalls anwesenden Reichshofrat, überwiesen und von diesem auch dann festgehalten, als er nach Wien zurückkehrte. Die tatsächliche Inanspruchnahme der Gerichte ist vor allem im späten 16., Mitte des 17. sowie zu Beginn und Ende des 18. Jahrhunderts wegen der Dauer und Intensität der Verfahren höher anzusetzen, als dies die Zahlen für das Reichskammergericht signalisieren. Ein Teil der Prozesse wurde - nach zum Teil mehr als hundert Jahren - durch Vergleiche beendet, manche 'versandeten' auch. Wenn Endurteile ergingen, unterstützten sie selten die Positionen der Untertanen. Dies gilt für beide Gerichte. Dass zu Beginn des 18. Jahrhunderts erneut zahlreiche Prozesse an den Reichshofrat gelangten, liegt zum einen daran, dass sich im Horizont gestiegener Reichssteuern die Konflikte vor Ort verschärften und das RKG durch den Ingelheim’schen Streit (1703-1711) lahmgelegt war.
<3>
Dass trotz geringer Erfolgsaussichten und enormer Kosten Klagen eingereicht wurden, lag nicht nur an den hohen Erwartungen der ländlichen Bevölkerung an die kaiserliche Justiz, sondern auch an den 'Nebenwirkungen' der Verfahren. Einzelne Entscheidungen hatten aufschiebende Wirkung, und der klagende Untertanenverband fühlte sich dadurch aufgewertet, dass er formal der Obrigkeit als gerichtliche Partei gleichgeordnet war. Vor Ort wurden durch das Verfahren - nicht zuletzt durch die kostspielige zeitliche Streckung - Prozesse der Bewusstseinsbildung ermöglicht und Organisationsformen (Versammlungsrecht) geschützt. In zahlreichen Zusammenkünften und Aktionen unmittelbarer Resistenz verwandelte sich, von Advokaten unterstützt, diffuser Unmut in konsistente Programmatik. In Gestalt der Deputierten erwuchsen dem bäuerlichen 'Syndikat' aus den eigenen Reihen zum Teil geschickte Sachwalter, die durch ihren Einsatz 'vor Ort' und am Sitz des jeweiligen Gerichtes für die zeitliche und räumliche Ausweitung des Horizontes sorgten. Die Deputiertenstruktur war insbesondere für die Reichshofratsprozesse charakteristisch. Während in die zentral gelegenen Städte Speyer und Wetzlar größere Bauerndelegationen gelangen und in Einzelfällen (Sayn-Wittgenstein 1724, Wied-Neuwied 1719 und 1790) regelrechte Demonstrationen abhalten konnten, wurden die Prozesse in der entlegenen kaiserlichen Residenzstadt Wien meist von nicht mehr als zwei bäuerlichen Abgesandten betrieben. Den Prozessen werden vor allem für das 18. Jahrhundert Anstöße für die Herausbildung einer kritischen 'Öffentlichkeit' zugeschrieben.
Literatur
Ralf Fetzer: Untertanenkonflikte im Ritterstift Odenheim vom ausgehenden Mittelalter bis zum Ende des Alten Reiches (= Veröffentlichungen der Kommission für Geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg: Reihe B, Forschungen 150), Stuttgart 2002.
Helmut Gabel: Widerstand und Kooperation. Studien zur politischen Kultur rheinischer und maasländischer Kleinterritorien (= Frühneuzeit-Forschungen 2); Zugl.: Bochum, Univ. Diss. 1992, Tübingen 1995.
Rita Sailer: Untertanenprozesse vor dem Reichskammergericht. Rechtsschutz gegen die Obrigkeit in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts (= Quellen und Forschungen zur Höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich 33), Köln / Weimar / Wien 1999.
Werner Troßbach: Der Schatten der Aufklärung. Bauern, Bürger und Illuminaten in der Grafschaft Wied-Neuwied (= Deutschlands 18. Jahrhundert: Studien 1), Fulda 1991.
Werner Troßbach: Soziale Bewegung und politische Erfahrung. Bäuerlicher Protest in hessischen Territorien 1648-1806 (= Sozialgeschichtliche Bibliothek), Weingarten 1987.
Andreas Würgler: Unruhen und Öffentlichkeit. Städtische und ländliche Protestbewegungen im 18. Jahrhundert (= Frühneuzeit-Forschungen 1); Zugl.: Bern, Univ. Diss. 1994, Tübingen 1995.

Autor:
Apl. Prof. Dr. Werner Troßbach
FB 11 Univ. Kassel
Steinstr. 19
37213 Witzenhausen
trossb@wiz.uni-kassel.de

Empfohlene Zitierweise:

Werner Troßbach: Untertanenprozesse am Reichshofrat, in: zeitenblicke 3 (2004), Nr. 3, [13.12.2004], URL: <Bitte fügen Sie hier aus der Adresszeile des Browsers die aktuelle URL ein.>

Bitte setzen Sie beim Zitieren dieses Beitrags hinter der URL-Angabe in runden Klammern das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse. Zum Zitieren einzelner Passagen nutzen Sie bitte die angegebene Absatznummerierung.

historicum.net Editorial Abonnement Archiv Richtlinien Impressum