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  4 (2005), Nr. 1: Inhalt
Ulinka Rublack
Erfahrungen aus England: Das Beispiel Cambridge
Abstract
Anhand des Beispiels Cambridge werden die Erfahrungen mit dem BA-Studiengang in England vorgestellt. Hohe Leistungsanforderungen sowohl für die Studierenden als auch die Lehrenden sind kennzeichnend – um so wichtiger erscheinen entsprechenden Studienbetreuung/-begleitung sowie eine gründliche Vorbereitung der Lehre. Das College hat an diesem Punkt Züge eines Dienstleistungsbetriebs für die Studierenden, auch wenn die Forschung nach wie vor eine große Bedeutung besitzt. Das MA-Studium hebt sich durch seine stärkere wissenschaftliche Ausrichtung deutlich vom BA-Studiengang ab. Zwar ist im Studium die global angelegte Wissensordnung erkennbar, doch kann es gerade durch den Zeitdruck durchaus zu einer thematischen Engführung kommen. Mit Blick auf die deutsche Situation erscheinen folgende Aspekte als besonders wichtig: verbesserte Betreuung der Studenten sowohl durch eine vergrößerte Anzahl der Lehrenden als auch durch ein neues Ethos der Lehre; materielle Verbesserung der Studienbedingungen; thematische Ausweitung des Studienangebots auf europäische und außereuropäische Bereiche.
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Die Historische Fakultät in Cambridge zählt 64 Historiker. Hinzukommen 27 Historiker, die 'Lecturers' an den Colleges sind, sowie jüngere Historiker in Forschungspositionen, die ebenfalls Studenten mitunterrichten können. Jedes Jahr beginnen 200 Schulabgänger ihr Geschichtsstudium. Sie können einen hohen Notendurchschnitt von 1,0-1,5 im Abitur (und ein A im Fach Geschichte) vorweisen und haben rigorose Aufnahmeinterviews in einem der 36 Colleges erfolgreich absolviert.
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Der BA-Studiengang spricht vor allem Studenten an, die durch ihre Faszination für Geschichte ihre intellektuellen Fähigkeiten entwickeln wollen, um dann im Geschäfts- und Finanzleben, in Politik und Verwaltung, bei Organisationen oder in den Medien eine Karriere zu starten. Lehrerberufe sind in Cambridge unterrepräsentiert, da sie nicht als hoch qualifiziert und prestigeträchtig gelten. Die Studenten werden von der Wirtschaft schon während des Studiums umworben. Viele machen im Studium Berufspraktika und nach dem Studium Zusatzausbildungen, etwa als Anwalt. Diese qualifizieren sie innerhalb kurzer Zeit, das heißt im Alter von ca. 24 Jahren, zu Berufen, die sie unweit mehr verdienen lassen als Akademiker wesentlich später im Erstgehalt. Ein hochkompetenter 'Karriereservice' der Universität unterstützt die Studenten bei ihrer Berufswahl.
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Trotz der damit verbundenen Studiengebühren - gibt es sie noch: Ca. 5.000 Studierende in Graduiertenkursen in Cambridge, die mehr wissen wollen. Mehr als 330 sind als Postgraduierte in Geschichte eingeschrieben - die größte Zahl in England. Jedes Jahr fangen 160 Studenten an, zwei Drittel von ihnen in den Master-of-Philosophy-Kursen, die häufig in eine Doktorarbeit münden. Die Einrichtung der Master-of-Philosophy-Kurse wurde von der Universität stark gefördert, nicht zuletzt um mehr Gebühren einzunehmen. Doch auch die Stipendiengeber befürworten solche Kurse. Sie versprechen sich bessere Doktorarbeiten und geringere Abbrecherquoten während des PhDs.
