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  4 (2005), Nr. 1: Inhalt
Winfried Schulze
"Mit Humboldt nach Bologna!"
Grundfragen der Neuordnung von Studiengängen
Abstract
Wie kann das tradierte deutsche Studiensystem an die neuen Anforderungen angepasst werden, wie sie unter dem Stichwort des Bologna-Prozesses formuliert worden sind? Folgende Aspekte sind hierbei zu beachten: Das Stichwort Internationalität muss unbedingt das Interesse an ausländischen Studierenden einschließen. Das angelsächsische BA-/MA-System kann nur in adaptierter Form, keinesfalls in toto angenommen werden. Studiengänge müssen weiter differenziert werden, zugleich spricht einiges dafür, den Studienverlauf viel stärker als bisher zu strukturieren (nur ein Stichwort: studienbegleitende Prüfungen). Die Einführungen neuer Studienabschlüsse sollte genutzt werden, um das Studium insgesamt stärker an die Wirklichkeit der Berufswelt heranzuführen. Dies führt auch zur notwendigen Frage nach der grundsätzlichen Funktion der geisteswissenschaftlichen Bildung. Gerade die spezifischen Fertigkeiten, die das Geschichtsstudium vermittelt, müssen im Studium gezielt gefördert werden, um die Absolventen für außerwissenschaftliche Berufsfelder zu qualifizieren.
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Da unsere Debatte über die neuen Studiengänge mit symbolischen Begriffen geführt wird (Sorbonne-, Bolognaprozess et cetera) habe ich mir erlaubt, Bologna mit einem weiteren symbolischen Begriff zu kombinieren, dessen Realität höchst zweifelhaft ist. Hat doch die neuere universitätshistorische Forschung ergeben, dass ein Humboldt'sches Modell der deutschen Universität eher eine nachträgliche Konstruktion ist denn die Beschreibung der Realität des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Man kann mit Konrad Jarausch eigentlich nur von einem 'Humboldt-Syndrom' sprechen, da schon die Glanzzeit der deutschen Universität im späten 19. (als bekanntlich erst Humboldts berühmte Schrift 'Über die innere und äußere Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten in Berlin' bekannt wurde) und frühen 20. Jahrhundert nichts mehr mit Humboldts Idee von Bildung durch Wissenschaft zu tun hatte. [1] Man kann deshalb von der Einsicht ausgehen, dass die letzten 120 Jahre deutscher Universitätsgeschichte immer wieder Belege dafür bieten, dass Humboldt der Inbegriff einer elitären Bildungsidee und -einrichtung wurde, dem seit der Professionalisierung der Berufe ab dem späten 19. Jahrhundert und vollends seit der Entstehung der Massenuniversität Ende der 1960er-Jahre jede empirische Basis fehlt. Und in der Tat - wie könnte aus einem unter den Bedingungen der frühen bürgerlichen Gesellschaft entstandenen Bildungskonzept, das vielleicht 1-2% der jeweiligen Altersgruppe berührte, wirklich ein über symbolische Appellationen hinausgehender Gewinn für ein Bildungssystem zu ziehen sein, das am Beginn des neuen Jahrhunderts mit über 30% eines Altersjahrgangs an Hochschulen und einem sich immer schneller verändernden Qualifikationssystem zu tun hat? Damit sollen natürlich nicht die fundamentalen Grundgedanken einer Persönlichkeitsbildung durch Wissenschaft und des Zusammenhangs von Forschung und Lehre verworfen werden. Der Titel "Mit Humboldt nach Bologna" soll also die Frage angehen, ob denn eine Überführung des tradierten deutschen einstufigen Studiensystems in ein 'studio bolognese' möglich ist und vielleicht sogar Gewinne verspricht.
