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  4 (2005), Nr. 1: Inhalt
Jürgen Kocka
Zum Verhältnis von Studienreform und Geschichtswissenschaft (Thesen)
Abstract
Thesenartig werden einige Bemerkungen zur Studienreform in den Geschichtswissenschaften formuliert. Die Einheit des Fachs Geschichte muss im BA-Studium geleistet und gesichert werden. Dies schließt eine Verständigung darüber ein, welche methodischen Einsichten, thematischen Wissensbestände und einzuübende Praktiken als grundlegend anzusehen sind. Gegenläufige Tendenzen dürfte es dagegen im MA-Studium geben. Deswegen sind Überregulierungen zu vermeiden; möglichst früh sollten Studierende an der (Re-)Produktion von Wissen teilhaben. Die inhaltliche Bandbreite muss gewahrt bleiben, ein europäisches Kerncurriculum ist nicht sinnvoll. Dringend nötig ist es, die Lehre gegenüber der Forschung aufzuwerten, wozu auch Studiengebühren einen Beitrag leisten können.
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1. Die Vormittagsdiskussion verwies auf folgende Trends, die die gegenwärtige Entwicklung der Disziplin kennzeichnen:

a) Ausweitung des wissenswerten Wissens und seine resolute Ausdehnung über die nationalgeschichtlichen Grenzen hinweg: Tendenzen zur Europäisierung und Globalisierung der geschichtswissenschaftlichen Fragen und Antworten. Es wird mit der Kombination von Komparatistik und Verflechtungsgeschichte experimentiert. Bisher marginale Teilfächer - beispielsweise zur außereuropäischen Geschichte - gewinnen an Bedeutung fürs Fach, allerdings nicht separat, sondern in neuen Kombinationen.

b) Ausweitung des Spektrums der in der Geschichtswissenschaft möglichen Methoden und Zugriffe im Rahmen der Relativierung überkommener 'Meistererzählungen'.

c) Die konstruktivistische Akzentverschiebung in der Geschichtswissenschaft des letzten Jahrzehnts hat die Abhängigkeit des geschichtswissenschaftlichen Wissens von den Gesichtspunkten und Perspektiven der Forschenden umso kräftiger ins Bewusstsein gehoben und die Bedeutung des 'positivistischen' Basiswissens weiter relativiert.

d) Interdisziplinäre Praktiken haben die Grenzen zwischen den Disziplinen zwar nicht obsolet, aber durchlässiger gemacht und damit die Leistungsfähigkeit der Geschichtswissenschaft gesteigert.

All dies bedeutet nicht eine zunehmende Zerfaserung der Geschichtswissenschaft, denn es gibt auch neue Verflechtungen. Doch ihre berechtigte Vielfalt hat weiter zugenommen und ihre Kanonisierbarkeit weiter reduziert. Dieser Prozess dürfte sich fortsetzen.
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2. Was bedeutet die neue Studienordnung im Verhältnis dazu? Zunächst sei die geplante Einführung des Bachelors (BA) in den Blick genommen und dabei unterstellt, dass sich unter dieser Bezeichnung nicht nur das neu benannte alte Grundstudium verbirgt, sondern ein dreijähriger Studiengang, der Historiker ausbildet, die nur zum Teil in Master- und Promotionsstudiengängen Geschichte weiterstudieren, vielmehr zum (großen) Teil nach dem BA in Positionen in verschiedenen Berufsfeldern einrücken.

a) Es besteht ein Gegensatz zwischen den beobachtbaren Trends zur wachsenden inneren Vielfalt der Geschichtswissenschaft einerseits und dem Zwang des BA-Studiengangs, zu konzentrieren, zu regulieren und das Wichtigste in knapper Zeit zu lehren.

b) Gefahren zeichnen sich ab: die Gefahr der Überregulierung, der überstarken Beschneidung von Spielräumen der Spontaneität, auch die Gefahr der Errichtung neuer Mobilitätsbarrieren zwischen den Hochschulen (auch innerhalb des Landes), ganz gegen den intendierten Zweck. Es besteht die Gefahr, dass Interessantes wegfällt - gerade die Vertreter der nicht-deutschen und der nicht-westlichen Geschichte äußern diese Befürchtung. Doch bisherige Beispiele, zum Beispiel Bremen und Erfurt, scheinen zu zeigen, dass diese Gefahr nicht durchschlagen muss.