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Was verändert sich durch die BA/MA-Struktur? Vor allem die Bedeutung von Zeit und der Präsentationsqualitäten. In meinem Studium in Hamburg konnte man sich, die Semesterferien eingeschlossen, gut ein halbes Jahr mit einem Referatsthema beschäftigen. Wie man seine Gedanken ausdrückte, spielte dagegen eine untergeordnete Rolle. Elite in Großbritannien zu sein heißt dagegen, sich, um es frühneuzeitlich auszudrücken, in 'geschwinde Zeiten' zu begeben, und, böse gesagt, das zu tun, was einen die Geschichte schnell wieder vergessen lässt. Immense Stoffmengen sollen möglichst schnell bewältigt werden - jede Woche wird ein Essay zu großen Themen, wie etwa der Renaissance geschrieben. Jedes Trimester sieben Mal. Eine auf Quellen basierende Hausarbeit ist dagegen nur im ersten Jahr zu schreiben. "Evaluating critically the significance and utility of a large body of material; engaging directly with questions and presenting independent opinions about them in arguments that are well-written, clearly expressed, coherently organised and effectively supported by relevant evidence" - so beschreibt die Broschüre für Studieninteressierte, welche Fähigkeiten das Studium vermittelt. Diese Techniken sind vor allem auf nicht-wissenschaftliche Berufstätigkeiten abgestellt und streben den klaren, analytischen Umgang mit dem Informationsüberfluss an, der unser Leben allenthalben bestimmt. Geschichte bewältigen kann so zur wöchentlichen Herausforderung werden. Studentinnen und Studenten leben auf die einstündige Supervision zu, in der ihr Essay eingehend und das nächste Thema vorbereitend besprochen werden. Einerseits tut ihnen diese Überforderung gut, denn sie müssen angemessene Strategien im Umgang mit Leistungsansprüchen entwickeln. Andererseits werden gerade besonders interessierte Studentinnen und Studenten auffälliger Weise immer wieder krank und psychisch belastet. Der universitäre 'Counselling service' und die Tutoren an den Colleges haben oft alle Hände voll zu tun.
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Natürlich versucht man, die Arbeitsbelastung so gut es geht einzugrenzen. Bibliographien sind vorgegeben; die Bibliotheken vorzüglich ausgestattet - sonst ginge gar nichts. Es wird kein Geschichtskanon festgelegt, aber immer wieder wechselnd bestimmt, welche Themen zentrale Bausteine zum Verständnis einer Epoche und der Welt bereitstellen. Deshalb wird natürlich nicht über die ganze Renaissance geschrieben, sondern über die Renaissance als Konstrukt oder die Renaissance in Europa oder die Renaissance der Frauen - diese Teilaspekte müssen aber für einige Jahre relativ standardisiert sein, weil im Examen Wissen über sie abgefragt wird. Sie dürfen andererseits nicht zu standardisiert sein, weil die Studenten sonst Essays aus dem Internet kopieren! Das alles ist verschult und leistungsbezogen, andererseits aber auch potenziell hochkonzentriert, durch immense Aufmerksamkeit der Lehrenden getragen, ein Auseinandersetzungs- und Wachstumsprozess. Dieser richtet sich aber oft ebenso auf die Präsentation, wie auf den Inhalt - genau notiert man am Rand der Arbeit, wo ein Argument überzeugt, wie etwas besser ausgedrückt werden könnte und so weiter.
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Aus dem BA/MA-System folgt eine klarere Trennung von Inhalten für Studenten, die keine bzw. eine wissenschaftliche Laufbahn erwägen. Im BA-Studiengang werden nur sehr begrenzt Methoden wissenschaftlichen Arbeitens gelehrt. Es wird die Möglichkeit gegeben, im dritten Jahr eine auf Quellen basierende Abschlussarbeit zu schreiben, sie ist aber nicht obligatorisch. Fremdsprachenkompetenz wird nur im ersten Jahr halbherzig gefördert. Dies wird von vielen bedauert.
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Verknüpft sich die BA/MA-Struktur also mit einer veränderten, 'globalen' Wissensordnung? Der Zeitdruck, unter dem Studenten arbeiten, bedeutet, dass der Fremdsprachenerwerb wegfällt. Andere nationale Geschichtsschreibungen sowie andere Traditionen der Weltwahrnehmungen werden damit begrenzt sprachlich vermittelt wahrgenommen.