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Immer wenn man vor der elementaren Gewalt des Neuen zurückschrecken zu müssen glaubt, tut man gut daran, zunächst den Blick zurückzuwenden und nach früheren Ideen zu suchen, die in die gleiche Richtung zielten. Das hat im Allgemeinen eine beruhigende Wirkung. Da stellt man dann fest, dass die Idee gestufter Studiengänge keineswegs so neu ist, wie man annehmen könnte. Mitten in der Bildungseuphorie der 1960er-Jahre - genauer im Jahre 1966 - hat sich der Wissenschaftsrat in seinen 'Empfehlungen zur Neuordnung des Studiums an den wissenschaftlichen Hochschulen' erstmals zur Strukturierung und Differenzierung des Studiengangsystems geäußert. Angesichts der Bildungsexpansion sprach er sich für eine Zweiteilung des Studiums in einen zeitlich gestrafften ersten Studienabschnitt, nach dem die Mehrzahl der Studierenden die Hochschule verlassen solle, und ein Aufbaustudium für diejenigen Studierenden aus, die an weitergehender Forschung interessiert und dafür befähigt seien. In den 1970er-Jahren empfahl der Wissenschaftsrat erneut die Einrichtung kürzerer Studiengänge an Universitäten. Da die ablehnenden Stimmen seitens der Professorenschaft jedoch zahlreich waren und die Arbeitgeberseite die Meinung vertrat, dass neben dem klassischen Universitäts- und dem inzwischen eingeführten Fachhochschulabschluss ein dritter Abschluss nicht notwendig sei, blieben diese Empfehlungen wirkungslos. Die vom Wissenschaftsrat angemahnte Studienreform beschränkte sich deshalb im Wesentlichen auf eine institutionelle Differenzierung des Hochschulsystems durch den Aufbau der Fachhochschulen als neue Hochschulart seit Ende der 1960er-Jahre. Gleichwohl blieb die Richtigkeit dieser Idee im Wissenschaftsrat virulent und so konnte er bei seiner eigenen Empfehlung zu den neuen Studiengängen vom Jahre 2000 auf diese frühen Einsichten zurückgreifen.
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Die neuere Debatte über die Bachelor- und Masterstudiengänge hat in der Bundesrepublik Deutschland ungefähr 1996/97 begonnen. Ausgangspunkt war die Tatsache, dass an den deutschen Hochschulen die ausländischen Studierenden ausblieben und darin ein Defizit der universitären Leistungsbilanz gesehen wurde. Angesichts der ernüchternden Zahlen im Vergleich vor allem mit den USA und Australien schlug die Kultusministerkonferenz (KMK) bereits im Jahr 1996 in ihrem Bericht zur "Stärkung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit des Studienstandorts Deutschland" einen Katalog von Maßnahmen vor, die unter Einbeziehung einer Hochschulstrukturreform die internationale Orientierung des Studiums besonders berücksichtigen sollten. So empfahl die KMK "eine Ausweitung der Möglichkeiten, (...) international übliche Grade (Bachelor, Master) zu verleihen". Mit einer stärkeren Gewichtung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit wurden von Beginn an auch die Möglichkeit und Notwendigkeit einer grundlegenden Studienreform im deutschen Hochschulsystem verbunden, um die Hochschulen durch kürzere Studienzeiten zu entlasten, die Zahl der Studienabbrecher zu verringern, ein niedrigeres Berufseintrittsalter der Absolventen zu ermöglichen wie auch Strukturierung und Transparenz der Studienangebote zu verbessern.
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Im Oktober 1997 hat die KMK erste Grundsätze für die Einführung von BA/MA-Abschlüssen formuliert und eine Evaluation dieser Studiengänge nach einem angemessenen Zeitraum gefordert. Auch die Hochschulrektorenkonferenz (HRK) hat sich 1997 zur Studiendauer, zu Graduierungsbezeichnungen und Übergangsmöglichkeiten zwischen solchen Studiengängen geäußert und deren Einführung mit einem an internationalen Standards orientierten Evaluierungs- und Akkreditierungsverfahren verbunden, das noch zu konkretisieren sei. Die im Jahr 1998 verabschiedete Novelle des Hochschulrahmengesetzes (HRG) berücksichtigte die Berichte zur kritischen Situation deutscher Hochschulen in einer internationalisierten Bildungslandschaft und sah deshalb die Möglichkeit vor, zur Erprobung Studiengänge einzurichten, die zu einem BA/MA-Grad führen (§ 19 HRG). Die Studiendauer zum BA/MA soll mindestens drei und höchstens vier Jahre betragen. Als weiterer berufsqualifizierender Abschluss kann der Magister/Master in mindestens einem weiteren Jahr oder in höchstens zwei weiteren Jahren erreicht werden. Bei einem konsekutiven Studienaufbau darf die Gesamtstudienzeit bis zum Magister/Master fünf Jahre nicht überschreiten. Im Frühjahr 2001 folgten die Strukturvorgaben der KMK für die neuen Studiengänge. [2]
