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  3 (2004), Nr. 3: Inhalt
Stephan Wendehorst
Jüdische Geschichte als imperiale Geschichte: die Juden des Alten Reichs, das Reichskammergericht und der Reichshofrat
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Trotz des Aufstiegs der Territorialstaaten war die Lebenswelt der jüdischen Bevölkerung des Alten Reichs in der Frühen Neuzeit in unterschiedlichen Abstufungen bis 1806 entscheidend von imperialen, durch Reich und Kaiser bestimmten Parametern (mit-)bestimmt. Die anhaltende Bedeutung der imperialen Rahmenbedingungen zeigt sich unmittelbar an der Rechtsprechung der beiden höchsten Reichsgerichte, dem Reichsherkommen und den Reichsgesetzen, der Bestätigung kaiserlicher Privilegien für jüdische Gemeinden, der Erteilung kaiserlicher Privilegien für einzelne Juden, der Normsetzung von Reichstag und Kreistagen, der Einforderung von Abgaben und 'freiwilligen' Krediten, jüdischen Kaiserhuldigungen sowie an den indirekten Ausstrahlungen imperialer Räume wie den kaiserlich privilegierten Messen, der Reichsarmee und den Reichs-, Wahl- und Krönungstagen. Der Rechtsprechung von Reichskammergericht und Reichshofrat sowie der Tätigkeit des Reichshofrats als oberster Verwaltungsbehörde des Reichs kam im Beziehungsgeflecht von Reich, Kaiser und Juden besondere Bedeutung zu. Aufgrund der zentralen Rolle, die diese Institutionen als Schnittstellen imperialer und jüdischer Räume spielten, bietet sich ihre Tätigkeit als Dechiffrierungscode für die Entschlüsselung der Beziehungen zwischen Kaiser, Reich und Juden an. Die Rechtsprechungs- und Herrschaftspraxis des Reichskammergerichts und mehr noch des Reichshofrats lässt sich als Seismograph für die Untersuchung der Stellung der Juden im Alten Reich sowie als Spiegel für das Verhältnis von Kaiser und Reichsständen nutzen.
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Hinsichtlich der Integration der Juden in das Alte Reich und deren Grenzen wirft die Inanspruchnahme der beiden obersten Reichsgerichte durch Juden und jüdische Gemeinden, die gemessen am Bevölkerungsanteil relativ hoch war, zahlreiche Fragen auf. Ist sie auf die Tätigkeit von Juden in Bereichen, die besonders anfällig für Rechtsstreitigkeiten waren, zurückzuführen, wie es die besonders häufig auftretenden Schuldprozesse nahe legen? Spiegelt sich in ihr die prekäre Lage der Juden, die in besonderem Maß auf den Rückhalt der Reichsgerichte angewiesen waren? Oder handelt es sich um eine modifizierte Neuauflage des traditionellen, mittelalterlichen Nahverhältnisses der Juden als Gruppe zum Kaiser? Welche Rolle spielte die ständig geübte Rechtsprechungspraxis des Reichskammergerichts und des Reichshofrats bei der Durchsetzung der Vorstellung der Juden als cives Romani als Vorstufen der Judenemanzipation? Inwiefern stützte sie zum einen die Handlungsspielräume individueller Juden gegenüber Christen und gegenüber den jüdischen Gemeinden und zum andern die Stellung der Juden als Gruppe, sei es als Gemeinde oder in ihrer Gesamtheit? Besonders für das 18. Jahrhundert, als sich die Prozessparteien nicht mehr ausschließlich auf Reichsrecht und Reichsherkommen beriefen, sondern ihre Argumentation auch auf naturrechtliche Vorstellungen stützten, stellt sich die Frage nach den Entscheidungsgrundlagen der Reichsgerichte.
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Aus der Perspektive der Verfassungsgeschichte des Alten Reichs ist die Juden betreffende Rechtsprechung der beiden Reichsgerichte und die Privilegienerteilung, bzw. -bestätigung durch den Reichshofrat als Barometer für die Gewichtsverteilung im Verhältnis von Kaiser und Reichsständen von Interesse. Inwieweit lassen sich Interventionen zugunsten von Juden im Falle von Rechtsverletzungen durch den Landesherren als Versuche interpretieren, reichsweite Standards der jüdischen Verhältnisse festzuschreiben oder die kaiserliche Position auf der Basis des oberstrichterlichen Amts des Kaisers, der auch nach 1648 offiziell nie aufgegebenen Vorstellung kaiserlicher Machtvollkommenheit und der kaiserlichen Oberherrschaft über die Juden, zu bewahren? Dienten die Juden des Alten Reichs somit - ähnlich der Thurn- und Taxischen Post - auch als ein Instrument zur Aufrechterhaltung und Durchsetzung des kaiserlichen Herrschaftsanspruchs gegen die sich konsolidierenden Landesherrschaften?
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Eine Beantwortung der aufgeworfenen Fragen wird erst nach der systematischen Auswertung der Juden betreffenden Akten des Reichskammergerichts und des Reichshofrats, wie sie von verschiedenen Projekten unternommen wird, möglich sein. Inwieweit es gerechtfertigt ist, den Raum, den die jüdische Bevölkerung des Alten Reichs einnahm, als durch Recht und Herrschaft konstituierten imperialen Raum zu betrachten, wird sich zeigen, wenn sich die Herkunft der jüdischen Kläger und Supplikanten mit Sicherheit bestimmen lässt. Dominierten Juden aus den reichsnahen Gebieten der Reichskirche, der Reichsritterschaft und den wenigen Reichsstädten mit jüdischer Bevölkerung? Kamen sie aus den durch konkurrierende horizontale und vertikale Herrschaftsansprüche charakterisierten 'offenen' Territorien? Oder herrschten mit individuellen kaiserlichen Privilegien ausgestattete Hoffaktoren und Heereslieferanten vor?
Literatur
Stefan Ehrenpreis / Andreas Gotzmann / Stephan Wendehorst: Probing the Legal History of the Jews in the Holy Roman Empire - Norms and Application, in: Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts 2 (2003), 409-487.

Autor:
Dr. Stephan Wendehorst
Simon-Dubnow-Institut für jüdische Geschichte und Kultur e.V.
Goldschmidtstr. 28
04103 Leipzig
wendehorst@dubnow.de

Empfohlene Zitierweise:

Stephan Wendehorst: Jüdische Geschichte als imperiale Geschichte: die Juden des Alten Reichs, das Reichskammergericht und der Reichshofrat, in: zeitenblicke 3 (2004), Nr. 3, [13.12.2004], URL: <Bitte fügen Sie hier aus der Adresszeile des Browsers die aktuelle URL ein.>

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