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Trotzdem ist England natürlich schon lange global und gerade in Geschichte sehr stark auf Breite angelegt. Denn es war eines der Fächer für den Gentleman, der durch das hier vermittelte Wissen über die ganze militärische und politische Weltgeschichte verfügen sollte. Sir John Seeley, königlich ernannter Professor für Geschichte in Cambridge im 19. Jahrhundert, drückte das Ziel des Geschichtsstudiums prägnant so aus: "History is past politics: politics is present history" - Geschichte ist vergangene Politik; Politik ist gegenwärtige Geschichte. Inzwischen wird diese Sichtweise von niemandem mehr geteilt. Es geht nicht mehr um Erzählungen über Ursprünge und lineare Entwicklungen, die von Bedeutung für den eigenen, nationalen Kontext sind, sondern um ein Entfalten des Heterogenen und die kritische Analyse aller Ideologien und Paradigmen. Außereuropäische Geschichte ist außerordentlich wichtig. Es gibt den Commonwealth-Kurs, dazu hoch spezialisierte Kurse in afrikanischer, asiatischer, lateinamerikanischer und amerikanischer Geschichte, die insgesamt beliebter sind als die britische und europäische Geschichte. Der britischen Geschichte wird insofern noch ein Vorrang eingeräumt, als dass jeder Student ein Paper in britischer Politikgeschichte und eines in der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Englands einer Epoche absolvieren muss. Aber das ist auch alles. Ansonsten wird verlangt, dass Studenten mindestens ein Paper aus dem Zeitraum vor 1750 und mindestens eines aus dem Zeitraum nach 1750 vorlegen muss. Hinzu kommt mindestens eines in europäischer Geschichte. Dieses klein bemessene Gerüst heißt wiederum, dass innerhalb der drei Studienjahre eine relativ große Spezialisierung im Prinzip ebenfalls möglich ist. Doch durch die Breite des Lehrangebots geschieht dies selten.
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Dies wiederum heißt für die Lehre, dass man auch in den spezialisierten Kursen im letzten Studienjahr viele Studenten hat, die sich erstmalig in dem betreffenden Zeitraum eindenken. Das Studium ist in die ersten beiden Jahre des Überblicksstudiums (Part I) und das spezialisierte dritte Jahr gegliedert (Part II). Diese Spezialisierung wird von den Historikern als sehr positiv erfahren, da sie eine Nische für die Forschungsinteressen bietet, ebenso wie von den Studierenden, die sich sehr fasziniert und oft kreativ mit forschungsnahen Problemen und Quellen befassen. Nach der Zwischenprüfung in 'Part I' kann zu anderen Fächern in den Humanwissenschaften gewechselt werden. In den jeweiligen Studiengängen ist dagegen die Interdisziplinarität begrenzt und BA-Studierende bekommen in der Regel keinen vergleichenden Einblick in unterschiedliche Zugriffe der Disziplinen auf ein Thema. Es gibt inzwischen allerdings Versuche, das Belegen eines Papers bei anderen Disziplinen, etwa der Kunstgeschichte, zu ermöglichen und gleichwertig anzurechnen. Aber dies kommt keinesfalls den Möglichkeiten nahe, die gute Nebenfachstudenten in Deutschland ausschöpfen können. Studienstraffung bedeutet hier eindeutig einen Verlust an Perspektiven, aber auch eine Verdichtung von Wissen, die in Deutschland selten ist.
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Für das Masterstudium sind überdurchschnittliche Examensergebnisse Voraussetzung, oder bei einem 'Gut' zumindest ein 'Sehr Gut' bei der Abschlussarbeit und herausragende Gutachten. Gegenwärtig gibt es in Cambridge sechs MPhil-Kurse, einen allgemeinen Kurs in 'Historical Studies', der ungefähr 60 Studenten aufnimmt, sowie spezialisierte Kurse in mittelalterlicher, britischer und europäischer Geschichte und der in Cambridge so einflussreichen Ideengeschichte. Informationen über diese Kurse sind im Internet auf der Webseite der History Faculty, Cambridge, leicht abzurufen (http://www.hist.cam.ac.uk/). Beim Master stehen die Magisterarbeit, Methoden und Theorielehren im Mittelpunkt, sowie das thematische Arbeiten auf einem höheren Niveau. Wiederum muss alles zeitlich sehr gut durchorganisiert sein. Der Betreuungs- und Kontaktgrad bleibt hoch.