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In ihrer erläuternden Antwort auf eine Große Anfrage mehrerer Bundestagsabgeordneter vertrat die damalige CDU/FDP-Bundesregierung die Auffassung, dass der Bachelor "ein erster berufsqualifizierender Abschluss" sei und dass eine Gleichstellung der neuen Abschlüsse mit in Deutschland bestehenden Abschlüssen, den Zwischenprüfungen oder dem Vordiplom nicht erfolgen solle. Die Einführung des Bachelor setze nicht zwangsläufig die Entwicklung grundlegend neuer Studienangebote voraus, jedoch müsse berücksichtigt werden, dass die zeitliche Sequenz der Einzelleistungen sich ändere. Auch sollten die traditionellen deutschen Studiengänge zunächst erhalten bleiben. Die neuen Hochschulgrade könnten gleichermaßen von Universitäten und Fachhochschulen verliehen werden, ein Zusatz zur Bezeichnung des Hochschultyps sei nicht vorgesehen. Dies war dann die Grundlage für den schon erwähnten § 19 des HRG, der die Einführung von BA und MA-Studiengängen ermöglichte. Danach ging es sehr schnell: KMK, HRK und Wissenschaftsrat formulierten Programme zur breiten Einführung der neuen Abschlüsse, freilich immer noch neben den traditionellen Studiengängen, für einen schnellen und kompletten Umstieg auf die neuen Abschlüsse war im Wissenschaftsrat im Januar 2000 trotz aller Bemühungen keine Mehrheit zu bekommen.
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Damit folgten die deutschen Institutionen den Anregungen der Sorbonne-Erklärung vom Juni 1998, in der - anlässlich des symbolträchtigen Jubiläums der Sorbonne - die zuständigen Minister aus Frankreich, Italien, England und der Bundesrepublik zum ersten Mal die Idee skizzierten, die europäische tertiäre Bildung nach einem neuen Drei-Phasen-Modell auszurichten (3-2-3-Modell). Ihre breite Fundierung erhielt diese Idee dann in der Bologna-Deklaration von 29 europäischen Ländern, die dieses Modell in der Absicht akzeptierten, bis 2010 einen so genannten 'europäischen Hochschulraum' zu etablieren. Im vorigen Jahr (2003) haben 33 Länder in Berlin diese Erklärung bekräftigt. [3]
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Soweit die hohe Politik, wechseln wir die Perspektive und schauen wir uns den Alltag an! Die Folgen dieser politischen Entscheidungen kennen wir alle, wir sind alle Opfer des Bologna-Prozesses geworden. Zum einen, weil wir als Dekane, Institutsdirektoren, Studiendekane oder Ausschussvorsitzende an der Erstellung neuer Studienordnungen mitarbeiten müssen, zum anderen, weil wir als Gutachter von den Akkreditierungsagenturen herangezogen werden, um die schon entwickelten neuen Studiengänge unserer Kollegen an den verschiedenen Universitäten zu akkreditieren. An den Hochschulen unterliegen wir zudem dem starkem Druck aus Ministerien und Rektoraten nach einer Umgestaltung der bisherigen Studiengänge. Die Diskussion hat inzwischen auch jene Bereiche erreicht, die zunächst als sicher vor dem Zugriff des BA/MA-Modells erschienen: nämlich die Lehrerstudiengänge im Staatsexamen und das juristische Studium. Die Diskussion leidet darunter, dass an sehr vielen Orten Einzellösungen versucht werden, eine denkbare Koordinierung der Debatte erfolgte bislang nur durch die abstrakten Rahmenvorgaben der KMK, die aber nicht auf den notwendigen Diskussionsprozess der einzelnen Fächer eingehen, in dem erst die wirkliche Arbeit zu leisten ist. Hier liegt ja auch die Begründung für diese Konferenz im Bereich der Geschichtswissenschaft, die eigentlich schon vor 3-4 Jahren notwendig gewesen wäre.