c) Andererseits bedeutet der unter a) genannte Gegensatz auch eine Chance. Denn er lädt die beteiligten Lehrenden zur Verständigung untereinander, zur Rückbesinnung auf das Fach und - im Ernstfall - zu neuen Grundsatzdebatten (Theoriedebatten) ein. Denn die Konstruktion eines überzeugenden BA-Studiengangs setzt Einigung darüber voraus, was - häufig selbstverständliche - Gemeinsamkeiten zwischen den beteiligten Historikern und ihren Teilgebieten sind - Gemeinsamkeiten der Methode, des Zugriffs und des paradigmatischen Wissens, die expliziert werden können und die in jedem BA-Studiengang zentral vermittelt werden müssen. Die 'Einheit des Faches' wird zukünftig vor allem auf der BA-Ebene gesichert werden. Verständigung wird auch darüber verlangt, auf welche Weise die nötigen Syntheseleistungen erzielt werden können (durch Vergleich, durch Verflechtungsgeschichte, durch begriffliche Anstrengung, durch die Zuschneidung der Themen und gekonnte Überblicke - unter Einbeziehung nicht-deutscher, auch nicht-europäischer Teile der Welt). Denn diese Syntheseleistungen dürfen nicht den Köpfen der BA-Studenten allein überlassen bleiben. Verständigung hat schließlich darüber stattzufinden, was 'das Wichtigste' ist und auch in kurzen Studiengängen auf keinen Fall fehlen darf: welche methodischen Einsichten, welche thematischen Wissensbestände und welche einzuübende Praktiken. All dies setzt gemeinsame Reflexion auf die Grundlagen des Fachs voraus. Solche Verständigungsprozesse enthalten am Ende auch immer ein Moment der Entscheidung. Sie werden von Fachbereich zu Fachbereich unterschiedlich ausfallen, doch dürfte ihre öffentliche Bekanntmachung und gegenseitige Wahrnehmung zu einem Minimum von Gemeinsamkeit führen. Die Einführung der neuen Studiengänge zwingt zur Reflexion auf die Grundlagen des Faches.

d) Aus all dem folgen wachsende Anforderungen an die Kooperationsfähigkeit der Kolleginnen und Kollegen, die ihre Forschung 'in Einsamkeit und Freiheit' immer weniger direkt in Lehrveranstaltungen übersetzen werden können, sondern in gemeinsam ausgehandelte, umfassendere Lehrveranstaltungen einbringen werden. Das bedeutet Last und Chance zugleich. Die Frage nach Zusammenhängen wird in den Vordergrund treten. Lehrveranstaltungen dürften zukünftig weniger punktualistisch zugeschnitten sein. Man sollte dies nicht nur als studienordnungsbedingten Zwang, sondern auch als Chance zur Grenzüberschreitung verstehen, die Einsichten zu fördern vermag.

e) Die Einführung spezialisierter Magisterstudiengänge dürfte teilweise gegenläufige Auswirkungen haben: die Betonung von Spezialisierung ohne allzu viel Rücksicht auf die 'Einheit des Faches'. Dabei wird es notwendig sein, auf die Verwendbarkeit der vermittelten Qualifikationen zu reflektieren, besonders dann, wenn die Studiengänge Absolventen hervorbringen, die nicht als Historiker in der Schule, der Universität oder der Forschung tätig sein wollen.
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3. Was folgt von den Eigenarten der Geschichtswissenschaft her für die Art, in der die Studienordnungsreform betrieben werden sollte? Dabei ist erneut daran zu erinnern, dass die Kanonisierbarkeit des geschichtswissenschaftlichen Wissens begrenzt und seine Gesichtspunktabhängigkeit groß ist und dass es deshalb national, regional, generationenspezifisch, kulturell hoch variabel ist. Daraus folgt:

a) große Bescheidenheit und Zurückhaltung bei der Regularisierung. Schlanke Ordnungen sind anzustreben.

b) Oft wird die verbindlich gemachte Studieneinheit relativ formal formuliert werden müssen, als "Schachtel mit Etiketten" (Hölscher), die unterschiedlich ("exemplarisch") gefüllt werden kann.

c) Man sollte daran festhalten, Studierende möglichst früh an der Produktion und Reproduktion von Wissen teilhaben zu lassen (forschend zu studieren), statt Basiswissen fertig vorzusetzen.

d) Freiräume müssen erhalten bleiben, ein 'overload' droht.

e) Zwischen den einzelnen Fachbereichen muss auch in Zukunft hinreichend viel Varianz bestehen können. Europäisierung kann nicht heißen, ein europäisches Kerncurriculum, inhaltlich definiert, verbindlich zu machen. Europäisierung wird über hoffentlich zunehmende Mobilität der Lehrenden und Lernenden, durch Zusammenarbeit über nationale Grenzen hinweg, durch europäische Forschungs- und Studienprogramme vorangetrieben werden.
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4. Langfristig wird eine Veränderung des Selbstverständnisses der Hochschullehrer nicht vermeidbar sein. Zwar geht es nicht um die Separierung von Forschung und Lehre als Ziel. Doch die Dimension 'Lehre' braucht dringend die Aufwertung. Auch dürfte eine größere Binnendifferenzierung der Gruppe 'Hochschullehrer' notwendig sein. Manches spricht für die Annahme, dass die nötige Aufwertung der Lehre in den Institutionen, in der Praxis und im Selbstverständnis der Beteiligten nicht ohne die Einführung von Studiengebühren möglich sein wird. Erst sie machen allen Beteiligten klar, welchen Wert Lehre und Studium - auch relativ zur Forschung und Nachwuchsausbildung - haben. Erst in ihrer Folge wird es zu den notwendigen Veränderungen der Einstellungen kommen.

Autor:
Prof. Dr. Jürgen Kocka
Friedrich-Meinecke-Institut
FB Geschichts- und Kulturwissenschaften
Freie Universität Berlin
Koserstraße 20
14195 Berlin
prokocka@zedat.fu-berlin.de

Empfohlene Zitierweise:

Jürgen Kocka: Zum Verhältnis von Studienreform und Geschichtswissenschaft (Thesen), in: zeitenblicke 4 (2005), Nr. 1, [09.03.2005], URL: <Bitte fügen Sie hier aus der Adresszeile des Browsers die aktuelle URL ein.>

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