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64 Fakultätshistoriker erscheint eine große Zahl. Aber die Zeiten, in denen Männer vor dem abendlichen Collegedinner einen Studenten zur Essaybesprechung empfingen und ihm einen Sherry reichten, sind lange vorbei. Immer wieder wird davon ausgegangen, wir Dozenten lebten noch mußevoll und fassten unsere Gedanken mit dem versonnenen Blick auf das Kähne Staken in der Cam. Ein bisschen stimmt das schon. Aber vor allem gilt, dass die britischen Universitäten von einem immensen Einsatz für Studenten getragen werden. Studenten werden ernst genommen und Lehrende sind beinah rund um die Uhr für sie präsent. Die Qualität des Studiengangs basiert auf dieser ausgesprochen hohen Selbstmotivation der Historiker, das heißt ihrer Passion für das Fach und für die Lehre - deren Qualität im Übrigen ständig durch die Studenten evaluiert wird -, aber auch auf dem Einsatz vieler, für deutsche Verhältnisse sehr vieler Dozenten. Es gibt beispielsweise allein drei Fakultätsstellen für die europäische Geschichte der Frühen Neuzeit. Dadurch gibt es genug Spezialisten, um gut betreute, thematisch spezialisierte Seminare im Abschlussjahr und um die MPhils anbieten zu können, die inhaltlich wiederum für Lehrende attraktiver sind, als die Betreuung von BA-Studenten in den ersten beiden Jahren des Grundstudiums.
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Für unser Rollenbild heißt all dies insgesamt, dass wir uns zunächst als ein Dienstleistungsbetrieb für erfolgreiche Menschen betrachten, denen wir 'Denken' beibringen, während wir in der verbleibenden Zeit leidenschaftlich forschen und schreiben. Dies lässt sich natürlich auch durch den Austausch mit motivierten Studenten kommunizieren und inhaltlich weiterentwickeln - die Forschung wird durchaus von einem Ideenaustausch in der Lehre getragen. Alle drei Jahre tauschen sich dann die Studenten ziemlich komplett aus, verlassen unsere merkwürdige Welt zehn kleiner Straßen, eines Flusses, der Kühe vor der Kathedrale des King’s College und einer jahrhundertealten Tradition. Im schlimmsten Fall haben sie einen mikrowellen-artigen Umgang mit Geschichte gelernt, schnell aufbereitet, aber ohne Kruste. Im besten Fall sausen ihnen lauter Ideen durch den Kopf - und das ganze 'clear thinking' und Examinieren hat einen Hang zum Vertrackten, Assoziativen und Sich-Widersprechenden nicht ausgetrieben: "That is what makes it worth after all".
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Für die Studienreformen in Deutschland liegt es damit nahe, nachhaltig auf eine Ausweitung der Stellen zu drängen, um eine angemessene Betreuung zu sichern. Die Stellenstruktur muss sich verändern - es sollte weniger Professor/innen und weniger Privilegien für sie geben. Dagegen sollten früher Stellen für promovierte Dozent/innen eingerichtet werden, die dann selber entscheiden können, wie schnell sie ihre Karriereziele verwirklichen möchten. Dies ist wesentlich frauen- und familienfreundlicher als das gegenwärtige System. Lehrende müssen stärker ein Studenten zugewandtes Ethos entwickeln und sie im umfassenden Sinn während des Studiums begleiten. Es muss sehr viel mehr Spezialisten für europäische und außereuropäische Geschichte geben. Die Bestände der Bibliotheken müssen sich drastisch verbessern. Studenten muss ermöglicht werden, während des Semesters nicht arbeiten zu müssen, weil sie sonst ihr Pensum nicht absolvieren können. All dies darf keine Utopie bleiben.

Autorin:
Dr. Ulinka Rublack
St John's College
Cambridge
CB2 1TP
ucr10@cam.ac.uk

Empfohlene Zitierweise:

Ulinka Rublack: Erfahrungen aus England: Das Beispiel Cambridge, in: zeitenblicke 4 (2005), Nr. 1, [09.03.2005], URL: <Bitte fügen Sie hier aus der Adresszeile des Browsers die aktuelle URL ein.>

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