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Man tut gut daran, die laufende Debatte und die immer (noch) gestellte Frage nach dem Sinn und der Machbarkeit der Umstellung der Abschlüsse auf verschiedenen Ebenen zu diskutieren. Es macht meines Erachtens keinen Sinn, nur jeweils vom einzelnen Fach ausgehend zu fragen, ob die Umstellung notwendig sei, wir müssen den größeren Rahmen des Prozesses erkennen und dessen Chancen nutzen. Ganz sicher könnten wir auch noch weitere 20-30 Jahre unsere Studenten nach dem etablierten Doppelmodell von Magister- und Staatsexamensstudiengängen ausbilden, freilich nur dann, wenn es erstens niemanden stört, dass wir im Laufe des Studiums ca. 2/3 unserer Studierenden aus unterschiedlichen Gründen verlieren, und nur dann, wenn man es zweitens den Studenten selbst überlässt, sich erst nach dem Studium auf die beruflichen Anforderungen einzustellen, und drittens nur dann, wenn einen überlange Studienzeiten nicht interessieren, und schließlich viertens nur dann, wenn wir darauf verzichten wollen, unsere Studenten in das sich offenbar entwickelnde Modell europäischer Mobilität möglichst verlustfrei einzupassen. Nur diese vier Defizite der bisherigen Studienorganisation will ich hier anführen.
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Betrachten wir also die verschiedenen Ebenen von oben nach unten:

1. Notwendige Internationalität heißt Interesse an ausländischen Absolventen in Deutschland. Angesicht der weltweiten Dominanz des angelsächsischen Graduierungssystems spricht das für eine Adaption, nicht Übernahme des deutschen Systems an das angelsächsische Grundsystem, dessen Differenzierungen freilich erheblich sind.
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2. Europäisierung der tertiären Ausbildung. Die europäische Integration erfordert ein in seinen Grundzügen einheitliches Studienmodell in Europa, um die Mobilität der Studierenden und die Gleichbehandlung der Abschlüsse zu garantieren.
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3. Hohe Akademisierungsquoten erfordern unbedingt eine Differenzierung der Studiengänge. Wenn über 30 % oder gar mehr eines Jahrgangs in den tertiären Bereich gehen sollen, muss hier eine begabungs- und interessenorientierte und variationsfähige Studienstruktur angeboten werden. Dies ist interessanterweise keine Idee der 1960er- und 1970er-Jahre, als die Fachhochschulen tatsächlich gegründet wurden, sondern dies ist schon eine Idee der 1920er-Jahre, als zum ersten Mal Fachhochschulen gefordert wurden.
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Dass eine höhere Akademisierungsquote notwendig ist, scheint inzwischen eine auch von konservativen Bildungspolitikern akzeptierte Grundforderung zu sein. Dass die Realität unseres Landes bedauerlicherweise anders aussieht, braucht man kaum ausführlich zu belegen. Der jüngste OECD-Vergleich 2001 hat der Bundesrepublik Deutschland bestätigt, dass - ungeachtet anderer Stärken, etwa im Bereich der beruflichen Ausbildung - ihre Leistungen hinsichtlich akademischer Qualifizierungen im europäischen und internationalen Vergleich keineswegs beeindruckend sind: Nur 16% eines Jahrgangs erwerben einen akademischen Abschluss, während es in den USA oder Japan 40% bzw. 28% sind. Obwohl die unterschiedlichen Ausgangsbedingungen bedacht werden müssen, liegt die Bundesrepublik in Europa ganz am Ende der Vergleichsliste, nur Österreich weist einen noch schlechteren Wert auf (13,7%), während Länder wie Schweden oder Norwegen auf 25,0% bzw. 37,1% kommen. [4] Die deutschen Hochschulen stehen angesichts dieser Rückstände vor dem zentralen Problem, einen erheblich größeren Teil der studierfähigen Jahrgänge in begabungsadäquater Weise akademisch zu qualifizieren. Dies kann und darf aber nicht auf herkömmliche Weise geschehen.
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Seit dem so genannten 'Öffnungsbeschluss' von 1977 wurde in der Bundesrepublik der Weg einer breiten sozialen Öffnung der Hochschulen beschritten. Der Ausbau der Fachhochschulen seit den 1970er-Jahren hat diesen Vorgang nur unzureichend abgemildert bzw. kanalisieren können. [5] Die Masse der Studierwilligen erreichte die Universitäten, die auf diesen Ansturm nur schlecht vorbereitet waren: Sie wurden jetzt seit fast 30 Jahren mit einer zu hohen Zahl von Studierenden dauerhaft überlastet, die Wirkungen hinsichtlich Massenbetrieb, Betreuungsdefiziten und Studienabbrecherquoten liegen auf der Hand und sind Gegenstand der oben erwähnten kritischen Berichterstattung. Diese Politik unkorrigiert weiterzuführen, würde die Universitäten letztlich gefährden. Eine Lösung des unbestritten schwierigen Problems, einen deutlich größeren Teil eines Jahrgangs interessen- und begabungsadäquat akademisch zu qualifizieren, kann nur über eine deutliche Verstärkung des Anteils der Berufsakademien und Fachhochschulen einerseits und eine Gliederung des Studiums in BA/MA-Studiengänge andererseits erfolgen. [6]
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4. Überlange Studienzeiten erfordern eine grundsätzliche Neuorientierung des Studienverlaufs, der einem strukturierteren Lehrangebot folgen sollte. Ich war sehr überrascht, dass, wenn man Studierende in Akkreditierungsprozessen befragt, sie sich unumwunden als Anhänger dieses strukturierten Studienangebots zu erkennen geben, obwohl hiermit ein gewisser Verschulungseffekt verbunden ist. Zudem: Psychisch belastende Abschlussprüfungen werden durch studienbegleitende Prüfungen ersetzt.
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Schließlich: Es spricht manches dafür, die Umstellung auf die neuen Abschlüsse zu nutzen, um die Inhalte des Studiums stärker an die Weiterentwicklung der Wissenschaft und der beruflichen Wirklichkeiten heranzuführen. Blickt man in die Hochschulen, dann wird sofort deutlich, dass sie in den letzten 25 Jahren auf eine klar erkennbare Veränderung ihrer Absolventen nicht oder nur unzureichend reagiert haben. Seitdem die Ausbildung für den Schuldienst der verschiedenen Stufen nicht mehr den Hauptanteil der Ausbildung ausmacht, sondern bis zu 80% der Absolventen einen Magisterabschluss anstreben - den es ja erst seit den 1970er-Jahren gibt -, hätte es nahe gelegen, auf diese neue Herausforderung zu reagieren und ein differenziertes Lehrangebot bereitzustellen. Doch die Studiengänge von Lehramtsstudenten und Magisterstudenten unterscheiden sich inhaltlich nur wenig, bestenfalls durch die obligatorischen fachdidaktischen Seminare der Lehramtsstudenten, ansonsten besuchen sie die gleichen Lehrveranstaltungen. Die Konsequenzen dieser fehlenden Differenzierung liegen auf der Hand: Keine der beiden Studentengruppen kann von einem solchen Lehrangebot wirklich profitieren, weil spezifische Kompetenzen für Schule oder außerschulische und außerwissenschaftliche Tätigkeiten nicht wirklich zum Inhalt des Lehrangebots gemacht werden.
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Nun wird man einwenden können, dass die elementare Ausbildung in methodisch-wissenschaftlichem Arbeiten für beide Ausbildungslinien von großer und allein relevanter Bedeutung ist. Dies ist ein wichtiges Argument, das freilich nicht so hoch gewichtet werden darf, dass es eine Neuorientierung verhindert. Für den schulischen Bereich hat es ohnehin seine Berechtigung verloren. Denn tatsächlich haben wir es mit einer letztlich nur themenorientierten 'Einheitsausbildung' zu tun, die den später geforderten Qualifikationen nicht ausreichend gerecht wird. Hinzu kommt, dass die thematische Orientierung vieler Lehrveranstaltungen sich explizit an den persönlichen Forschungsinteressen der Lehrenden ausrichtet, von daher also meist zu starker Spezialisierung neigt. Zweifellos wird damit eine spezielle Methodenkompetenz vermittelt, zugleich jedoch an den Bedürfnissen eines Teils der Absolventen vorbeigearbeitet. Gerade angesichts neuer Berufsfelder für Historiker außerhalb der Schule liegt es nahe, dass die Universitäten ihre Ausbildungsangebote darauf abstellen und damit die Konsequenzen aus einer erkennbaren Veränderung der beruflichen Perspektiven ihrer Studenten ziehen. Eine differenzierte Ausbildung bietet sich dort um so eher an, wo - wie etwa in Bayern - durch zentrale Stellung der Examensklausuren eine landesweit vergleichbare Sachkompetenz und damit notwendigerweise eine starke Standardisierung des Lehrangebots erforderlich wird. Mein Münchener Kollege Michael Brenner hat darauf hingewiesen, dass die undifferenzierte Ausbildung von Lehrer- und Magisterstudenten eine starke nationale Ausrichtung aller Studiengänge bewirke, da die Schulcurricula national- und landesgeschichtlich orientiert seien. [7] Diese nationale oder regionale Prägung - die von Vielen als genereller Strukturdefekt der Historikerausbildung betrachtet wird [8] - ist im Magisterstudiengang von der Sache her überhaupt nicht notwendig. Sie könnte zum einen einer stärker berufsorientierten Ausbildung Platz machen, sie könnte aber auch jene Elemente eines kulturwissenschaftlichen Studiums stärker berücksichtigen, die wir im Augenblick eher als defizitär empfinden: Interdisziplinäre Kompetenz, Kompetenz in europäischer Geschichte und Weltgeschichte.
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Vor diesem Hintergrund spricht einiges dafür, die Diskussion über die neuen Studiengänge als eine Möglichkeit zu betrachten, über die grundsätzliche Funktion geisteswissenschaftlicher Bildung am Beginn des 21. Jahrhunderts nachzudenken. Ich wage es, ein solches Wort in den Mund zu nehmen, weil derzeit an amerikanischen Hochschulen ähnliche Diskussionen über die Frage geführt werden, wie das 'undergraduate'-Studium zu verbessern sei. Hier geht es interessanterweise nicht vorrangig um die Anpassung an wünschenswerte berufliche Qualifikationen, sondern eher um die Berücksichtigung grundsätzlicher Interessenverschiebungen in der Wissenschaftslandschaft selbst, also etwa die Einsicht in die neue Bedeutung der 'life sciences' und der interdisziplinären Zusammenarbeit und deren Nutzung für die Ausbildung in den 'humanities'.
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Wo liegen nun die neuen, aber bislang zu wenig berücksichtigten Berufsfelder für Historiker? Hier braucht man gar nicht die Phantasie zu bemühen, sondern man kann auf die empirischen Aussagen der Absolventen des Faches Geschichtswissenschaft verweisen, die im letzten Jahrzehnt vorgelegt worden sind. [9] Diese Studien belegen zum einen, dass die Absolventen dieses Studiengangs - im Unterschied zu landläufigen Vorurteilen - verhältnismäßig wenig Probleme auf dem Arbeitsmarkt hatten; sie belegen zum anderen eine beachtliche Breite der Arbeitsfelder, die freilich meist nach einer gewissen Suchphase gefunden wurden. Historiker arbeiten in der Erwachsenenbildung, als Lektoren, Archivare und Dokumentare, als Journalisten in den verschiedenen Medien, als Werbe- und Marketingfachleute, Unternehmensberater, EDV-Berater oder Verwaltungsbeamte. Jeder Hochschullehrer wird aus der eigenen Erfahrung hier weitere interessante Felder beisteuern können, die in den letzten Jahren hinzugekommen sind.
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Nicht zuletzt die verschiedenen lokalen Projekte zum Thema "Student und Arbeitsmarkt" haben dazu beigetragen, dass die beruflichen Möglichkeiten außerhalb der eigentlichen Wissenschaft in den 1990er-Jahren bewusster wahrgenommen und gewählt wurden. [10] Die Vertreter von circa 50 lokalen Initiativen dieser Art haben schon vor Jahren in der Banzer Erklärung (vom März 1998) eine stärkere Verzahnung von Hochschulstudium und beruflicher Tätigkeit gefordert. [11] Gerade die Erweiterung der Medienlandschaft in den letzten Jahren und die Veränderung der Anforderungsprofile in vielen Bereichen der Wirtschaft haben dazu beigetragen, dass Historiker sich zunehmend diese neuen Tätigkeitsfelder erschlossen haben. Damit sind gewiss nicht alle Arbeitsplatzprobleme gelöst, zumal in der jetzigen Depressionsphase, aber statistisch ist damit immerhin eine gute Ausgangslage für den Schritt auf den Arbeitsmarkt gegeben.
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Diese Aussage ist auch deshalb von Bedeutung, weil sich deutlich erkennen lässt, dass sich die wissenschaftlichen Arbeitsplätze im unmittelbaren universitären oder außeruniversitären Bereich keineswegs vermehren, sondern sich vermutlich sogar vermindern werden. Unabhängig von den lokalen Veränderungen der Stellenausstattung durch Umwidmung von Professuren im Rahmen der Profilpolitik einzelner Hochschulen werden die Stellenpläne der Hochschulen mittelfristig auf die demographisch bedingte Verminderung der Schülerzahl reagieren müssen und die frei werdenden Kapazitäten werden leider gewiss nicht dazu benutzt werden, um die bekannt schlechten Betreuungsrelationen an angloamerikanische Vorbilder heranzuführen. Dann wird es noch mehr darauf ankommen, sich auf mögliche Arbeitsfelder außerhalb der universitären Wissenschaft vorzubereiten. Diese Arbeitsfelder werden aber Qualifikationen erfordern, die durch die bisherige Anlage des Studiums nur teilweise oder unzureichend abgedeckt werden.
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Diese oben geschilderte Neuorientierung von Historikern auf den außeruniversitären Bereich sollte nicht einfach erfreut zur Kenntnis genommen und als Bestätigung eines richtigen Ausbildungsangebots verstanden werden. Die Universitäten sollten sich vielmehr verstärkt darum bemühen, diesen Veränderungen durch strukturelle Reformen in der Anlage des Studiums Rechnung zu tragen. Denn niemand wird behaupten können, dass die eingetretene berufliche Neuorientierung vieler Absolventen des Geschichtsstudiums ein Resultat wirklich neuer Konzeptionen des Studiums gewesen wäre; vielmehr verdankt sich diese Entwicklung der Findigkeit der Absolventen und veränderter Rahmenbedingungen im Bereich der privaten und öffentlichen Arbeitgeber. Es wäre jetzt an der Zeit, aus dieser Entwicklung, die sich statistisch genau belegen lässt, die Konsequenzen für die Anlage des Studiums zu ziehen und damit die Studenten des Faches in diesem schwierigen Prozess nicht alleine zu lassen.
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Bei den notwendigen Überlegungen für eine Neustrukturierung des Studiums sollten die positiven Erfahrungen der schon beobachtbaren Entwicklung des letzten Jahrzehnts zum Ausgangspunkt weiterer Planungen gemacht werden. Das bedeutet, sich der anerkannten und unentbehrlichen Qualifikationen bewusst zu werden, die das traditionelle Geschichtsstudium vermittelt, diese gegebenenfalls noch zu verstärken, und jene spezifischen Qualifikationen zu entwickeln, die im außerwissenschaftlichen Arbeitsmarkt gefragt sind.
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Was also ist derzeit zu tun? Der Rahmen ist vorgegeben, die inhaltliche Füllung fehlt noch an vielen Orten, auch wenn die Vorreiterrolle einiger Fakultäten anzuerkennen ist, die ja auf dieser Tagung auch vertreten sind. Insofern scheint es mir im Augenblick auf die konkrete Arbeit anzukommen, die freilich bedauerlicherweise noch nicht den Weg aus den kleinen Arbeitsgruppen und den Evaluierungsgruppen der Akkreditierungsagenturen in eine breitere Fachöffentlichkeit gefunden hat, von einer allgemeinen Öffentlichkeit ganz zu schweigen, die in den letzten beiden Jahren eher selektive Blicke auf die beteiligten Partner richtete und immer wieder Zweifel über die Akzeptanz des neuen Systems nährte. Für unsere Diskussion scheint mir vor allem die Frage der Art der Modularisierung des Studiums und deren Effekte auf Studierende und Lehrende zentral zu sein. Hier besteht noch der größte Diskussionsbedarf.
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Ich würde abschließend gerne noch vor einem Fehler warnen, dem wir in Deutschland möglicherweise näher stehen als andere Länder. Nichts wäre falscher, als dem ganzen Land ein uniformes System von BA/MA-Studiengängen überzustülpen. Untersuchungen, die sowohl von HIS schon 1998 und auch kürzlich vom CHE vorgelegt wurden, warnen vor einer einheitlichen Struktur der neuen Studiengänge. Sie kommen vielmehr zu dem wichtigen Ergebnis, wie im angloamerikanischen Modell vielfältige Lösungen und Schwerpunktsetzungen zuzulassen, die auch zur Profilierung einzelner Hochschulen genutzt werden können. Dem 'studio bolognese' sollte also nicht das Schicksal der 'spaghetti bolognese' beschieden sein, die zum weltweiten Einheitsgericht verkommen sind.
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Vor allem aber scheint mir eine inhaltliche Diskussion der Fachvertreter vonnöten, die zu beginnen wir heute und morgen die Chance haben. Nicht zuletzt deshalb möchte ich der VW-Stiftung noch einmal für die Anregung zu dieser Tagung danken.
Anmerkungen
[1] Vgl. Konrad Jarausch: Das Humboldt-Syndrom: Die westdeutschen Universitäten 1945-1989 - Ein akademischer Sonderweg?", in: Mitchell Ash (Hg.): Mythos Humboldt. Vergangenheit und Zukunft der deutschen Universitäten, Wien 1999, 58-79.
[2] Vgl. dazu Strukturvorgaben für die Einführung von Bachelor-/ Bakkalaureus- und Master-/ Magisterstudiengängen (Beschluss der KMK vom 05.03.1999 in der Fassung vom 14.12.2001).
[3] Vgl. http://www.bologna-berlin2003.de/pdf/Communique_dt.pdf.
[4] Vgl. dazu den OECD-Bericht 'Education at a Glance - Bildung auf einen Blick' 2000 (http://www.kmk.org/doc/oecd-bildung.htm).
[5] Vgl. die Darstellung von Hartmut Schiedermair, in: Christian Flämig u.a. (Hg.): Handbuch des Wissenschaftsrechts, Bd. 1, 2. Aufl., Berlin / Heidelberg / New York 1996, 58ff.
[6] Empfehlungen des Wissenschaftsrates von 1999 zur Einführung neuer Studienstrukturen und -abschlüsse (http://www.wissenschaftsrat.de).
[7] Michael Brenner: Teilt die Fakultät anders ein!, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 27.9.2000.
[8] Vgl. etwa Hans Ulrich Wehler, in: Bulletin of the German Historical Institute Washington 26 (Spring 2000), 117ff. - Es mag diese Defekte unterstreichen, wenn in den letzten Jahren Themenvorschläge für die zentralen Klausuren in Bayern über die Amerikanische Revolution oder die Puritanische Revolution nicht beachtet wurden. Ein akzeptiertes Thema zur Französischen Revolution fand in ganz Bayern einen (!) Bearbeiter.
[9] Vgl. z.B. Eckart Krause / Jochen Meissner: Evaluationsbericht des Faches Geschichte, 2. Aufl., Hamburg 1997, und Stephan Hofmann / Georg Vogeler: Geschichtsstudium und Beruf. Ergebnisse einer Befragung des Absolventen des Magisterstudienganges im München 1987-1992, München 1995 (abrufbar über http://www.lrz-muenchen.de/~GHW/Mitarbeiter/UmfrageText.html ).
[10] Vgl. etwa zum Berliner HU-Projekt 'Studium und Praxis' Berliner Morgenpost vom 15.9.2000. In München kümmert sich an der LMU das Projekt 'Student und Arbeitsmarkt' (http://www.verwaltung.uni-muenchen.de/Student_und_Arbeitsma rkt/) um dieses Problemfeld. Diese beiden seien stellvertretend für viele ähnliche Initiativen genannt, auf die in der Münchener Homepage verwiesen wird.
[11] Der Text der Erklärung auf der zitierten Münchener Homepage (http://www.verwaltung.uni-muenchen.de/Student_und_Arbeitsma rkt/).

Autor:
Prof. Dr. Winfried Schulze
Historisches Seminar
Abt. Frühe Neuzeit der LMU München
Geschwister-Scholl-Platz 1
D-80539 München
winfried.schulze@lrz.uni-muenchen.de

Empfohlene Zitierweise:

Winfried Schulze: "Mit Humboldt nach Bologna!" Grundfragen der Neuordnung von Studiengängen , in: zeitenblicke 4 (2005), Nr. 1, [09.03.2005], URL: <Bitte fügen Sie hier aus der Adresszeile des Browsers die aktuelle URL ein.>

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